Ein Loch in der Antarktis – Die erste Simulation der letzten fünf Millionen Jahre unseres Eiskontinents

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Ohne eine fundamentale Veränderung der globalen Energieversorgung wird es in diesem Jahrhundert weitere zwei Grad wärmer werden. So heiß war es das letzte Mal im Pliozän vor mehr als drei Millionen Jahren. Die erste Simulation der Antarktis, die bis in diese Zeit zurückreicht, wurde jetzt veröffentlicht. Sie zeigt, dass die Westantarktis in der Vergangenheit mehrfach praktisch eisfrei war. Meeresspiegelschwankungen von fünf bis sieben Metern waren die Folge. Der Antwort auf die Frage, ob die Westantarktis „kippen“ kann, sind wir damit ein Stückchen näher gerückt.

Während der letzten 5 Millionen Jahre ist die Kryosphäre unseres Planeten zunehmend unruhiger geworden (Grafik 1). Auch die Antarktis als wichtiger Bestandteil der Eiswelt unseres Planetens hat diese Schwankungen mitgemacht. Ihre Eismassen speichern derzeit eine Wassermenge, die einem globalen Meeresspiegelanstieg um 50-60 Meter entspricht. Aber auf der Antarktis ist es sehr kalt und damit könnte man annehmen, dass die Eisbewegungen dort sehr träge von statten gehen. In der Tat verliert der südliche Eispanzer praktisch keine Masse durch Schmelzen.

 

   

Grafik 1: Globales Eisvolumen der letzten fünf Millionen Jahre repräsentiert durch das Sauerstoff-Isotopenverhältnis (oben). Simuliertes Eisvolumen der Antartkis für den gleichen Zeitraum (mitte) und in detailierter Darstellung für die letzten 1,5 Millionen Jahre (unten). Die grauen Balken deuten besondere Warmzeiten (super interglacials) an. Das Eisvolumen kann direkt in globalen Meeresspiegelunterschied umgerechnet werden (rechte Achse).

Das Eis fließt stattdessen über die Aufsetzlinie (grounding line) ins Meer, beginnt dort zu schwimmen und wird damit vom Eisschild zum Eisschelf. Wie bereits an anderer Stelle beschrieben birgt die Situation in der Westantarktis das besondere Risiko eines sogenannten Kippprozesses. Dort fällt nämlich der Untergrund, auf dem das Eisschild aufliegt, landeinwärts ab und liegt zudem unterhalb des Meeresspiegels. Da der Eisfluss über die grounding line umso schneller wird, je dicker das Eis dort ist und das Eis landeinwärts immer mächtiger wird, haben wir es hier mit einem selbstverstärkenden Prozess zu tun – einer möglichen Klimaspirale.

Eben dieser Eisverlustmechanismus spielt eine entscheidende Rolle in einer Studie, die jetzt in der Fachzeitschrift Nature erschienen ist. David Pollard und Robort DeConto simulierten die Zeitentwicklung der Antarktis für die letzten fünf Millionen Jahre. Warum ist das besonders? Den Kollegen aus Pennsylvania ist die Balance gelungen genau so viel Detail aufzulösen wie nötig, um die Entwicklung der gesamten Antarktis für einen sehr langen Zeitraum zu berechnen. Ähnlich wie bei Atmosphäre und Ozean sind uns die Grundgleichungen der Eisdynamik im Wesentlichen bekannt. Es sind die Newtonschen Gesetze, die man aus der Schule kennt: Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung. Wir sind damit in einer wesentlich besseren Situation als zum Beispiel Modellierer von ökonomischen Zusammenhängen, deren Fundamentalannahmen wesentlich weniger grundlegend verankert sind. Gleichzeitig sind die physikalischen Gleichungen zu kompliziert, um für etwas so Gewaltiges wie dem antarktischen Eisschild exakt berechnet zu werden. Wir müssen nähern und dabei eben so viel Detail mitnehmen wie nötig, um die zuvor gestellten Fragestellungen zu untersuchen.

Die Modellierer von der Pennsylvania State University in den USA konnten Ihre Simulationsergebnisse mit Daten einer anderen Studie aus der gleichen Ausgabe von Nature stützen. Tim Naish und Kollegen haben einen Sedimentbohrkern vom äußeren Rand des Ross Eisschelfes analysiert (Grafik 2). Hieraus konnten Schlüsse darüber gezogen werden, wann während der letzten fünf Millionen Jahre das entsprechende Gebiet mit Meereis, wann mit schwimmendem Landeis und wann mit auf dem Meeresgrund aufliegendem Landeis bedeckt war – Informationen, die Pollard und DeConto mit ihren Simulationen vergleichen konnten. Obwohl gewisse Abweichungen zu erkennen sind, so zeigt sich doch weitgehende Übereinstimmung – ein schönes Beispiel für das Zusammenspiel von Datenanalyse und Simulation beim Verständnis der Klimageschichte.

 

Grafik 2: Daten vom Sedimentbohrkern AND-1B (gelber Punkt) am äußeren Rand des heutigen Ross-Eisschelfs (grau schattierter Bereich) konnten zum Vergleich mit den Simulationen herangezogen werden. 

In der simulierten Zeitspanne hat die Westantarktis mehrfach praktisch ihr gesamtes Eis verloren. Zusammen mit Eisverlusten in der Ostantarktis lag der Meeresspiegelanstieg zwischen fünf und sieben Metern. Die Temperaturen waren nie höher als drei Grad über dem derzeitigen globalen Mittelwert. Einer der großen Vorteile von Simulationen gegenüber Daten ist es, dass der zugehörige Mechanismus klar analysiert werden kann, weil die Simulationen mehr Informationen bereit stellen. Pollard und DeConto konnten zeigen, dass der Grund für das Kollabieren des Eisschildes der Westantarktis der Verlust des vor gelagerten großen Ross-Eisschelfs war. Verschwand das Ross-Eisschelf, so schob sich die grounding line immer weiter landeinwärts bis zur praktischen Eisfreiheit (Grafik 3). Dieser Prozess dauerte in der Vergangenheit zwischen 1000 und 7000 Jahre.

Aus diesen langen Zeitspannen ergeben sich zumindest zwei wichtige Fragen.  Erstens, wie nachhaltig sind die derzeitigen anthropogenen Klimaveränderungen? David Archer (Chicago  University) und Victor Brovkin (damals Potsdam-Institut, jetzt Universität Hamburg) haben gezeigt, dass große Teile des anthropogenen Kohlendioxids für Jahrtausende in der Atmosphäre verbleiben und damit in dieser Zeit auch die Temperatur erhöhen (siehe zum Beispiel David Archers neues Buch „The Long Thaw: How Humans are changing the next 100 000 years of Earth’s Climate“). Es gibt heute Küstenstädte, die älter als tausend Jahre sind. Wir müssen uns fragen, ob und unter welchen Umständen wir bereit sind Hamburg, Manhattan, Shanghai und Kalkutta zu opfern.

Zweitens, bedeuten die Simulationen eine Entwarnung für das Risiko einer Katastrophe in naher Zukunft? Leider ist eine solche Aussage schwierig. Eine Temperaturerhöhung um weitere 2 oder mehr Grad in diesem Jahrhundert wäre wesentlich schneller als die Temperaturschwankungen des Pliozäns. Wir wissen nicht, wie die Eismassen auf solch rapide Änderungen reagieren. Ob das amerikanische Modell auch für schnelle Zeitskalen gilt, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden.  Die Modelldarstellung sowohl des Flusses über die groundling line als auch des Eisverlustes an der Schelfeiskante sind zwar vermutlich bei langsamen Veränderungen ausreichend, wie sich diese Dynamik aber bei schnellerem Temperaturanstieg verhält, ist ungewiss. Es sind gerade die schnellen Prozesse, die am wenigsten verstanden sind und deshalb in den Modellen möglicherweise ungenügend repräsentiert sind.

Eine der Hauptaussagen der Studie ist, dass es möglicherweise die Eisschelfe sind, die über den Verlust des Westantarktischen Eisschildes bestimmen. Die Erwärmung des Eisschilds selbst macht das Eis weicher und damit "flüssiger", doch dieser relativ langsame Prozess war in den amerikanischen Simulationen von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend war die Stabilität der Eisschelfe. Diese ist in einer sich rasch erwärmenden Welt sehr ungewiss (siehe diesen KlimaLounge Artikel) und möglicherweise eine wesentlich dringlichere Frage als bisher angenommen. So haben wir in den letzten Jahren eine ganzen Reihe von Eisschelfen rasch und kleinteilig zerbersten sehen. In wie weit dies ein Trend ist und inwieweit solche Ereignisse, die sich bisher auf relativ kleine Eisschelfe beschränken, auf das große Ross-Eisschelf übertragbar sind, ist ungewiss.

Grafik 3: Vergleich der heutigen Eisverteilung auf der Antarktis (rechts) mit der Situation vor etwa einer Millionen Jahre, als die Westantarktis nahezu eisfrei war (links, siehe auch Grafik 1 unten, der Zeitraum, der mit MIS-31 gekennzeichnet ist). Diese Veränderungen in der Antarktis hatten den Meeresspiegel damals um etwa sieben Meter im Vergleich zu heute angehoben.  

Originalartikel

Archer & Brovkin, 2008, Millennial atmospheric lifetime of anthropogenic CO2, Climatic Change, 90:283–297

Naish et al., 2009, Obliquity-paced Pliocene West Antarctic ice sheet oscillations, Nature, 458: 322-328.

Pollard & DeConto, 2009, Modelling West Antarctic ice sheet growth and ollapse through the past five million years, Nature, 458: 329-333.

 

Video eines Ausschnitts der Simulation

 

 

Neu !

Detailiertere Animationen von den Autoren selbst finden sich auf der Seite vom ESSC: Earth System Science Center.

 

 

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Anders Levermann ist Professor für Dynamik des Klimasystems im physikalischen Institut der Universität Potsdam. Er leitet den Forschungsbereich Globale Anpassungsstrategien am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Er ist unter anderem einer der leitenden Autoren im Meeresspiegelkapitel des letzten IPCC-Klimareports und beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen Ozean und Cryosphäre in Vergangenheit und Zukunft.

2 Kommentare

  1. Wenn ich Ihren Beitrag richtig gelesen habe, Herr Levermann, beziehen die von Ihnen angeführten beiden Studien ihre Daseinsberechtigung aus der altbekannten Sauerstoff-Isotopen-Rekonstruktion und aus einem einzigen Sedimentbohrkern.

    Bitte nehmen Sie es mir nicht übel, dass mir die darauf bezogenen Computer-Simulationen keine besondere Ehrfurcht vermitteln.

    [Antwort: Wie im Artikel beschrieben basieren die Simulationen auf physikalischen Grundgleichungen und haben damit eine physikalisch motivierte Berechtigung an sich. Bitte sehen Sie in Zukunft von Schimpfereien in diesem Blog ab. Auch sind Bezüge auf “altbekannte” Dinge nicht hilfreich. Die Isotopenrekonstruktion wird mit Berücksichtung Ihrer Schwächen verwendet. Eine diesbezügliche Diskussion sollte im Rahmen eines anderen Artikels geführt werden. Aus gegebenem Anlass möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass wir nicht alle Kommentare durchschalten. Soweit es unsere Zeit erlaubt, suchen wir die aus, von denen wir glauben, dass sie für andere Leser ein Gewinn darstellen. A.L.]