Menschenatome in der U-Bahn

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… aber nicht einfacher
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Gestern und vorgestern war es besonders schlimm: die U-Bahn, die mich täglich von Queens nach Manhattan zur Arbeit fährt, war brechend voll.  Und zwar so, wie ich es in deutschen U-Bahnen noch nie erlebt habe (meine beiden Datenpunkte: Hamburg und Berlin), hier in New York dagegen schon häufiger: nicht nur sind alle Sitzplätze besetzt, sondern auch alle Stehplätze. Öffnen sich die Türen – und bei New Yorker U-Bahnen öffnen sich alle Türen, wenn die Bahn hält – dann steht in jeder Türöffnung eine solide Menschenmauer. Manchmal kann man sich da noch mit hineindrängen.  Manchmal nicht. In diese Falle musste ich drei U-Bahnen passieren lassen, bevor sich eine Lücke auftat.

Beim Warten auf dem Bahnsteig kam mir der Beitrag Atome, Menschen, Canetti von Carsten Könneker in seiner Guten Stube in den Sinn, der mich damals bei seinem Erscheinen sehr befremdet hat. Sein Aufhänger war eine Rezension des Buches Warum die Reichen reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie – Neue Erkenntnisse aus der Sozialphysik von Mark Buchanan.  Könneker schließt daran eine Mini-Tour durch die Geistesgeschichte an, Thema “Vergleich von Mensch und Atom”, nicht uninteressant, aber mit dem kleinen Haken: Könneker hat das Buch nicht gelesen, und hat, wie sich zu Beitragsende zeigt, auch nicht vor es zu lesen. So etwas kann arg daneben gehen, und mein Eindruck beim Lesen des Beitrags (ebenfalls ohne Kenntnis des Buchinhaltes) war denn auch: Ist das, was Könneker da kritisch anspricht, in Buchanans Buch überhaupt gemeint?  Sollte es in der “Sozialphysik” nicht eigentlich um etwas anderes gehen?

An Menschen-Atome musste ich jedenfalls denken, als ich mich in die U-Bahn schob, mich in Strudeln mitdrehte wenn ein Passager aus dem bis zur Fassungsgrenze gefüllten Wageninneren zum Ausgang strebte, und später an der Endstation in sich kreuzende Ströme zu verschiedenen Treppen und Rolltreppen geriet.  In solchen Situationen drängen sich physikalische Beschreibungen geradezu auf.  Nicht nur als Gedankenspiele oder poetisches Bild, sondern mit handfesten Anwendungen (wie der einsame Kommentar zu Könnekers Blog-Beitrag auch erwähnt) etwa wenn es um die Planung von Notausgängen geht. Menschenmassen sind keine ruhig fließenden “Körperflüssigkeiten”, deren “Atomstruktur” man vernachlässigen kann, und das kann unerwartete Folgen haben: etwa, dass es sinnvoll ist, direkt vor dem Notausgang eines größeren Raumes eine Säule anzubringen (siehe z.B. diesen Text [PDF, 512 kB] von Dirk Helbing).

Im Büro angekommen habe ich mir jedenfalls gleich online bei meiner lokalen öffentlichen Bücherhalle Buchanans Buch bestellt. Ich bin gespannt. Und solange das Gedränge nicht ganz so groß ist, kann man ja beim U-Bahn-Fahren auch durchaus ganz gut lesen.

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Markus Pössel hatte bereits während des Physikstudiums an der Universität Hamburg gemerkt: Die Herausforderung, physikalische Themen so aufzuarbeiten und darzustellen, dass sie auch für Nichtphysiker verständlich werden, war für ihn mindestens ebenso interessant wie die eigentliche Forschungsarbeit. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam blieb er dem Institut als "Outreach scientist" erhalten, war während des Einsteinjahres 2005 an verschiedenen Ausstellungsprojekten beteiligt und schuf das Webportal Einstein Online. Ende 2007 wechselte er für ein Jahr zum World Science Festival in New York. Seit Anfang 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Astronomie in Heidelberg, wo er das Haus der Astronomie leitet, ein Zentrum für astronomische Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit, seit 2010 zudem Leiter der Öffentlichkeitsarbeit am Max-Planck-Institut für Astronomie und seit 2019 Direktor des am Haus der Astronomie ansässigen Office of Astronomy for Education der Internationalen Astronomischen Union. Jenseits seines "Day jobs" ist Pössel als Wissenschaftsautor sowie wissenschaftsjournalistisch unterwegs: hier auf den SciLogs, als Autor/Koautor mehrerer Bücher und vereinzelter Zeitungsartikel (zuletzt FAZ, Tagesspiegel) sowie mit Beiträgen für die Zeitschrift Sterne und Weltraum.

5 Kommentare

  1. nochmal: Alter Hut

    Um es nochmal ganz klar zu sagen: Dass man zB Massenphänomene mit den Mitteln der Physik beschreiben kann (oder es zumindest versucht), stört mich überhaupt nicht – im Gegenteil. Ganz sicher kann man – etwa durch Simulationen – die Architektur von Sportstätten usw sicherer gestalten, wenn man Menschen Atomen gleich vorab durch (noch virtuelle) Gänge treibt und modifiziert.

    Was mich gestört hat bei dem Text über das besagte Buch ist, dass uns diese Art der Beschreibung als etwas Neues verkauft wird. Es ist aber nicht neu. Wir finden sie zB auch bei Hermann Broch oder Robert Musil.

    Im “Mann ohne Eigenschaften” beschreibt Robert Musil die moderne Großstadt zunächst als “eine Art überamerikanische Stadt” (S.31): “Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andere; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den anderen, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen … die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, man ißt während der Bewegung, die Vergnügungen sind in anderen Stadtteilen zusammengezogen, und wieder anderswo stehen die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet. Spannung und Abspannung, Tätigkeit und Liebe werden zeitlich genau getrennt und nach gründlicher Laboratoriumserfahrung ausgewogen.”

    Soweit die Erfahrung, die Sie gestern wohl ähnlich gemacht haben.

    An anderer Stelle (S.556) thematisiert Musil dann die “dunkle Wärme der Masse, ihre Bewegungskraft, die molekular unsichtbaren Vorgänge ihres unbewußten Zusammenlebens”. Und das ist auch nur ein Beispiel von vielen, die seine Beschreibung von Massenphänomenen mit den Mitteln der Physik zeigen. U.a. nutzt er dazu auch die kinetische Gastheorie und Kraftfelder.

    Will sagen: Das Sozialphysik-Buch mag gut sein in welcher Hinsicht auch immer (ich habe es nicht gelesen) – nur NEU ist die Idee dahinter nicht. Das ist mein Punkt.

  2. Musil vs. Buchanan?

    Es ist schon wahr, dass die Idee an sich nicht neu ist. Jetzt habe ich zwar von Buchanans Buch nur das Vorwort und ein paar Rezensionen gelesen, doch ist mir noch nie untergekommen, dass er behauptet, er hätte da eine ganz neue Idee. Außerdem sind es wohl zwei Paar Schuhe, eine Idee literarisch zu beschreiben und eine Idee modellhaft so weit zu entwickeln, dass sie tatsächlich anwendbar wird.

    Was hier eher auffällt ist, dass Buchanan drei Jahre hinter Philip Ball nachhinkt. Der hat nämlich mit “Critical Mass” ein hervorragendes populärwissenschaftliches Buch zur “Sozialphysik” geschrieben. Das habe ich gelesen und traue mich daher es weiter zu empfehlen:

    http://www.amazon.de/…ads-Another/dp/0099457865/

  3. Musil vs. Buchanan?

    Später mehr von mir zu dem Thema; Ulrich Bergers Unterscheidung von Idee und wissenschaftlicher Umsetzung finde ich jedenfalls entscheidend (und habe dazu auch einen halbgeschriebenen Blogeintrag in der Hinterhand, den ich hoffentlich bald mal fertigbekomme – allerdings erst nach Ende des World Science Festivals), und das Buch von Buchanan habe ich auch schon halb durch.

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