Evolution: Regel Nummer Eins?

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Im November 2009 jährt sich inzwischen zum 150. Mal der Erscheinungstermin von Charles Darwins Entstehung der Arten. Doch trotz der vielfältigen Entdeckungen der vergangenen anderthalb Jahrhunderte, die das Verständnis der Evolution entscheidend vorangebracht haben, bleiben einige Aspekte von Darwins großer Theorie bis heute geheimnisvoll.

Hans Peter Dehn / Pixelio.de
Krebse haben reichlich Gliedmaßen zum Krabbeln und zwicken; (Bild: Hans Peter Dehn / Pixelio.de)

Eine der umstrittensten ungeklärten Aspekte der Evolution ist die Frage nach makroevolutionären Trends, den Regeln, nach denen die Geschichte des Lebens “im Großen” abläuft. In dieser Online-Vorabveröffentlichung in den Proceedings of the National Academy of Sciences behaupten drei Forscher von der Universität Bath, einen solchen Trend, eine erste “Regel” der Evolution, gefunden zu haben: Hin zu mehr Komplexität.

Das ist schon fast ein bisschen anrüchig, denn natürlich gerät man da leicht in ungesunde Nähe zu teleologischen Deutungen der Evolution. Die vorliegende Arbeit befasst sich jedoch mit einem eher unverdächtigen Thema: Den Gliedmaßen von Krustentieren, genauer, mit der Anzahl verschiedener Typen von Gliedmaßen an einem einzelnen Tier.

Die Krustentiere sind eine Gruppe mit ausgesprochener Formenvielfalt, deren einzige Gemeinsamkeit ein spezielles Larvenstadium ist. Für ihre Untersuchung haben die Forscher allerdings einige der exotischeren Formen wie die parasitisch lebenden Zungenwürmer (Pentastomida) ausgeklammert, so dass nur die frei lebenden aquatischen Formen übrig bleiben, die auch der Durchschnittsbürger spontan als Krebs identifizieren würde.
So ein Krebs besteht aus einer Reihe von Segmenten, die überwiegend miteinander verwachsen sind (Tagmatisierung) und drei Einheiten[1] mit funktionell unterschiedlichen Gliedmaßen bilden. Zwei Typen Gliedmaßen kennt jeder: Beine und Scheren. Das sind aber noch nicht alle. Die Mundwerkzeuge zum Beispiel zählen ebenfalls dazu.

Mehr ist besser
Dass die Anzahl verschiedener Gliedmaßentypen an einem Tier seit dem Kambrium tendenziell zugenommen hat, war aus früheren Studien schon bekannt, die Resultate erlaubten allerdings verschiedene Interpretationen. So gibt es neben der naheliegenden These vom evolutionären Trend auch noch die Möglichkeiten, dass die steigende Komplexität durch einen “random walk”, also rein zufällig, oder durch Diffusion weg von einer Minimalzahl an Gliedmaßentypen zustande kommt.[2]

Die Befunde sprechen klar für einen aktiven Trend, und zwar gleich in mehrerer Hinsicht. Tiere in neu entstandene Taxa haben tendenziell mehr verschiedene Typen von Gliedmaßen als ältere Gruppen aus der gleichen Periode, ausgestorbene Taxa wiederum hatten im Schnitt primitivere Gliedmaßen als ihre überlebenden Zeitgenossen. Einmal innerhalb einer Gruppe vorhandene Komplexität bleibt bestehen, was gegen die random-walk-Hypothese spricht, und der Trend zeigt sich auch bei Krebstieren, die von vornherein überdurchschnittlich diverse Gliedmaßen haben, was die Grenzwert-These in Schwierigkeiten bringt

Ein besonderes Bonbon bieten die Wissenschaftler mit der Betrachtung moderner Krustentiere: Es gibt, schreiben sie, einen systematischen Zusammenhang zwischen der Komplexität der Gliedmaßen bei modernen Familien und der jeweiligen Artenvielfalt. Das ist schon ein sehr bemerkenswerter Befund. Das moderne Artenspektrum ist eine extrem eingeschränkte Momentaufnahme des evolutionären Prozesses, deswegen sollte man nicht erwarten, dass sich ein Trend, der über Jahrmillionen wirkt, in unserer Biosphäre auffindbar ist. Genau das scheint[3] aber der Fall zu sein.

Es scheint also zumindest bei Krebstieren tatsächlich so zu sein, dass die Evolution zumindest bei höheren Tieren in Richtung von mehr Komplexität tendiert, eine Vorstellung, die so neu ja nun nicht ist, man denke an den Begriff “Krone der Schöpfung”. Über die Ursache dieser Tendenz kann man bis jetzt natürlich nur spekulieren, allerdings vermuten die Forscher, dass der Trend zur Komplexität konkurrenzgetrieben ist: Tiere in abseitigen, wenig umkämpften Nischen (zum Beispiel Höhlen) tendieren zu geringerer Komplexität.

Das schöne an der Theorie ist, dass sie schon auf den ersten Blick erhebliche Vorhersagekraft hat. Zum Beispiel sollten demnach die Käfer, die artenreichste Gruppe überhaupt, anatomisch tendenziell komplexer sein als, sagen wir, die Tausendfüßler. Es sieht also ganz gut aus für das erste Gesetz der Evolution.

Eine seltene Ausnahme
Man darf allerdings nicht vergessen, dass vielzelliges Leben auf diesem Planeten eher ein Nebenaspekt ist. Der Löwenanteil der biologischen Vielfalt entfällt auf einzellige Lebewesen. Allein die Biomasse der Prokaryoten entspricht schätzungsweise derjenigen der höheren Pflanzen, wobei die Schätzung wahrscheinlich zu niedrig ist – was im Gestein alles so lebt ist bislang noch weitgehend unbekannt. Dazu kommen die einzelligen Eukaryoten von der Hefe über Cyanobakterien bis zu den Pantoffeltierchen. Beine hat nur ein winziger Bruchteil aller Lebewesen.

Von einer Regel kann man bei der festgestellten Tendenz zur Komplexität nicht sprechen – es handelt sich vielmehr um eine sehr spezielle Ausnahme bei Lebewesen, die nicht in der Lage sind, sich durch Zellteilung zu vermehren. Die eigentlichen Gesetze der Evolution sind diejenigen, die in der Welt der Einzeller gelten – und davon, die zu entschlüsseln, sind wir heute noch sehr weit entfernt.
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[1] Kopf, Brust und Hinterleib bzw für Bio-Nerds: Caput, Thorax und Abdomen

[2] Die letztere Möglichkeit kann man sich so vorstellen, dass es einen Wert X gibt, unterhalb dessen eine Art ausstirbt. Wenn sich bei einer großen Anzahl dieser Wert zufällig ändert, siebt dieser Grenzwert alle Arten mit einer ungewöhnlich niedrigen Anzahl Gliedmaßentypen aus, während die Arten mit ungewöhnlich vielen Gliedmaßentypen überleben. Das Resultat ist ein Anstieg der durchschnittlichen Komplexität..

[3] Vorbehaltlich einer anderen Interpretation, aber da fällt mir spontan keine ein.

10 Kommentare

  1. Wo bleibt die Diskussion?

    Hm, warum kommentiert hier niemand? Du hast – wieder mal – ein super spannendes Thema ausgegraben und ich warte auf die spannende Diskussion.

    Aber um eine solche hervorzulocken, hättest Du wohl ein paar mal die Namen Richard Dawkins und Simon Conway Morris nennen müssen. Dawkins hat in “Ancestor’s Tale” inzwischen einen differenzierteren Standpunkt eingenommen zur Frage der Komplexitäts-Zunahme in der Evolution.

    Mir kommt immer vor, daß wer diese leugnet, sich weigert, den Wald vor lauter Bäumen zu sehen.

  2. Hab ich mir schon gedacht

    dass Dich das Thema interessiert, das ist ja auch im Grunde sehr spannend. Ich fürchte, der Mangel an Diskussion liegt vor allem daran, dass der Text einfach nicht so richtig gut geworden ist.

    Ich werden ihn bei Gelegenheit mal ein bisschen umschreiben und dann im Fischblog noch mal posten.

  3. Was mich an der Debatte über die “Komplexitätszunahme” immer irritiert hat, ist folgendes:

    Was ist denn das “Mass” der Komplexität? Eine “abzählbare Mannigfaltigkeit” von Unterschieden? Und wenn ja: von was? An Arten? An Ökosystemen? An Krebsbeinen? An Individuen einer Art? Sind zwei Ameisen doppelt so komplex wie eine?

    Und weiter: die “abzählbare Mannigfaltigkeit der Unterschiede” – kann ich sie nicht in’s beliebige vermehren, indem ich nur in immer mehr Details schaue? Könnten wir nicht ganze Bibliotheken mit der Beschreibung des Wesens des Pantoffeltieres füllen und tun’s nur deshalb nicht, weil es uns weniger interessiert, als – sagen wir mal – unser eigenes Gehirn?

    Und endlich: wenn die REGEL, nach der die “abzählbare Mannigfaltigkeit der Unterschiede” erzeugt wird, ganz einfach wäre, wenn sie sich also zum Bild eines unendlich variablen Fraktals so verhielte wie dies sich zu seinem simplen Algorithmus verhält – sollte man dann nicht lieber die Komplexität der REGELN statt die der Resultate vergleichen?

    Mit anderen Worten: Was – zum Teufel – ist (biologische) Komplexität?

  4. Das…

    …ist die große Frage.

    Im Grunde definieren die Autoren biologische Komplexität hier ganz schlicht als zunehmende anatomische Differenzierung.

    Komplexität ist ja nun mal nur ein Abstraktum und keine messbare Eigenschaft der Wirklichkeit. Insofern kann es keine globale Beschreibung dessen geben, was Komplexität “ist”, sondern lediglich in ihrer Gültigkeit begrenzte Beschreibungen über ausgewählte Proxies, wie hier die Tagmatisierung.

    Damit zäumt man das Pferd natürlich von hinten auf: Eigentlich müsste man erst haufenweise konkrete Merkmale finden, für die es eine evolutionäre Tendenz gibt, und dann gucken, ob man die alle in einer übergeordneten Kategorie “Komplexität” zusammenfassen kann. Hier wird ja die übergeordnete Kategorie postuliert und dann nach einem geeigneten Proxy gefahndet.

    Das entbehrt nicht einer gewissen Problematik.

  5. @ Lars Fischer

    “Das entbehrt nicht einer gewissen Problematik.”

    In der Tat.

    So reizvoll die rein “operationale” Definition des Komplexitätsgebriffes für das jeweilige Problem auch sein mag (nach dem Motto: “Realdefinitionen sind ohnehin Sache der Metaphysiker, also weg damit…”), so gefährlich ist sie auch.

    Wenn ich nämlich folgende operationale Definition wähle (die nicht ganz unbiologisch daherkommt): “Komplexität ist die Anzahl unterscheidbarer Spezies innerhalb eines supraspezifische Taxons” – dann komme ich, wenn ich z.B. die Evolution des Taxons “Australopithecus/Homo” betrachte, zu der ernüchternden Einsicht, dass es zu einer Reduktion der Komplexität gekommen ist. Bloss noch _ein_ nackter Affe übrig…

  6. Ganz genau.

    Man kommt um derartige operationale Definitionen nur nicht herum, wenn man in der Fülle des existierenden Lebens nach irgendwelchen Trends suchen will.

    Umso wichtiger ist dann, die Sinnhaftigkeit der gewählten Definition zu diskutieren (was die Autoren des Papers leider nicht tun).

  7. Lesetipp

    Falls nicht schon bekannt:

    John Tyler Bonner
    “The evolution of complexity”
    1988
    Princeton Paperbacks

    Schon älter, keine Ahnung, ob es was Grundlegendes, Neueres gibt. Nein, ich erzähl’ Bonners Geschichte jetzt NICHT nach: ich würde die Pointe versauen. Und er HAT eine Pointe!

  8. zunächst muss ich sagen dies ist wirklich eine interessante Diskusion (bin gerade heute darüber gestolpert.
    Anderseits gibt es vielleicht auch nicht ganz vergleichbar auch gegenteilige Trends bezogen auf Anatomie.
    Wenn ich jetzt mal die Beine einer Spinne bzw die Beine eines tausendfüßers zähle und dann mit der Anzahl von Inektenbeinen verlgieche 🙂
    Oder die Optimeriung an den jeweiligen Lebensraum wenn man mal im wasser lebende Säuger verlgleicht mit auf dem Land Lebenden (Gliedmaßen)
    Eine Flosse anstelle von 2 Beinen macht bei mir irgendwie von 2 auf 1 oder 🙂
    Das eine zunehmende Diverität bezüglich Gliedmaßen ein Vorteil sein kann und damit Trend, gut hier haben offenbar ein Beispiel, aber ich halte es nicht für eine allumfassende Regel, denn sonst müssten doch mal langsam mehrarmige Menschen die Oberhand gewonnen haben, oder 😀
    Nebenbei.. ich weiß nicht ob es in dem überarbeiteten Text noch so steht aber die Cyanobakterien gehören nicht zu den Eu- sonden zu dne Prokaryoten 😉

  9. Ja, die Cyanobakterien sind n dummer Fehler. ^^

    Grundsätzlich stimme ich dir zu, das besprochene Paper hat einen sehr eingeschränkten Fokus. Auf Säugetiere kann man das schon deswegen nicht übertragen, weil wir nicht segmentiert sind und deswegen nicht mal eben per Segmentverdoppelung ein neues Beinpaar bekommen. Ich hatte ja auch geschrieben, dass ich die Titulierung als “Regel Nummer 1” der Evolution für übertrieben halte.

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