Gott im Kopf – Wozu?

BLOG: Natur des Glaubens

Evolutionsgeschichte der Religion(en)
Natur des Glaubens

Jesse Bering, Direktor des Institute of Cognition & Culture an der Universität Belfast, gehört zu den kreativsten und interessantesten Evolutionspsychologen, die in den Evolutionary Religious Studies zur Religiosität des Menschen forschen. Der entschiedene Atheist hat in einer Reihe faszinierender Experimente untersucht, ob schon Kinder "intuitive Theisten" sind – und dabei auch adaptive Vorteile des Glaubens an Gott bestätigt.

Den NewTimes vertraute Jesse seine ursprüngliche Motivation an, die Evolution religiöser Veranlagungen zu erforschen (die folgenden Zitate aus diesem Artikel). Nach dem Tod seiner Mutter hatte er sich entschlossen, Gott zu stellen: "Wir haben Gott an der Kehle, und ich werde nicht aufhören, bis einer von uns tot ist." Nach jahrelanger Arbeit ist Jesse inzwischen überzeugt: der Gottesglauben ist "keine Idee, kulturelle Erfindung oder Opium für die Massen", sondern ein Produkt der Evolution. "Gott ist eine Art zu denken, die durch natürliche Selektion verewigt wurde."

Die Prinzessin-Alice-Experimente

Bering startete mit den Princess-Alice-Experimenten (alle folgenden Experimente aus dieser Veröffentlichungsliste). Es zeigte sich, dass Kinder die Bitte, eine Box in einem Raum (der per Video von den Experimentatoren und Müttern beobachtet wurde) nicht zu öffnen, dann häufiger erfüllten, wenn ihnen zuvor erzählt worden war, dass sie nicht ganz alleine seien, sondern eine nette, "unsichtbare Prinzessin Alice" anwesend wäre. Die erzählte Realität hatte Wirkmacht gewonnen. Und mit diesem ebenso einfachen wie genialen Experiment unterstrich Bering, dass der Glaube an übernatürliche Akteure schon bei Kindern zu Verhaltensänderungen und Regeltreue beitrage. Und konnte in einer Vergleichsstudie sogar darüber hinaus aufzeigen: Auch noch Studenten (!) schummelten in einem Computertest seltener, wenn ihnen davor beiläufig erzählt worden war, jemand habe kürzlich "einen Geist" im Testraum erblickt.

In einer zweiten Experimentreihe konnte Bering aufzeigen, dass heranwachsende Kinder mit zunehmendem Alter auch in der Lage waren, "Signale" von übernatürlichen Akteuren zu deuten. So wurden sie gebeten, sich für eine von zwei Boxen zu entscheiden, da in einer ein Ball versteckt sei. Wieder wurde ein Teil der Kinder über die Anwesenheit einer liebenswerten, unsichtbaren Prinzessin Alice informiert. Gingen nun "zufällig" Lichter an und aus oder fiel ein Bild auf den Boden, so wechselten ältere Kinder häufiger die gewählte Box: einige werteten auch im Abschlussgespräch die (zum Experiment gehörenden) Ereignisse als "Hinweise von Alice".

Die arme Maus Mr. Brown

Aber Bering und Kollegen waren noch nicht zufrieden – sie wollten wissen, ob diese Haltungen schon biologisch oder erst kulturell angelegt waren. Also boten sie Kindern verschiedenen Alters ein Puppenspiel, in dem eine kleine Puppenmaus auf dem Weg nach Hause von einem Stoffkrokodil verschlungen wurde. Sodann wurden die Probanden befragt, ob die Maus noch lebe, Hunger habe, nach Hause wolle etc. Das Ergebnis: Schon Kindergartenkinder wussten, dass die Maus tot war, ihr Gehirn nicht mehr tue (88 %) und sie keinen Hunger mehr habe – aber nur 24% glaubten, dass sie nicht mehr nach Hause wollte. Auch von den älteren Kindern glaubte noch eine knappe Mehrheit an den weiteren Nach-Hause-Willen der Maus, obwohl sie vom Erlöschen der biologischen Funktionen der Maus überzeugt waren. Die Kinder schrieben einer toten Person Emotionen und Absichten zu.

In einer Kontrollstudie in Spanien wiederholten Bering und Kollegen das Experiment mit Kindern aus einer konfessionslosen und katholischen Einrichtung – und auch hier zeigte sich, dass die katholisch erzogenen Kinder im Laufe ihrer Erziehung nicht etwa Jenseitsvorstellungen aufbauten, sondern nur langsamer abbauten als ihre konfessionslos erzogenen Altersgenossen.

In den Worten von Bering: "Das ist genau das Gegenteil das Musters, das jemand erwarten würde, wenn die Ursprünge des Glaubens ausschließlich auf kulturelle Indoktrination zurück gingen." Stattdessen zeige sich, dass schon in kindlichen Gehirnen Tendenzen zu Seelenvorstellungen und unsichtbaren Akteuren angelegt seien.

Evolutionsvorteil: Regeltreue Kooperation

Aufgrund der experimentellen Befunde hat der Evolutionspsychologe in "Hand of God, Punishment of Man: Punishment and Cognition in the Evolution of Religion" inzwischen seine Unterstützung der These veröffentlicht, dass der Glaube an übernatürliche und ggf. unsichtbare Akteure einen beobachtbaren Kooperationsvorteil mit sich brachte: Wo immer sich Menschen wechselseitig den Glauben an gemeinsame, übernatürliche Beobachter versicherten, schufen sie damit quasi transzendente Schiedsrichter, die per Lohn und (vor allem) Strafe regeltreues Verhalten und Kooperationstreue sicherstellten. Aus natürlichen Epiphänomen des frühmenschlichen Gehirns hätte sich daher der Glauben an übernatürliche und jenseitige Akteure exaptiert.

Bei der Biology-of-Belief-Tagung in Delmenhorst stellten wir fest, dass hier die evolutionspsychologischen und religionsdemografischen Beobachtungen tatsächlich zum gleichen Ergebnis kommen: religiös vergemeinschaftete Menschen heiraten eher und stabiler und ziehen gemeinsam mehr Kinder auf, was nicht die einzigen, aber biologisch besonders bedeutsamen "Kooperationsprozesse" sind. Und auch Thomas Bouchard sah Übereinstimmung mit seinen Befunden aus der Verhaltensgenetik. Ganz verschiedene, unabhängig voneinander enstandene Experimente und Datensätze verschiedenster Wissenschaften bekräftigen inzwischen, dass der Gottesglauben "ganz normal" wie andere Fähigkeiten auch in der Evolution des Menschen entstand.

Und – stirbt Gott?

Jesses Hoffnung, dass eine evolutionsbiologische Erklärung des Glaubens "Gott an die Kehle" gehen würde, hat sich freilich nicht erfüllt. Denn selbstverständlich sagen Hinweise und Nachweise zum biologischen Nutzen des Glaubens nichts über die Existenz des Geglaubten aus. Stattdessen zeigt sich immer wieder, dass die Befunde quer zu den Lagern stehen: religiösen Fundamentalisten und vielen Vertretern der Geisteswissenschaften ist die gesamte Evolutionstheorie von vornherein suspekt und vielen naturwissenschaftlich-evolutionsbiologisch argumentierenden Religionskritikern passt es umgekehrt gar nicht, dass im religiösen Wettbewerb bewährter Glauben, rein empirisch betrachtet, mit biologischem Erfolg verknüpft ist. Der Gottesglaube könnte nur ein adaptives Zufallsprodukt der Evolution sein. Oder aber die Evolution könnte ein Weg sein, auf dem Er sich entfaltet und offenbart. Evolutionäre Religionswissenschaft bleibt also spannend…

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Dr. Michael Blume studierte Religions- und Politikwissenschaft & promovierte über Religion in der Hirn- und Evolutionsforschung. Uni-Dozent, Wissenschaftsblogger & christlich-islamischer Familienvater, Buchautor, u.a. "Islam in der Krise" (2017), "Warum der Antisemitismus uns alle bedroht" (2019) u.v.m. Hat auch in Krisenregionen manches erlebt und überlebt, seit 2018 Beauftragter der Landesregierung BW gg. Antisemitismus. Auf "Natur des Glaubens" bloggt er seit vielen Jahren als „teilnehmender Beobachter“ für Wissenschaft und Demokratie, gegen Verschwörungsmythen und Wasserkrise.

40 Kommentare

  1. Princess-Alice-Experimenten

    „Die erzählte Realität hatte Wirkmacht gewonnen. Und mit diesem ebenso einfachen wie genialen Experiment unterstrich Bering, dass der Glaube an übernatürliche Akteure schon bei Kindern zu Verhaltensänderungen und Regeltreue beitrage.“

    Dass erzählte „Realität“ Wirkung hat, ist ja nichts neues. Schade nur, dass das Experiment ohne weitere Gegenproben durchgeführt wurde. Deshalb halte ich die Schlussfolgerung bezüglich Glauben für nicht quantifizierbar.
    Was wäre wohl passiert, wenn man neben die Box eine Foto gestellt hätte, wahlweise vom Experimentatoren oder der Mutter. Welche Wirkung hätte der Hinweis gehabt, das Foto passt auf?

    Zur Erfahrung eines jeden Kindes gehört es, dass Fehlverhalten von den Eltern immer wieder entdeckt wird, auch wenn dies zum Zeitpunkt des geschehenes gar nicht anwesend waren. Diese Erkenntnis dürfte weit mehr zum regeltreuen Verhalten beitragen, als der Glaube an übernatürliche Akteure, allerdings auch so etwas wie den glauben an „übernatürliche Kräfte“ der Eltern fördern, die sich ja in Verschiedenstem manifestieren.
    Erst mit zunehmender eigener Erfahrung wird es dem Kind möglich, besser zwischen Menschenmöglichem und Übernatürlichem zu unterscheiden und letzteres als unmöglich zu verwerfen.
    Es ist also wirklich die Frage, ob das beschriebenen Phänomen mit Religiosität zu tun hat, oder nur die normale Entwicklung eines Kindes darstellt.

    Da halte ich auch den Vergleich mit von konfessionslosen und katholischen Kindern in Spanien nur für begrenzt aussagefähig, da sicher alle Kinder in Spanien schon mal etwas vom Christkind und dessen positiven Aspekten gehört haben. (Ob es auch in Spanien Geschenke bringt?) Von der „Erkenntnis“, dass es übernatürliche Wesen gibt, die andern offensichtlich Vorteile bringen, bis zur allgemeinen Akzeptanz übernatürlicher Wesen ist es ja kein weiter Weg.

    Was die Geschichte mit der toten Maus betrifft, verweise ich auf die aktuelle Ausgabe von Gehirn und Geist. (Kind und Tod S.22)
    Hier werden auch sehr treffend die Stadien der kognitive Entwicklung nach Jean Piaget genannt, die allgemeiner gefasst sind als die, hier vorgetragene, religiöse Deutung.

    Weitere Gedanken zum Thema folgen vielleicht später.

  2. Alice und der Haushund

    Ja, das sehe ich ähnlich wie Herr Cramer:

    Man suggeriere beispielsweise einem Haushund, daß sein Herrchen/Frauchen ihn sieht (auch wenn das Herrchen nicht da ist, sagen wir durch eine Tonband-Aufnahme der Stimme oder ähnliches) – und er wird sich anders verhalten, als wenn er glaubt, sein Herrchen würde ihn nicht beobachten. – Hat also der Hund eine angeborene Neigung zum Glauben an “übernatürliche Akteure”?

    (Vom Tonband vorgespielte Lautäußerungen von Artgenossen spielen ja in vielen Verhaltensexperimenten eine Rolle.)

    Ich glaube eher, daß sozial lebende Tiere und Menschen vor allem eine große Neigung haben – und unerfahrene Jungtiere/Kinder noch mehr als Erwachsene -, überhaupt alles Erleben zunächst einmal in sozialen Zusammenhängen, die sie gewohnt sind, und die sie kennen, zu interpretieren.

    Daß dabei immer wieder auch Fehlschlüsse vorkommen, ist wohl beim “Lernen durch Versuch und Irrtum”, wie es bei höherer Intelligenz die Regel und notwendig ist, fast zwangsläufig. Sie wird in der Natur der Sache liegen.

    (Übrigens könnte es sich dabei sowohl um ein jeweils individuell-biographisches Lernen durch Versuch und Irrtum handeln als auch um ein paralleles menschheitsgeschichtlich-religionsgeschichtlich-kulturelles Lernen durch Versuch und Irrtum.)

  3. Glauben

    Meiner Meinung nach hat sich Religion
    aus dem beobachten der Natur und dem Hang zum Aberglauben entwickelt. Schon bei alten Höhlenzeichnungen wird gedeutet, daß die Frühmenschen Tiere malten, mit Speeren darauf warfen um daraus zu erkennen ob die Jagt gut verläuft. Wenn dabei etwas Unvorhergesehenes geschah wurde das als schlechtes Zeichen gewertet.
    Irgendeiner hat angefangen die Angst
    vor dem Versagen des Einzelnen für sich auszunutzen. So hat sich im Laufe der Zeit Schamanismus entwickelt.
    Dadurch, daß man durch “Angst machen”
    die Menschen leiten kann wurde die Sache durch geschickte Menschen zur
    Religion weiter entwickelt.
    Religionen leben von der Angst des Menschen vor dem Tod und was danach ist. Alle heutigen großen Religionen (Christen, Juden, Muslime) leben sehr gut davon. Beim Buddismus ist das
    anders.
    Bei allen Probanden aus den Studien,
    (so meine Meinung), ist eine gewisse Vorbildung in Religion durch Eltern, Kindergarten, Schulen und Freunde gegeben. denn auch die Kleinen reden
    ab drei über solche Sachen.

  4. @ Herr Cramer: Erzählte Realität

    Da kann und möchte ich Ihnen gar nicht widersprechen. Für sich allein genommen geben experimentell-psychologische Befunde noch keine haltbare Religionstheorie her – sie können lediglich zum empirisch-evolutionstheoretischen Gesamtbild, wie es ja geschieht, einen (weiteren) Baustein beisteuern. Und, ja, es sollte noch sehr viel mehr Experimente in diesem Bereich geben – die von Ihnen vorgeschlagenen Settings z.B. mit Bildern der Eltern wären auch meines Erachtens sehr interessant!

    Nur den spanischen Vergleich würde ich nicht ganz so leicht abtun. Gerne wird ja (ohne jeden empirischen Beleg) behauptet, Kindern würde man beispiels-weise Jenseits- oder Seelenvorstellungen erst kulturell einimpfen. Die Befunde ergeben jedoch das glatte Gegenteil: jüngere Kinder vertreten diese stärker als ältere und religiös erzogene Kinder bauen sie durchschnittlich langsamer ab! Interessant ist auch, wie unterschiedlich Kategorien wahrgenommen werden, das Enden biologischer Vorgänge wird bspw. sehr viel früher wahrgenommen als das (mutmaßliche) Enden von Wünschen und Wollen.

    Mit Daten (S. 7,8) siehe hier:
    http://www.qub.ac.uk/…/Filetoupload,90230,en.pdf

    Also insgesamt: ja, alleine wird die Evolutionspsychology (selbst wenn sie noch sehr viel mehr Experimente beisteuert), das Phänomen Religion kaum entschlüsseln können. Aber gerade die auch experimentell beobachtbare Wirksamkeit sozial konstruierter, übernatürlicher Akteure und der Empfänglichkeit menschlicher Gehirne dafür sind natürlich sehr spannende Beiträge zum interdisziplinären Mosaik, das sich abzeichnet.

  5. @ Ingo: Voranlagen auch bei Tieren

    Lieber Ingo,

    nun, wie ich ihn verstanden habe, würde Dir Jesse ausdrücklich beipflichten!

    Du schriebst:

    “Man suggeriere beispielsweise einem Haushund, daß sein Herrchen/Frauchen ihn sieht (auch wenn das Herrchen nicht da ist, sagen wir durch eine Tonband-Aufnahme der Stimme oder ähnliches) – und er wird sich anders verhalten, als wenn er glaubt, sein Herrchen würde ihn nicht beobachten. – Hat also der Hund eine angeborene Neigung zum Glauben an “übernatürliche Akteure”?”

    Und, ja, genau dort sieht auch Jesse den Ursprung des Ganzen – in der “Theorie of Mind”, wenn Phänotypen also beginnen können, sich Gedanken über die Auswirkungen anderer Wahrnehmungen zu machen (“Wenn der mich dabei beobachtet, könnte das diese Auswirkungen haben…”).

    “Ich glaube eher, daß sozial lebende Tiere und Menschen vor allem eine große Neigung haben – und unerfahrene Jungtiere/Kinder noch mehr als Erwachsene -, überhaupt alles Erleben zunächst einmal in sozialen Zusammenhängen, die sie gewohnt sind, und die sie kennen, zu interpretieren.”

    Genau. Und dann kam beim Menschen auch noch die Sprache dazu – wenn Dich A also bei etwas beobachtet, konnte er dies B und C auch noch mitteilen – eine enorme Verstärkung! Dass sich hier auch bald sozial-erzählend konstruierte Beobachter etablieren werden, liegt doch eigentlich nahe, oder!?

    Und, übrigens: Auch Darwin würde Dir wohl Recht geben. In “Die Abstammung des Menschen” begründet er seine Vermutung eines veranlagten Animismus (der Zuschreibung eines “Wollens” auch in Sachen) mit dem Beispiel eines Hundes, der einen vom Wind bewegten Sonnenschirm anbellt. Viele “Zutaten” zur Religiosität (z.B. auch Trauer, spielerische Rituale, Theorie of Mind etc.) sind in der Tat auch bei anderen Säugetieren vorhanden!

  6. @ Petrausch: Priesterbetrugshypothese

    Sehr geehrter Herr Petrausch,

    herzlichen Dank für Ihren Beitrag!

    Man nennt die von Ihnen vorgebrachte Hypothese die sog. “Priesterbetrugshypothese”. Sie ist immer noch recht populär, aus evolutionsbiologischer Sicht gilt sie jedoch als eindeutig widerlegt.

    Denn wenn einige “Kluge” andere “Dumme” per Religion nur ausnützen würden, dann wäre Religiosität für die ausgenutzten Anhänger insgesamt maladaptiv (reproduktiv schädlich). Und bedenken Sie, dass wir beide in der Einschätzung eines großen elterlichen Einflusses übereinstimmen – Eltern würden demnach nicht nur sich selbst schaden, sondern auch ihren Kindern schadhaftes Verhalten vermitteln!

    Religionsbezogene Veranlagungen hätten demnach unter starkem Selektionsdruck stehen und (zugunsten der “Klugen”) aussterben müssen. Schon das archäologische Bild widerspricht dem jedoch frontal: seit dem ersten Auftreten einfacher Bestattungen in der mittleren Altsteinzeit hat religiöses Verhalten an Komplexität enorm zugenommen, heute gibt es keine Menschengesellschaft “ohne” religiöses Verhalten.

    Und vor allem: Wie Sie an der Grafik oben sehen, pflanzen sich auch heute religiös vergemeinschaftete Menschen durchschnittlich sehr viel erfolgreicher fort als Konfessionslose. Dies ist weltweit und quer durch Bildungs- und Einkommensschichten so, wie eine schnell wachsende Flut von Daten einhellig bestätigt. Siehe hier eine kleine Zusammenstellung:
    http://religionswissenschaft.twoday.net/…047705/

    Also – rein biologisch gesehen “nützt” religiöse Vergemeinschaftung Glaubenden gerade auch heute nachweislich bei der Weitergabe ihrer Gene – nicht in jedem Fall, aber in der Summe.

  7. “Übernatürliche Akteure” und Angst

    Vielen Dank, Michael, für diese Klarstellungen.

    Dann nimmt man die Interpretation dieser experimentellen Ergebnisse doch mit etwas weniger “Ehrfurcht” entgegen.

    Vielleicht noch eine kurze gedankliche Weiterführung dieser Forschungen:

    Ist es nicht wahrscheinlich, daß besonders ängstliche Menschen/Tiere eher dazu neigen, “übernatürliche Akteure” in ihrer unmittelbaren Lebensumwelt anzunehmen, zu vermuten, vorauszusetzen, als solche, die weniger ängstlich sind?

    Auch das müßte sich doch experimentell überprüfen lassen. (- Vielleicht schon geschehen?)

    Und könnte man dann zu dem Ergebnis kommen, daß der Glaube an “übernatürliche Akteure” besonders in solchen Gesellschaften ausgeprägt ist, bzw. besonders solche Gesellschaftsformen unterstützt, in der Angst in sozialen, zwischenmenschlichen Beziehungen eine größere (überdurchschnittliche) Rolle spielt?

    Es gibt ja auch Verhaltenshormone/-gene, die Angstverhalten steuern und mittelfristig könnte/wird die Wissenschaft sicherlich fragen, ob bestimmte Formen von gelebter Religiosität mit dem Vorherrschen bestimmter Gentypen korreliert.

    Das wäre jedenfalls alles sehr spannend.

  8. @ Ingo: Religiosität und Angst

    Ja, interessant wäre das auf jeden Fall.

    Nur würde ich vermuten, dass es auch da komplexere Ergebnisse zeigen würde. Denn die übernatürlichen Akteure sprechen ja nicht nur Ängste an, sondern auch Hoffnungen und (nicht zuletzt!) soziale Beziehungen. Die Ahnen, Götter, Gott werden gefürchtet, aber meist auch geliebt. Der Religiöse geht (auch) mit ihnen Beziehungen ein, sucht mitunter ihre Nähe.

    Und so räumt Benjamin Beit-Hallahmi in “Atheists – A psychological Profile” im Cambridge Compendium to Atheism nach Durchsicht Dutzender Studien mit dem Vorurteil auf, Atheisten litten generell an irgendeiner Störung. Allerdings gibt es signifikante Merkmale: sie sind überwiegend männlich – und zeigen weit überdurchschnittlich häufig “vermeidendes Beziehungsverhalten”.

    Ich wette (und die demografischen Daten zeigen das ja auch): Angst vor Verbindlichkeit gerade auch in Beziehungen korreliert negativ mit Religiosität – wer mit dem eigenen Partner, den eigenen Eltern nichts anfangen kann, wird auch himmlische Partner und Eltern tendenziell kritischer sehen und vice versa.

    Ich hoffe, es kommt rüber: Es gibt hier noch so viel zu erforschen – und gefragt sind keine So-So-Geschichten mehr, sondern harte Daten, gewonnen in interdisziplinärer Forschung…

  9. @ Ingo: Religion, Gesellschaft, Angst

    Eine Subfrage von Dir lässt sich aber bereits klar beantworten: Du fragtest, ob Religiosität “besonders solche Gesellschaftsformen unterstützt, in der Angst in sozialen, zwischenmenschlichen Beziehungen eine größere (überdurchschnittliche) Rolle spielt”

    Das ist eindeutig der Fall. Religiöse Vergemeinschaftung und Teilnahme an Ritualen zielt auf Vertrauen auch zwischen den Teilnehmern – und wird besonders in Gefahrensituationen bzw. gefährlichen Umwelt gesucht. Wo z.B. vertrauensvolle Kooperation lebensnotwendig sind, treffen wir regelmäßig auf schmerzhafte Initiationen und teure Rituale – akzeptiert wird nur, wer seine Verbindlichkeit unter Beweis stellt.

    Und umgekehrt: Säkularisierung setzt am stärksten in den Gesellschaften ein, die einen funktionierenden Sozialstaat entwickelt haben. Wo die existentielle Bedrohung abnimmt, entziehen sich insbesondere Männer bald den als beengend empfundenen Gemeinschaftsverpflichtungen. (Vgl. das empirisch reiche “Sacred and Secular”, Inglehart & Norris 2004.)

  10. @ Lutz

    Danke für den spannenden Beitrag. Ich vermute jedoch, er bezieht sich auf die Diskussion um das Inzest-Verbot in “Libertarian” von Edgar Dahl:

    http://www.wissenslogs.de/…m-die-volksgesundheit

    Aus religionswissenschaftlicher Sicht ist anzumerken, dass auch Religionsgemeinschaften etwa des orthodoxen Judentums, denen über Jahrhunderte die Aufnahme von Konvertiten untersagt war und die also streng endogam heirateten, mit dem Problem akkumulierender Genverwandtschaft rangen und ringen. Daraus sind eigene Werke entstanden, die beispielsweise anonymisierte Gentests vor der Ehe anbieten, z.B. Dor Yeshorim.
    Siehe Wikipedia:
    http://en.wikipedia.org/wiki/Dor_Yeshorim

    Dies ist natürlich insofern interessant, weil es aufzeigt, wie vielfältig sich auch traditionelle Religionsgemeinschaften unter Anwendung neuester Techniken auf reproduktive Herausforderungen einstellen können.

  11. jetzt oder nie

    Hallo Michael,

    ja, da hab ich mich vertan und den Beitrag falsch platziert. Ich bitte um Entschuldigung.

    Zu Deinem Beitrag ist mir das Folgende eingefallen:

    Die Graphik zeigt große Unterschiede zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften. Hinduisten und Moslems haben die meisten Kinder, Zeugen Jehovas und Mitglieder der „Christkatholische Kirche“ die wenigsten. Ich könnte dafür eine plausible Erklärung anbieten. Im Hinduismus und Islam ist einerseits die Rolle der Frau durch Männerwünsche und -träume festgeschrieben, und andererseits sind diese Gemeinschaften zu rigide, um den Frauen eine faire Chance zur Selbstbestimmung oder Ausbruch zu geben. Auch in den Religionen am anderen Ende der Skala ist die Rolle der Frau durch Männerwünsche und -träume festgeschrieben, aber hier haben die Frauen die Möglichkeit die Gemeinschaft zu verlassen. Es bleiben nur die Frauen, die für sich keine Chance sehen, die Gemeinschaft zu verlassen, da sie sich schwach oder minderwertig fühlen, z.B. durch eine vergleichsweise geringe Gesundheit oder Intelligenz. Diese Frauen haben natürlich geringere Chancen sich zu reproduzieren.

    Wichtig wäre es also, nicht nur die momentane Religion der Frau zu kennen, sondern auch die Religion ihrer Eltern.

    Warum hat sich der Monotheismus gegenüber dem Polytheismus weitgehend durchgesetzt? Dieses Faktum ist umso erstaunlicher, weil zu Zeiten des ersten Aufeinandertreffens von Mono- und Polytheismus, die kulturell, technisch und militärisch höher stehenden Völker dem Polytheismus anhingen. Der Polytheismus hat auch weniger logische Konflikte zu bewältigen als der Monotheismus. Es ist ein leichtes mit theoretischen Mitteln zu beweisen, dass es kein allmächtiges Wesen geben kann (weil es unlösbare Aufgaben gibt). Es ist sogar experimentell bewiesen, dass es kein Wesen geben kann, das zugleich allmächtig und gut ist (Theodizee-Problem bei Tieren). All diese logischen Konflikte hat der Polytheismus nicht. Wie wollte man beweisen, dass es keine Götter geben kann, die mehr oder weniger egoistisch und mehr oder weniger mächtig sind?! Und trotzdem hat sich der Monotheismus durchgesetzt; komisch, oder?

    Auch hierfür hätte ich eine plausible Erklärung anzubieten. Der Glaube an den einen lieben Gott ist eine rudimentäre Erinnerung an die ersten Erfahrungen und logischen Schlussfolgerungen des Menschen als Fetus. Ein Fetus weiß natürlich nichts von seiner Mutter, aber er kann doch irgendwie erfahren und erfühlen, dass seine Umgebung belebt ist und dass da jemand ist, der auf ihn reagiert und der es gut mit ihm meint.

    mfg
    Lutz

  12. @ Lutz

    Herzlichen Dank für den Beitrag, der sich schon eigenständig auf die Spuren der Evolutionstheorie der Religion(en) macht! Danke, das ist erfreulich!

    “Die Graphik zeigt große Unterschiede zwischen den verschiedenen Religionsgemeinschaften. Hinduisten und Moslems haben die meisten Kinder, Zeugen Jehovas und Mitglieder der „Christkatholische Kirche“ die wenigsten.”

    Stimmt! (-:

    “Ich könnte dafür eine plausible Erklärung anbieten. Im Hinduismus und Islam ist einerseits die Rolle der Frau durch Männerwünsche und -träume festgeschrieben, und andererseits sind diese Gemeinschaften zu rigide, um den Frauen eine faire Chance zur Selbstbestimmung oder Ausbruch zu geben. Auch in den Religionen am anderen Ende der Skala ist die Rolle der Frau durch Männerwünsche und -träume festgeschrieben, aber hier haben die Frauen die Möglichkeit die Gemeinschaft zu verlassen.”

    Interessante These, aber wurde schon überprüft! (-:

    Zunächst: Auch die Demografie von Islam und Hinduismus entwickeln sich pfadähnlich wie die christliche Demografie – mit sozioökonomischer Entwicklung, Säkularisierung und Individualisierung sinkt die Geburtenrate dort ebenso. In vielen islamischen Ländern ist sie inzwischen auch bei oder unter der Bestandserhaltungsgrenze, z.B. Bosnien, Albanien, Türkei, Iran (!). In den USA werden inzwischen mehr Kinder geboren als in allen letztgenannten Ländern!

    Siehe dazu ein Vortragsskript
    http://religionswissenschaft.twoday.net/…520939/

    und bzw. oder auch eine aktuelle Buchrezension französischer Demografen
    http://religionswissenschaft.twoday.net/…817161/

    Die hohen Geburtenraten von Hindus und Muslimen in der Schweiz erweisen sich so als Nachwirkungen der agrarischen Prägungen der Zuwanderer, sie gleichen sich rapide an. Diese beiden Weltreligionen sind in sich ebenso vielfältig und zu Reformen fähig wie es Christen- und Judentum vor ihnen waren (denen Religionsfreiheit und Gleichberechtigung der Frau auch nicht immer ein zentrales Anliegen waren, gelinde gesagt.)

    “Es bleiben nur die Frauen, die für sich keine Chance sehen, die Gemeinschaft zu verlassen, da sie sich schwach oder minderwertig fühlen, z.B. durch eine vergleichsweise geringe Gesundheit oder Intelligenz. Diese Frauen haben natürlich geringere Chancen sich zu reproduzieren.”

    Generell verlassen überwiegend Männer Kirchen und Religionsgemeinschaften – Frauen sind in allen etablierten Religionsgemeinschaften überrepräsentiert. Die (zweit-)höchste Frauenquote aller Schweizer Rel.gemeinschaften haben (nach dem Sonderfall Buddhismus – viele Buddhistinnen aus Thailand u.a. wurden als Ehefrauen von Schweizer Christen und Konfessionslosen ins Land geholt) – die Zeugen Jehovas. Die Gründe dafür werde ich in einem späteren Beitrag zur “Gretchenfrage” erläutern. Wer schon mal zu den evolutionsbiologischen Gründen spickeln mag:
    http://religionswissenschaft.twoday.net/…151868/

    Also, die Abwendung von Frauen ist es nicht. Es zeigt sich vielmehr, dass zwei Wege zu niedrigen Geburtenraten führen:

    1. Zuviel religiöse Unverbindlichkeit, der allzu “liebe Gott” steuert kaum mehr Verhalten.

    2. Traditionelle Familienpolitik ohne Aufbau von Kinderbetreuung, die die Familien entlasten.

    Die zweite “Strategie” betrifft die Zeugen Jehovas und die Neuapostolische Kirche – hier schaffen es auch willige, junge Leute kaum, in der sehr teuren Alleinverdienerehe mehr als zwei Kinder groß zu ziehen, zumal sie von ihren Kirchen dabei kaum unterstützt werden. Die Folge: Viele Kinderwünsche bleiben unrealisiert, andere junge Paare wandern zu Gemeinschaften mit familienpolitischer Toleranz und Kinder- und Jugendeinrichtungen ab.

    “Warum hat sich der Monotheismus gegenüber dem Polytheismus weitgehend durchgesetzt? Dieses Faktum ist umso erstaunlicher, weil zu Zeiten des ersten Aufeinandertreffens von Mono- und Polytheismus, die kulturell, technisch und militärisch höher stehenden Völker dem Polytheismus anhingen.”

    Nur soviel: Dieses Rätsel konnten wir bereits lösen bzw. beschreiben und auch an Daten testen – auch dazu wird es einen späteren, eigenen Beitrag geben. Wenn ich alle 10-14 Tage einen schreibe, sind wir bis Jahresende durch! (-;

    “Auch hierfür hätte ich eine plausible Erklärung anzubieten. Der Glaube an den einen lieben Gott ist eine rudimentäre Erinnerung an die ersten Erfahrungen und logischen Schlussfolgerungen des Menschen als Fetus. Ein Fetus weiß natürlich nichts von seiner Mutter, aber er kann doch irgendwie erfahren und erfühlen, dass seine Umgebung belebt ist und dass da jemand ist, der auf ihn reagiert und der es gut mit ihm meint.”

    Ja, das ozeanische Urgefühl etc. wird häufig als Basis mystischer Erfahrungen genannt. Es ist noch nicht abschließend geklärt, ob z.B. die Nachfrage nach Muttergöttinnen (bzw. Maria im Christentum, Fatima im Islam etc.) damit zusammen hängt. Aber für den Siegeszug des Monotheismus gibt es bereits einen evolutiven Erklärungsansatz, der ohne psychologische Prägungen auskommt. Kommt noch extra, versprochen.

    Danke für das rege Interesse und Mitdenken! So etwas kann man sich als Wissenschaftler ja nur wünschen! (-:

  13. Anmerkung: Naturtatsachen – Artefakte

    Der Zusammenhang von naturwissenschaftlichen Erklärungen und Existenzfragen wird auch in der “Guten Stube” von Carsten Koenneker in einem kleinen Dialog mit Prof. Prinz (MPI Leipzig) über Naturtatsachen und Artefakte gerade behandelt. Liebhaber der Erkenntnistheorie sollten reinschauen!

    http://www.wissenslogs.de/…3/deutsche-diskussion

  14. Überraschung NAK

    Hi Michael,

    Du schreibst: „Die zweite “Strategie” betrifft die Zeugen Jehovas und die Neuapostolische Kirche – hier schaffen es auch willige, junge Leute kaum, in der sehr teuren Alleinverdienerehe mehr als zwei Kinder groß zu ziehen, zumal sie von ihren Kirchen dabei kaum unterstützt werden. Die Folge: Viele Kinderwünsche bleiben unrealisiert, andere junge Paare wandern zu Gemeinschaften mit familienpolitischer Toleranz und Kinder- und Jugendeinrichtungen ab.“ Das will ich koppeln mit der von Dir erläuterten Gretchenfrage.

    Ich habe zufällig einen Nachbarn, der in der Neuapostolischen Kirche eine Position bekleidet, ungefähr im Mittelfeld der Hierarchie. Als ich dem einmal entgegengehalten habe, die christlichen Kirchen würden zwar immer von Liebe reden, aber de facto wären sie die größten Liebesverhinderer, hat er mir eine erstaunliche Statistik vorgehalten: in keiner Religionsgemeinschaft gibt es so viele Scheidungen und Zweit- oder Dritthochzeiten wie in der NAK. Nach ihren eigenen Befragungen hätte Jugendliche der NAK eher Geschlechtsverkehr als andere Jugendliche, erwachsene Mitglieder hätte öfter GV als andere Erwachsene und das erwachsene Mitglied würde öfter fremdgehen als andere Erwachsene (daher die hohe Scheidungsrate). Frage: Kannst Du das bestätigen und wie passt das zu Deiner Gretchenfrage? Hinweis: An der Spitze der NAK steht ein promovierter Mathematiker, was mich auch angenehm überrascht hat. Und Verhütung wurde in der NAK nie verboten. Ich denke, wenn die Grundlage aller Religionen nicht so grottenverkehrt wäre, dann könnte ich fast neuapostolisch werden 😉

    mfg
    Lutz

  15. @ Lutz – NAK

    Die Neuapostolische Kirche (auch, aber nicht nur in Deutschland) durchläuft gerade eine sehr schwierige Phase – einige sprechen auch von einer Krise. Und diese ist begleitet von heftigen, inneren Diskussionen auch über die Fragen von (allzu hierarchischen?) Strukturen und Traditionen, des Verhältnisses zu den anderen Kirchen und den inneren Zustand.

    Das (resignative?) Bild auch von der Verfassung der Gemeinde(n), das Dir geboten wurde, würde ich so fatal nicht zeichnen. Aber die Daten zeigen doch, dass die NAK zu überaltern droht, weil zu wenige Kinder geboren werden und viele junge Leute die Kirche verlassen. In Berlin hat es jüngst für Aufsehen gesorgt, dass zwei NAK-Kirchen an Moscheevereine verkauft werden mussten:
    http://religionswissenschaft.twoday.net/…346647/

    Im Grundsatz finde ich es immer schade, wenn Religionsgemeinschaften unter ihren Möglichkeiten bleiben, Leben und Lebensentfaltung zu fördern und zu ermutigen. Ob die NAK durch innere Reformen wieder Boden unter die Füsse bekommt, weiter schrumpft oder gar zerbricht – Fragen des Umgangs mit Familien und jungen Leuten werden sicher zu den entscheidenden Themen gehören. Und vielleicht gelingt es den NAK-Oberen ja, Rat sowohl von der eigenen Basis wie auch von außen zu gewinnen.

  16. praktische Theodizee

    Hallo Michael,

    mich interessiert das Folgende. Gesetzt den Fall einem frommen Menschen widerfährt ein Schicksalsschlag, z.B. Querschnittslähmung durch Krankheit nach langer Zeit vergeblicher Hoffnung. Wie groß sind die Wahrscheinlichkeiten, dass er
    a) zu einer anderen Religion wechselt,
    b) Atheist wird,
    c) versucht seine ursprüngliche Religion zu intensivieren,
    d) sich an seiner Religiosität gar nichts ändert.

    Gibt es dazu Untersuchungen? Ist das Reagieren eher abhängig von der Religion, oder von der Art des Schicksalsschlag oder wie alt der Mensch war, als ihn der Schicksalsschlag getroffen hat?

    mfg
    Lutz

  17. @ Lutz: Krisenerfahrungen

    Auch in diese Richtung (Salutogenese, Coping) habe ich einen späteren Beitrag geplant. (Hatte mal eine außerordentlich eindrucksvolle Tagung mit Krankenhaus- und Polizeiseelsorgern dazu, in der wir die wissenschaftlichen Befunde und die Praxiserfahrungen abglichen – werde ich nie vergessen…) Aber soviel schon vorab: Krisenerfahrungen führen meistens zur Intensivierung religiöser Zuwendung, seltener zu Konversionen, sehr selten zur Abwendung von Religion.

    Der logischen Argumentation erscheint es geradezu paradox: Aber gerade dann, wenn Schlimmes geschehen ist – ein Erdbeben Tote gefordert hat, ein Kind erkrankt, ein Attentat geschah o.ä. – wenden sich die Menschen dem Religiösen zu. Nach dem Amoklauf von Erfurt strömten die erschütterten (zu zwei Dritteln konfessionslosen!) Menschen beispielsweise nicht in die Kneipen, Stadien oder Parteibüros, sondern in die Kirchen. Und dort wollten sie erst einmal keine Predigten hören, sondern im Stillen religiöses Verhalten vollziehen, v.a. Rituale begehen (Kerzen anzünden, Blumen legen, beten etc.).

    Im Volksmund sind diese Zusammenhänge gut bekannt: “Not lehrt beten”, “In den Schützengräbern gibt es keine Atheisten” u.ä. lauten entsprechende Sprichworte. Und aus evolutionspsychologischer Perspektive macht das auch Sinn. Aber, wie gesagt: dazu später mal ein eigener Beitrag. (-;

  18. Kinder und Tod

    „Gerne wird ja (ohne jeden empirischen Beleg) behauptet, Kindern würde man beispiels-weise Jenseits- oder Seelenvorstellungen erst kulturell einimpfen. Die Befunde ergeben jedoch das glatte Gegenteil: jüngere Kinder vertreten diese stärker als ältere und religiös erzogene Kinder bauen sie durchschnittlich langsamer ab! Interessant ist auch, wie unterschiedlich Kategorien wahrgenommen werden, das Enden biologischer Vorgänge wird bspw. sehr viel früher wahrgenommen als das (mutmaßliche) Enden von Wünschen und Wollen.“

    Ich denke man muß hier ganz klar unterscheiden, den Begriffe, wie Jenseits und Seele, sind für kleinere Kinder Bedeutungslos.
    Jenseits beginnt hinter dem Horizont, das kann in Paris, Afrika oder im Himmel sein. Man kann mit dem richtigen Verkehrsmittel hin fahren und auch wieder zurück.

    „Da Kinder bis zum zehnten oder elften Lebensjahr ein ganzheitliches Verständnis vom Menschen haben, können sie eine Trennung von Körper und Seele, wie sie in den Religionen dargestellt wird, nicht fassen.“ (S. 26 Gehirn und Geist 4-2008 Kinder und Tod)
    Für Kinder ist die Welt animistisch.
    In jedem Stein, jeder Pflanze, jedem Tier und jedem Menschen (auch dem Toten Körper), aber auch jedem Ort entwickelt Lebenskraft einen eigenen Willen, der natürlichen Regeln folgt.
    Steine und Tote bewegen sich nicht, aber sie haben einen eigenen Willen.

    Dieses Todeskonzept wir mit zunehmenden Alter schwächer, was ja auch die, von Ihnen genannten Zahlen belegen.
    Die Erkenntnis, das der Tod endgültig, unwiderruflich und universell ist, setzt im Alter von ca. neun Jahren ein und kann zu Ängsten führen, die eine Verdrängung des ganzen Themas mit sich bringt.

    Erst mit der Pubertät wendet sich der Blick wieder nach innen und auf existenzielle Fragen und eine neue Vorstellung vom Tod entsteht.
    Damit kann Religion auch erst zu diesem Zeitpunkt eine tiefere Bedeutung erlangen.
    Deshalb werden Jugendliche auch erst in diesem Alter als vollwertiges Mitglied in die Gemeinschaft aufgenommen.

  19. @ Cramer: Kindheit und Tod

    Lieber Herr Cramer,

    für diesen wertvollen Beitrag möchte ich danken. Denn er reflektiert sehr schön, dass wir den Erkenntnisapparat und die Begriffe von Kinder natürlich stets mit denen von Erwachsenen reflektieren. Gleichzeitig wird m.E. sehr schön deutlich, dass hier religiöse Lehren tatsächlich auf naturwüchsigen Gehirnstrukturen aufbauen und von dort aus neues (insgesamt) adaptives Potential erschließen. Wir sind als Menschen nie ein weißes Blatt Papier, auf das Erziehende, Meme o.ä. schreiben könnten, was immer sie wollten.

    Arbeiten Sie im Bereich der Psychologie?

    Herzliche Grüße!

    Michael Blume

  20. die andere Katastrophenart

    Hi Michael,

    Du schreibst: “Aber soviel schon vorab: Krisenerfahrungen führen meistens zur Intensivierung religiöser Zuwendung, seltener zu Konversionen, sehr selten zur Abwendung von Religion. …”

    Und dann nennst Du Beispiele für Krisen, in denen ich eine Intensivierung der Religion auch vermutet hätte. Ich hatte aber nach der “anderen” Art von Katastrophe gefragt. Nicht kurz, heftig und unabwendbar, sondern langsam zermürbend und mit immer neuen enttäuschten Hoffnungen begleitet. Die Menschen, die sich in deutschen KZs das Überleben vorgenommen hatten, und haben dies nicht geschafft, die wendeten sich meines Wissens vor ihrem Tod von ihrer Religion ab.

    Heute erleben z.B. MS-Kranke diesen Katastrophentyp. Gibt es auch zu dieser Art von Krise oder Katastrophe Untersuchungen bzgl. der Auswirkung auf das religiöse Verhalten der direkt Betroffenen oder ihrer Angehörigen?

    mfg
    Lutz

  21. Salutogenese

    Lieber Lutz,

    sinnigerweise forschte Aaron Antonovsky (übrigens selbst Atheist) in Israel genau an dem von Dir bezeichneten Beispiel: Wie kam es, dass einige Schoa-Überlebende das Geschehene psychisch und physisch besser verarbeiteten als andere? Und verbindliche religiöse Überzeugungen gehörten zu Antonovskys Überraschung und Ärger (wie er selbst schreibt) zu den stärksten Faktoren in positiver Richtung. Eine aktuelle Studie von Sosis zur Bewältigung von Terrorfurcht kommt zum gleichen Ergebnis.

    Dennoch warne ich hier vor zu weitreichenden Schlüssen. Katastrophen, Traumata und die Verluste geliebter Menschen sind individuell-biografische Ereignisse, die nicht in jedem Fall gleichartig wirken können. Der langsame Tod von Darwins Tochter Anne verschärfte beispielsweise dessen Glaubenszweifel und so, wie mancher Säkulare in den KZs zum Glauben fand, verlor mancher Religiöse den seinen.

    Empirisch sicher wird man also “nur” sagen können: Viele (nicht alle) Menschen greifen in Krisenerfahrungen auf religiöse Überzeugungen zurück, um ihre Welt wieder als sinnhaft, verstehbar und handhabbar zu erfahren. Und oft (nicht immer) gelingt dies auch.

    Mit herzlichen Grüßen

    Michael Blume

  22. Katastrophen

    Dazu geht mir die Story aus dem griechischen Altertum , die ich bei Drewermann las, nicht aus dem Sinn :
    In einem Tempel über einem für die Schifffahrt gefährlichen Riff zeigt der Priester stolz einem bekannten griechischen Atheisten die Votivtafeln der Geretteten. Die, erklärt er , seien doch wohl genügend Beweis dafür, dass es die Götter (und ihre rettende Kraft) gebe. Darauf der Atheist kühl: Die Untergegangenen können keine Votivtafeln anbringen.
    Dazu eine Doppel-Geschichte von zwei relativ benachbarten Kirchengemeinden an der südasiatischen Küste bei der Tsunami-Katastrophe 2004. In der einen habe der Pfarrer am schönen zweiten Weihnachtsfeiertag die schöne Idee gehabt: Wir verlegen unseren Gottesdienst auf den Hügel über dem Dorf, mit herrlicher Aussicht in Gottes freier Natur. Von der Flut wurden diese Leute nicht erfasst.
    In der anderen Gemeinde: Festes, starkes Gebäude, das der Flut standgehalten hätte – wenn, ja wenn der Pfarrer nicht unerwartet früh den Gottesdienst beschlossen hätte und die Leute mit dem Segen Gottes entlassen. Gerade als die Türen geöffnet wurden, kam die Flut.

    Was an der Doppel-Geschichte wirklich geschehen ist, weiß ich nicht. Aber sie eignet sich hervorragend als Denkübung; und insofern ist sie wahr: Es lässt sich leicht ausrechnen, dass man in der ersten Gemeinde man wohl noch über Generationen hinweg von Gottes wunderbarer Fügung spricht. Und in der andern? Da entsteht schon mangels Überlebender keine Gegenargumenation. Eher bei den wenigen Überlebenden ein beschämtes Schweigen. Welches Interpretationsmuster der Wirklichkeitsverarbeitung gewinnt dabei einen Vorsprung? Was wird weiter vererbt? Die Überlebenden können Danklieder singen – die Toten loben Gott nicht mehr (Psalm 115,17); *und* sie kritisieren ihn auch nicht.

    Das wäre wohl immer zu berücksichtigen bei Erinnerungen derer, die Katastrophen durchgestanden und überstanden haben. Ziemlich oft hat sich ein entsprechender Glaube als Kraft zum Durchhalten erwiesen. Das konnte man wohl besonders bei ideologisch oder religiös kohärenten Gruppen in den KZs beobachten. Und das soll man nicht verächtlich machen, bei keiner der Gruppen. Aber er darf darum nicht darauf beharren, sein Interpretationsmuster sei damit auch als richtig erwiesen. Vielleicht liegt der Wert des Glaubens doch mehr in der Durchhalte-Kraft gegen widrige Lebenswiderfahrnisse als in der Richtigkeit dessen, wie diese Lebenswiderfahrnisse interpretiert werden.

    Gute Nacht
    Basty

  23. @ Basty: Coping

    Zitat “Vielleicht liegt der Wert des Glaubens doch mehr in der Durchhalte-Kraft gegen widrige Lebenswiderfahrnisse als in der Richtigkeit dessen, wie diese Lebenswiderfahrnisse interpretiert werden.”

    Ja, in diese Richtung deuteten Antonovskys Befunde. Er untersuchte ja nicht, warum Menschen überlebt hatten, sondern wie Überlebende die traumatischen Erfahrungen verarbeitet hatten. Und dabei erwies sich ein verbindlicher Glaube als hilfreich.

    Man spricht dabei ja auch vom Coping und der Aspekt “Handhabbarkeit” ist auch leicht zu verstehen: Wer einer Situation hilflos ausgesetzt ist, kann etwa im rituellen Gebet das Gefühl bekommen, etwas Einfluss zu gewinnen, sich selbst stabilisieren und dann wieder agieren etc.

  24. Coping @Michael Bl.

    OK, das mit “Coping” ist, glaube ich, zu verstehen. Querverbindung zu Luhmann wäre vielleicht mal auszubauen. Weil es schon lange her ist, dass ich was von ihm gelesen habe, nur etwa so formuliert: Dinge auf den Nenner bringen, auch komplexe Zusammenhänge (u.U. durch Vereinfachung) durchschaubar und eben handhabbar machen. Würde in meine Definition von Religion als “Lebensbewältigungsstrategie” passen.

    Mein – mehr intellektuelles – Problem dabei wollte ich im letzten Posting nicht auf die (zynische) Spitze treiben; dennoch aber jetzt noch etwas verfolgen:
    Gelingendes Coping wird, wenn hinterher darüber erzählt wird, immer wieder auch zur Bestätigung der jeweiligen Ideologie, der Religion, der Weltanschauung. Ist ja gut. Aber: Misslingendes Coping kommt nicht ebenso, nicht gleichberechtigt, zur Sprache. Denn die, denen das Coping misslungen ist, sind entweder tot oder werden zu einem guten Teil beschämt schweigen. Wenn sie noch darüber nachdenken können, denken sie weniger, die Anweisungen zum Coping seien insgesamt falsch gewesen, sondern eher, sie selbst hätten etwas falsch gemacht.

    So gewinnt jede Ideologie, Religion ff, die sich durch Eigenberichte stärken kann – selbst wenn sie in der Hälfte aller Fälle total versagt hätte – dadurch einen ungleich höheren Vorsprung gegenüber dem, was ein neutraler Beobachter von außen sehen würde.
    Und da wäre es, sage ich jetzt als christlicher Theologe dazu, wenigstens für die Christen nötig, die Untergegangenen nicht zu vergessen und zu berücksichtigen, was es heißt, dass auch ihre Geschichte(n) durch die Sieger geschrieben wurde. Es würde dem, dass sie sich auf den Bauarbeiter aus Nazareth berufen, wohl angemessen sein.

    Macht’s gut –
    Cope your life in a good way
    Basty

  25. @ Basty: Antonovsky

    Lieber Basty,

    zu 95% stimme ich Ihrem Posting zu. Nur eines stimmt mit Bezug auf Antonovsky nicht: “Misslingendes Coping kommt nicht ebenso, nicht gleichberechtigt, zur Sprache.”

    Antonovskys Grundgesamtheit waren (meist jüdische) KZ-Überlebende, die verschieden gut mit den Traumata zurecht kamen. Und er schreibt selbst (als Nichtglaubender) sehr offen, dass es ihn beunruhigte und ärgerte, dass innerhalb dieser Gruppe Überlebender religiös gefestigte Menschen offensichtlich besser damit zurecht kamen als nichtreligiöse. Und dieser Befund bestätigte sich dann auch in weiteren Studien mit Menschen verschiedensten Alters und verschiedenster Kultur, die bis heute durchgeführt werden. Also: hier geht es nicht um die Frage nach dem Überleben, sondern um die vergleichende Bearbeitung traumatischer Erfahrungen bzw. die Selbstkonstruktion von Gesundheit.

    Ein Bias in der Auswahl der Gruppe scheidet also als Erklärung seines Befundes aus. Aber es wird später auch mal einen eigenen Salutogenese-Beitrag geben, da können wir das ja nochmal vertiefen.

    Mit herzlichen Grüßen

    Michael Blume

  26. Natur des Glaubens

    Der Artikel beweist, dass es Menschheit ohne Glauben an Gott nie gegeben hat, nie geben wird. Der Grund liegt m. E. in dem Erkenntnis- und Erklärungsdrang der Menschen. So kann es doch kein Zufall sein, dass die Ergebnisse von Untersuchungen von Entscheidungsprozessen im Scanner bereits in der Litanei zur heiligsten Dreifaltigkeit beschrieben sind, natürlich mit Gott als Akteur.
    Dass gläubige Menschen familiär und sozial stabiler sind als andere, liegt an der Geborgenheit und selbsterfahrenen Gottesliebe, aus deren Unendlichkeit sie schöpfen und vergeben können.

  27. Gott im Kopf

    Leider bin ich erst jetzt auf diesen Blog und diesen Artikel gestoßen, der mittlerweile fast vier Jahre alt ist. Dass ändert freilich überhaupt nichts daran, dass sich Jesse Bering mit seiner These, Religion sei eine evolutiv zu begründende Art zu denken, meiner Ansicht nach genau richtig liegt.
    Allerdings entsteht der Eindruck, als sei diese Sichtweise völlig neu und allein auf Berings Mist gewachsen. Dem ist nicht so: Auch wenn der von Hakon Cramer bereits erwähnte Jean Piaget seine Theorie der kognitiven Entwicklung weitaus allgemeiner formuliert hat, kann sie meiner Meinung gar nicht anders gelesen werden, als in der Bering’schen Art und Weise.
    Als Beispiel dafür, wie diese Erkenntnisse für eine Theorie der historischen Entwicklung des Denkens genutzt werden können, empfehle ich im Übrigen die Lektüre der Werke des deutschen Soziologen Günter Dux.

  28. @JayJay

    Danke für die konstruktive Rückmeldung! Und, ja, wirklich “neu” ist der Gedanke nicht, sondern wurde schon von Charles Darwin selbst (immerhin studierter Theologe) ausgearbeitet. Aber erst in den letzten Jahren hat empirische und auch experimentelle Forschung zu diesen Fragen an Schwung gewonnen. Und da ist Jesse Bering “vorne mit” dabei, aber längst auch nicht mehr der einzige. Würde mich freuen, wenn Sie an dem Thema dran blieben!

  29. Wie wir es gern hätten

    Hallo, ich melde mich hier als absoluter Laie (wenn überhaupt), Atheist und Vater. Nachdem ich eben eine Dokumentation gesehen habe, in der auch die Berings Prinzessin-Alice-Experimente thematisiert wurden sind, kam ich persönlich aus dem Kopfschütteln nicht mehr heraus. Und habe deutlichen Bedarf an einer Auseinandersetzung mit diesen Experimenten.
    Zumindest die Schöpfer der Doku sind demnach der Meinung, daß die Experimante beweisen, daß Kinder instinktiv an Übernatürliches glauben und religiös sind. Mein erster Gedanke dagegen war, daß die Versuche eigentlich nur trefflich gezeigt haben, daß Kinder noch sehr weltunerfahren sind und (vermeintlichen) Autoritäten schnell Glauben schenken. In den Filmaufnahmen war bei Alices Einführung ins Denken der Kinder eher Skepsis bei den Kindern zu beobachten. Statt das Erkennen dieser Wahrheit zu belohnen, wurde dort auf der Lüge beharrt und das Experiment fortgesetzt. Das Ergebnis des Experiments wurde in meinen Augen an dieser Stelle schon verfälscht. Ich frage mich auch, was passiert wäre, wenn die Versuchsgruppe in einem Nachfolgeversuch unkommentiert mit einem leeren Stuhl konfrontiert gewesen wäre. Ohne eine unsichtbare Person im Hinterkopf. Ob dann auch instinktiv(!) eine nicht sichtbare Prinzessin dort Platz genommen hätte? Ich bezweifele das. Meine Kinder (3 J. und 5 J.) sind schon oft im Leben leeren Sitzmöbeln begegnet. Ich habe nichts dergleichen festgestellt.

    Wenn ich mich an ein Fenster stelle, und behaupte ein riesiges fliegendes Wiener Würstchen zu sehen, und meine Kinder dann hinzu kommen und in den Himmel sehen… Beweist das dann, das Kindern angeboren ist, zu glauben, daß überdimensionale Nahrungsmittel über ausgesprochen gute aerodynamische Eigenschaften verfügen. Ich denke, ich wende dort lieber das Sparsamkeitsprinzip an. Dagegen hat ganz sicher auch die Evolution nicht viel einzuwenden.

    Zum Schluß noch: Wir waren – als mein sohn noch 4 Jahre alt war – mit anderen Kindern unterschiedlichen Alters auf einer Nachtwanderung im “Geisterwald”. Dort hat sich mein Sohn rührend um die weinenden 10-jährigen gekümmert, indem er Ihnen erklärt hat, daß es keine Geister gibt. Er hat sogar die Erwachsenen aufgefordert, die Taschenlampen wieder einzuschalten, um seine Aussage zu stützen. Ich glaube nicht, daß die Aussagen meines Sohnen nun auf einem gestörten oder noch primitiven Denkapparat beruhen…

    Mein persönliches Fazit: Die Interpretationen zu dem Experiment sagen in erster Linie etwas über die Interpretierenden aus. Aber ich habe wie gesagt kaum Ahnung vom Thema, und lasse gerne mit mir über meine Meinung zu den Prinzessin-Alice-Experimenten reden und mich nötigenfälls mit einleuchtenden Argumenten verbessern.

    • Lieber @Mirko Ritterbusch,

      vielen Dank für Ihre konstruktiven Rückfragen!

      Tatsächlich würde Ihnen auch Jesse Recht geben: Die Alice-Experimente belegen für sich noch keinen Glauben an überempirische Wesen. Sie zeigen nur auf, dass die Möglichkeiten zu einem solchen Glauben bei Kindern bestehen und durch Autoritätspersonen aktiviert und geformt werden können. Dann wirken sie sich wiederum auf Verhalten aus. (Vgl. auch die Angst einiger Kinder bei der Nachtwanderung, obwohl sicher selten aktiv ein Glauben an untote Geister vermittelt wurde.)

      Schon im Werk von Jesse Bering stellen die Alice-Experimente nur eine Variante in einer ganzen Batterie dar. In der Forschung insgesamt sogar eher ein illustratives Detail. Sie eignen sich aber sehr gut zur medialen Darstellung, weswegen sie dafür gerne hervorgehoben werden.

      Ihnen nochmal herzlichen Dank für den guten Kommentar und Ihrer Familie alles Gute!

  30. Lieber Michael Blume,

    vielen Dank für Ihre Antwort. Ich freue mich, zu lesen, daß meine Rückfragen und die enthaltene Kritik die mediale Darstellung der Experimente betrifft (Es handelte sich tatsächlich um eine sehr populärwissenschaftliche Sendung aus dem US-Amerikanischen Raum.). Nachdem ich “Gott im Kopf – Wozu?” nun nicht völlig übermüdet nochmals gelesen habe, ist mir das jetzt sogar doppelt klar. Mit etwas Glück lässt mir die Familie in Zukunft etwas mehr Zeit ausgewähltes zu lesen. Statt Vorgegebenes zu schauen.

    Herzlichst dankend
    Mirko Ritterbusch

  31. 🙂

    Also, ich glaube ja, daß…also, man könnte gl…Moment mal.
    Glaube, Evolution. … Glaube & Evolution? Ach du lieber…

    Das hieße doch…das heißt ja…das könnte ja heißen, daß…das sollte h…Oh mein Gott, so habe ich das ja noch nie betrachtet.

    Der Mensch glaubt also. Es existieren also Tiere, die glauben! Glauben Tierkinder ihren Eltern? Glauben Geier an ein Leben nach dem Tod, an ihr Leben nach dem Tod?
    Ist Glauben genetisch verankert? Begünstigen bestimmte genetische Eigenschaften, besonders gut, besonders viel, besonders effizient, besonders gern zu glauben? Ist Leben eventuell ein Glaubensmanagementsystem, oder hilft ein gutes Glaubensmanagement (komplexeren) Lebewesen beim selbsbegünstigenden Realitätsmanagement.
    Oder ist Glauben nur ein potentielles Werkzeug kulturbildenden Lebens? Oder ist Kultur ein hilfreiches Werkzeug glaubender Lebewesen?
    Glaubt vielleicht nur der Mensch aktiv? Und glauben nicht aktiv glaubende Lebewesen dann instinktiv oder nur passiv. Ist Gott nur eine Perspektive, die wir einzunehmen Versuchen? Ein Zielpunkt? Eine best-case-Vorstellung eines lebendigen (Realität managenden) Glaubensmanagementsystems? Eine Projektion aus der Zukunft? Und Glauben ein Motivationsaufrechterhaltungswerkzeug? Oder Interessenaufrechterhaltungswerkzeug?

    Mal angenommen: Ich denke, also bin ich.
    Kann man dann analog sagen: Ich glaube, also Werde ich zukünftig anders sein, als ich jetzt bin? Oder: Ich glaube, also agiere ich?
    Oder: Ich glaube, also lebe ich in einem dynamischen Universum?

    Ich kann also glauben. Ja, wie glaube ich. Wie geistig, wie organisch? Wem, was glaube ich? Woran, wozu? Ist die beobachtbare Religion dann nicht nur ein Spezialfall von Glaubensmanagement, und/oder vielleicht ganzheitliches Glaubensmanagement? Oder ein Rudiment instinkten Glaubens, ein Schritt auf dem Weg zu qualitativ Höherwertigen Glaubens? Oder quantitativ Höherwertig? Ist Glaube kein Alleinstellungsmerkmal der Religionen? Und brauche ich jetzt Polizeischutz, nach dem Kommunizieren solcher Gedanken?

    Der Mensch hat an die Fruchtbarkeit geglaubt. Und die Landwirtschaft entwickelt, domestiziert…Medizin, exponentielles Bevölkerungswachstum, (Friedfertigkeit?).

    Ist Glaube ein dynamischer Prozess? Oder ein statischer Prozess, der in einem dynamischen Umfeld Kohärenz im Handeln/zielgerichteten Handeln ermöglicht? Oder…

    Ist Glaube ein Werkzeug um Unwissen um ein System und seine Eigenschaften in Wissen zwecks erfolgreichen (gemeinsamen?) Handelns zu verwandeln?

    Meine Güte, jetzt ist es aber mit mir durchgegangen. Ich glaube, ich finde das alles und das Alles sehr interessant.

    • Vielen Dank, lieber @Mirko Ritterbusch! Tatsächlich dient dieser Blog dazu, Menschen zu informieren, zu unterhalten – vor allem aber zum mitdenken und -forschen anzustiften. Ihr “Assoziationsgewitter” hat mich daher wirklich sehr gefreut, zumal ich selbstverständlich auch “nur” auf dem Weg vorläufiger Erkenntnisse wandele und den Leserinnen und Lesern viele wertvolle Impulse und Anregungen zu verdanken habe!

      Seien Sie herzlich willkommen, vielleicht ja auch einmal bei einer Veranstaltung! 🙂
      https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/newsblog-juli-und-august-2016-spiritualitaet-zit-tuebingen-sonderkontingent-integra-filderstadt-und-sommerakademie-ev-akademie-wittenberg/

      • Lieber Michael Blume,

        nach einiger Zeit, habe ich wieder Götter im Kopf. Und mag mir nun die Zeit nehmen, Ihre freundlichen Quellen dauerhaft zu notieren, um bei Zeiten…

        Und ich bin…gerührt, etwas. Und erfreut, dass mein gewittern aus sicherer Warte so…geschätzt wird. Ich habe wenig Kompetenzen, was so-persönliches-Lob-erhalten betrifft. Sie machen mir Mut, mich weiter aufzubauen.

        Und just letztens, beim Gewittern in einem Forum für Literatur dacht’ ich hierher und möchte locker, gern zwei Texte einstellen, die sehr nahe sind, denk’ ich. Auf alle Fälle freu ich mich sehr über das Wiedersehen.

        1.) Theologieseminar

        “So, liebe Kursteilnehmer, die zwei Minuten sind um; dann lasst mal hören, was euch zum Thema ‘Leben nach dem Tod’ eingefallen ist. Undreas, hehe.”
        “Hmm, ja, es ist aber noch etwas inkohärent.”
        “Natürlich.”
        “Das Leben nach dem Sterben war nur zu retten, indem wir es unter die Oberfläche verdrängten. Die Erschaffung der Hölle ließ uns blind werden für das Paradies. Blind arbeiteten wir uns die Hände wund, holen aus dem Boden, schmelzen, prügeln ein.
        Oh, Menschheit halte ein, du bist als Mensch hier nicht allein. Zäume deine Jugend, höre. Seit Jahrmilliarden sind wir, ohne Unterlass; erfanden uns im Boden, nass. Dort begann es. Nicht minder heilig sollte unser Ende sein. So Menschheit, halte ein, und kneif dich sanft. Und glaub’, du bist nicht gern allein.”
        “Ähm.”
        “Was gibt’s da noch zu ähmen.”

        (Vielleicht etwas frech.)

        2.)
        Wieder.belebt
        Lebens.Antwort

        Ich helf,’ so gut ich kann/winde meinen Kern/herum um jede Kugel
        Schlag um Schlag/es reißt/aus mir heraus hinein/in kalte Tiefe
        Stück um Stück/von Traumes Krebs
        Weil alles, was vom Alpen bleibt/der Schmerz/in Traumes Fleisch Vergänglichkeit

        Interpretationshilfe

        “,'” – verschluckt
        “S” – groß? Oder klein?

        Ich möchte mich nachträglich für Ihre Einladung bedanken…das ist…gewöhnungsbedürftig für mich einfach so treibend Denkenden. Ohne Angst vor allerhand Gedanken, auch den grossen nicht. Aber, dass ich…ich bin gerührt.

  32. Sehr geehrter Herr Blume,

    Ihr Zitat: “Und so räumt Benjamin Beit-Hallahmi in „Atheists – A psychological Profile“ im Cambridge Compendium to Atheism nach Durchsicht Dutzender Studien mit dem Vorurteil auf, Atheisten litten generell an irgendeiner Störung. Allerdings gibt es signifikante Merkmale: sie sind überwiegend männlich – und zeigen weit überdurchschnittlich häufig „vermeidendes Beziehungsverhalten“.”

    Wie ist es zu erklären, dass Atheisten überwiegend männlich sind?

    Können Sie noch mehr zu dem “vermeidenden Beziehungsverhalten” sagen? Woher soll dieses Verhalten kommen?

    • Sehr geehrter @Maurizio,

      bislang deutet alles darauf hin, dass Religiosität v.a. über soziale Kognitionen der Mentalisierung hervorgerufen wird. Diese sind unter Männern im Durchschnitt etwas schwächer als unter Frauen ausgeprägt und wohl der eigentliche Faktor (nicht Geschlecht per se).

      Selbstverständlich gehen stärkere soziale Kognitionen auch mit durchschnittlich mehr Engagement in Beziehungen einher. Zudem betonen erfolgreiche, religiöse Lehren gemeinhin die Bedeutung von Familien und Gemeinschaften, wogegen bislang keine atheistische Bewegung eine bejahende Antwort auf die Anthropodizee-Frage etablieren konnte (oder wollte).

      Entsprechend all diesen Befunden haben Atheisten im Durchschnitt auch deutlich weniger Kinder als ihre religiöseren Nachbarn.

      Vielen Dank für Ihr Interesse, schauen Sie sich gerne hier auf dem Blog, unter den Publikationen auf der Homepage oder in “Gott, Gene und Gehirn” (Hirzel) noch ein wenig um!

      Herzliche Grüße!

  33. Hallo Herr Blume.

    […] Kindern würde man beispiels-weise Jenseits- oder Seelenvorstellungen erst kulturell einimpfen. Die Befunde ergeben jedoch das glatte Gegenteil: jüngere Kinder vertreten diese stärker als ältere und religiös erzogene Kinder bauen sie durchschnittlich langsamer ab![…]

    Das Hirn ist äußerst plastisch (und das meine ich jetzt nicht nur von der Substanz her, sondern auch und gerade von der Psyche her) und so kann die Realität auch völlig von dem verschieden sein, was wir als normal bzw. als allgemeine Realität bezeichnen – ich muss da nur auf die psychoaktiven Substanzen (z.B. LSD) verweisen, und was damit alles mögliche erlebt, erdacht und erfahren (auf die Sinne bezogen) werden kann (ein recht guter und anschaulicher Film in dem Bereich wäre “Altered States“).

    Das mit dem Kindern erklärt sich mir leicht (eine Meinung, keine Tatsachenbehauptung), mit vorgeburtlicher Erfahrung im Mutterleib. Das Kind erfährt dabei diese nicht fühl- und nicht sichtbaren, aber anwesenden Entitäten und bildet deshalb diesen “Gottessinn” aus. Mit der Tiefenindoktrination durch und mit der Gesellschaft wird das ganze verstärkt und je nach dem wo und mit wem ein Kind aufwächst ist diese religiöse “Verdrahtung” dann mehr oder weniger stark ausgeprägt und lässt sich dann auch mehr oder weniger gut wieder abbauen – bei Kinder die mit starken, ggf. sogar emotional starken, religiösen “Bildern / Vorstellungen” erzogen wurden wird das abbauen dieser Vorstellungen mit Sicherheit schwieriger, wenn nicht sogar gänzlich unmöglich sein, diese Vorstellungen zur Gänze wieder abzubauen, dazu lässt sich unser Gehirn allzu gerne auf vielfältige Weise täuschen und verzichtet auch allzu gerne auf Objektivität, insofern “es” sich dadurch besser in der Welt zurecht findet und solche Täuschungen passieren zahlreich und fasst täglich – sie sind auch nicht nur, aber auch sehr stark in der Sprache verankert. Nicht zuletzt ist unser Denkapparat hervorragend dazu geeignet “zu spinnen”, dazu muss ich nur auf die Phantasie und die Künste verweisen, aber auch unsere Träume sind nicht nur Indizien, sondern ein hervorragendes Beispiel dafür und für die so genannten psychischen Krankheiten – das Gehirn kann das alles von ganz alleine, ohne irgend eine Krankheit. Das was Normal ist, ist nicht alles was das Gehirn kann, die so genannte Normalität ist nur eine Untermenge und wenn ich Erich Fromm heran ziehe, dann sind die “Normalsten” sogar “die Kränksten”.

    Grüße

    Ein Leser

    • Lieber @ein Leser,

      lieben Dank für Ihre Gedanken und Ihre “Meinung, keine Tatsachenbehauptung” zu “vorgeburtlicher Erfahrung im Mutterleib” als Grundlage von Religiosität.

      Diese psychoanalytische These ist tatsächlich sehr alt und klassisch und wurde unter dem Stichwort des “ozeanischen Gefühls” bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts diskutiert, vgl.
      http://www.tekki.ch/texte/grenze/node3.html

      Empirisch gesehen darf diese These jedoch als gescheitert gelten. Denn wie Darwin schon richtig erkannt hat, steht am Anfang der religiösen Entwicklung des Menschen kein Monotheismus (wohl nicht einmal ein Theismus, sondern der Glaube an Ahnen und Geister, ein früher Schamanismus). Zudem sind die überempirischen Wesen keinesfalls generell “bergend” und “gut”, nicht einmal überwiegend. Gerade auch Verschwörungsgläubige nehmen ja an, dass die Welt von bösen Supverschwörern bestimmt würde! Die These eines “Monotheismus aus dem Mutterleib” setzt also bereits den Glauben an eine gute, liebende Alleingottheit voraus, die sich religionshistorisch sehr spät durchsetzte und immer auch sehr fragil gewesen ist. Insofern führt an der Evolutionsgeschichte von Religiosität und Religionen kein Weg vorbei (hier ein kostenloser Artikel in Gehirn & Geist dazu):
      http://www.spektrum.de/magazin/homo-religiosus/982255

      Mit freundlichen Grüßen!

      Ein Blogger

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