Schneewittchen does Peking

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Durch einen Tweet vom exzellenten Markus Trapp bin ich eben auf eine AFP-Meldung aus China aufmerksam geworden, die seit ein paar Tagen durch die westliche Presse geistert und in der es um einen scheinbar peinlichen Fehler bei der Übersetzung von Grimms Märchen ins Chinesische geht. Hier die deutsche Version der Meldung:

Peking — Eine neue Auflage der Grimmschen Märchen ist in Windeseile aus den Kinderbuchregalen in China genommen worden, weil der zuständige Verlag aus Versehen eine pornografische Variante des weltbekannten Werkes übersetzen ließ. „Wir konnten die deutsche Originalversion der Märchen der Gebrüder Grimm nicht finden“, entschuldigte sich ein Vertreter von China Media Time in der Zeitung „Gobal Times“. „Also nahmen wir eine japanische Ausgabe und übersetzten diese“, fügte der nur Yuan genannte Verlagsvertreter hinzu.

Dummerweise handelte es sich bei der Vorlage um eine pornografische Nacherzählung der Märchen. Darin hat beispielsweise Schneewittchen Sex mit den sieben Zwergen. [Pressemeldung der Agence France-Presse]

Eine vergnügliche Geschichte über die Gefahren des literarischen Übersetzens — wenn sie wahr wäre. Dass sie aber nicht stimmen kann, sollte beim aufmerksamen Lesen aber auffallen. Erstens ist es ausgeschlossen, dass es dem Verlag nicht möglich war, das deutsche Original zu finden: Der Volltext ist an verschiedenen Stellen im Internet zu finden, beispielsweise über den Wikipedia-Eintrag zu Grimms Märchen. Zweitens hätten die Übersetzer ja spätestens beim Übersetzen merken müssen, dass etwas nicht stimmt: Aus der englischen Version der Pressemeldung erfahren wir, dass Schneewittchen nicht nur Sex mit den Zwergen hat, sondern auch mit ihrem Vater, und dass sich nach ihrem Tod ein nekrophiler Prinz an ihrem Körper vergeht. Diese Version der Meldung zitiert außerdem (wie auch die französische) einen Sprecher des Verlags mit den Worten „Das Buch sollte nicht von Kindern gelesen werden, wurde aber versehentlich bei den Kinderbüchern einsortiert. Deshalb haben wir es vom Markt genommen.“ Es ist also klar, dass Verlag und Übersetzer sehr wohl wussten, dass es sich hier nicht um die Originalversion der grimmschen Märchen handelt.

Der ganzen Wahrheit kommt man über eine ausführlichere Meldung der offiziellen chinesischen Presseagentur China.org.cn näher. Dort erfährt man nämlich, dass die pornographische japanische Version der Märchen zunächst ganz offiziell von einem taiwanesischen Verlag veröffentlicht wurde und dann von „mehreren chinesischen Verlagen übernommen“ wurde, allerdings ohne die Herkunft aus dem Japanischen zu nennen.

Mit anderen Worten: Es handelt sich um einen ganz gewöhnlichen Fall von Produktpiraterie, wie er im chinesischen Verlagswesen an der Tagesordnung ist (mehrere wissenschaftliche Verlage, mit denen ich zusammenarbeite, veröffentlichen und vertreiben ihre Fachbücher in China überhaupt nicht mehr, da sie mit den billigen Kopien, die von chinesischen Verlagen ohne Genehmigung auf den Markt geworfen werden, ohnehin nicht konkurrieren könnten).

Aufgeflogen ist der Fall hier nur, weil der Übersetzer einer früheren chinesischen Version der tatächlichen grimmschen Märchen, Yang Wuneng, ein Exemplar der pornographischen Version in die Finger bekam. Laut China.org.cn schickte er daraufhin eine seiner Studentinnen nach Deutschland, um herauszufinden, ob diese pornographische Variante möglicherweise ebenfalls als deutsches Original der Gebrüder Grimm existiert. Nach dem die nicht fündig wurde, ging er an die Öffentlichkeit und der Verkauf des Buches, das sich großer Beliebtheit erfreut hatte, wurde eingestellt.

 

Agence France-Presse (2010a) Grimm-Märchen in China irrtümlich als Porno veröffentlicht. Pressemeldung vom 8. Dezember 2010. [Link]

Agence France-Presse (2010b) China publishers mistakenly translate erotic Grimm tales. Pressemeldung vom 7. Dezember 2010. [Link]

Agence France-Presse (2010c) Une version érotique des contes de Grimm traduite par erreur en Chine. Pressemeldung vom 7. Dezember 2010 [Link]

China.org.ch (2010) Grimms Märchen auf Chinesisch: Porno-Variante wird gestoppt. 9. Dezember 2010 [Link]

© 2010, Anatol Stefanowitsch
Beitrag steht unter einer Creative-Commons BY-NC-SA-3.0-(Deutschland)-Lizenz.

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Nach Umwegen über Politologie und Volkswirtschaftslehre habe ich Englische Sprachwissenschaft und Sprachlehrforschung an der Universität Hamburg studiert und danach an der Rice University in Houston, Texas in Allgemeiner Sprachwissenschaft promoviert. Von 2002 bis 2010 war ich Professor für Englische Sprachwissenschaft an der Universität Bremen, im August 2010 habe ich einen Ruf auf eine Professur für anglistische Sprachwissenschaft an der Universität Hamburg angenommen. Mein wichtigstes Forschungsgebiet ist die korpuslinguistische Untersuchung der Grammatik des Englischen und Deutschen aus der Perspektive der Konstruktionsgrammatik.

11 Kommentare

  1. Schneewittchen versus Produktpiraterie

    Die auf den ersten Blick gleichermaßen amüsante wie peinliche neue Schneewittchen Variante zeigt einmal mehr, wie sehr die Produktpiraterie in China zu der staatlich tolerierten oder sogar gewollten Tagesordnung gehört. Hieran hat trauriger Weise auch die Aufnahme Chinas in die WTO nichts geändert.

  2. Chinese Firewall

    Soweit ich mich erinnern kann, ist der Zugriff auf die deutsche Wikipedia von China aus nicht möglich. Das verhindert leider die sogenannte Great Firewall of China.

  3. Taiwan(es)isch

    …nur ein kleiner Einwurf: Es heisst taiwanisch, nicht taiwanesisch.

  4. Naja, nehmen wir mal einen Übersetzer an, der vom Westen keine größere Ahnung hat. Gibt’s ja bei uns auch genug von, zB bei Synchronisationen (‘mist’ = Mist statt Nebel, ‘a few good men’ = ein paar gute Männer statt “Eine Frage der Ehre).

    Wer weiß, vielleicht hat er ja vorher (Teile der) Bibel übersetzt. _Dem_ heiligen Buch des Westens mit Mord, Totschlag, Inzest, Rache, Vergewaltigung, Genozid. Dem vollen Programm des Strafgesetzbuches eben. Einem Machwerk, das eigentlich auf dem Index stehen sollte.

    Und dann sollte er stutzen, wenn ein Kinderbuch übersetzen soll, das genau so brutal daherkommt ?? Nach allem, was er weiß, könnten ja die Rundaugen generell so pervers drauf sein.

  5. Schlimm!

    > …wie sehr die Produktpiraterie in China…

    Schlimm, diese Chinesen! Und so gelb! *scnr*

    Tja, die haben halt begriffen, dass Kultur und Wissen dem Menschen und nicht einzelnen Bremsern gehört. Bis wir soweit sind, beuten wir uns bestimmt noch das eine oder andere Jahrzehnt gegenseitig aus. Aber warum auch ein Krebsmedikament auf den Markt bringen, wenn man ohne viel mehr verdienen kann. Und Greentec anyone? Nachhaltige Energieerzeugung? Schonmal in unseren Patentjungel geschaut, was wir so alles _nicht_ machen dürfen?

    Wenigstes hat es nicht schon die gesamte Menschheit aufgegeben, weiter an der Evolution und weniger an der Akkumulation zu arbeiten.

  6. Manga

    Diese oben beschriebene Schneewittchen-Version erinnert mich an die Schneewittchen-Version des Mangas “Ludwig Kakumei” von Kaori Yuki.

    Dort haben wir u. a. den Sex mit dem Vater und einen nekrophilen Prinzen, der sich (nur) für die scheinbar tote Schneewittchen interessiert. Die 7 Zwerge werden von Schneewittchen allerdings “nur” misshandelt, ausgebeutet und als lebende Schutzschilde missbraucht, mehr nicht.

  7. Original von Neil Gaiman?

    Die Elemente kommen mir bekannt vor: in Neil Gaimans Kurzgeschichte “Snow,
    Glass, Apples”
    ist Schneewittchen eine Vampirin, die ihren Vater,
    den König, an pikanter Stelle aussaugt und den nekrophilen fremden
    Prinzen mit ihrem kalten Körper betört. Und was auch passt: sein
    Kurzgeschichtenband “Smoke and Mirrors”, in dem diese Geschichte
    vorkommt, dürfte sich auch in China ausgezeichnet verkauft haben…

    “Snow, Glass, Apples” hat durchaus eindeutige Stellen, ist insgesamt
    aber weniger pornographisch als gruselig.

  8. Tja, dass kommt davon wenn man nicht die Originalquelle übersetzt. Meist kommen dann zwar nicht so lustige Varianten wie die oben genannte heraus, doch die Übersetzung leidet grundsätzlich. Das fällt mir immer auf wenn ich deutsche Übersetzungen von japanischen Autoren lese, wo die Übersetzung aber aus dem englischen oder französischen kommt.