Bloggewitter: Wolfram Malte Fues – Reihe-Folgen

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Salon der zwei Kulturen
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Wolfram Malte Fues ist Professor für Germanistik an der Universität Basel – und ein sehr genauer Leser. Für das Bloggewitter "10 Jahre Bologna" knöpfte er sich die Erklärung vom 19. Juni 1999 noch einmal vor. Eine Lektüre mit Nachwissen. Herzlich willkommen in der Guten Stube, Malte! 

 

Reihe-Folgen

Aufzählungen sind nie unschuldig. Was zuvorderst steht, steht auch zuoberst, und in der folgenden Begriffs-Kette verbirgt sich eine Stufenleiter abnehmender Wertschätzung selbst dann, wenn Beiworte oder Nachsätze sie zu verleugnen oder gar umzukehren suchen. Die Syntax geht ihrer Interpretation nicht nur voraus, sie geht ihr auch nach, um ihr zuvor und in die Quere zu kommen. Sie entfacht den Widerstreit der Reflexions-Bestimmung immer wieder neu, nicht zuletzt denjenigen zwischen der ursprünglichen Bestimmtheit einer Absichts-Erklärung und den Positionen ihrer Geschichte. Wie nehmen sich unter diesem Gesichtspunkt die Aufzählungen der Bologna-Deklaration vom 19. Juni 1999 heute aus?

10 Jahre Bologna - Die Zukunft unserer HochschulenDie Bologna-Deklaration propagiert die Notwendigkeit eines (nach innen) vervollständigeren und (nach außen) weiter reichenden Europa, „in particular building upon and strengthening its intellectual, cultural, social and scientific and technological dimensions“. Wie real ist diese ideale Konsequenz zehn Jahre später? – An erster Stelle dessen, worauf gebaut und was fundamental gestärkt werden muss, steht die technologische Dimension, die der wissenschaftlichen ihre Arbeitsbedingungen vorgibt, während beide einander nach den Grundsätzen der ökonomischen zu begegnen haben. Es ist nämlich „der raschen Überführung neuer Erkenntnisse in marktfähige Produkte und Dienstleistungen sowie der engen Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Wirtschaft besondere Aufmerksamkeit zu schenken“ (Jahrbuch des Schweizerischen Vororts, bereits 1998). Die Verwirklichung der Bologna-Deklaration stand und steht unter diesem Zeichen. Die soziale Dimension wird durch die Degeneration des Stipendien- und die Eskalation des Gebührenwesens charakterisiert. Diese Kombination dient der Neugestaltung des Hochschulzugangs: Statt jemanden, der/die bestimmte Bildungskriterien erfüllt, in eine akademische Lehr- und Forschungsgemeinschaft aufzunehmen, soll er ihn/sie den Verfahren eines Unternehmens anheim stellen, das die ihm nützlichsten Beschäftigten ausliest. „Top-Studierenden […] müssen die Universitäten […] etwas bieten, mindestens den Erlass der Studiengebühren.“ Wer zahlt sie dann an ihrer Stelle? „Die Studierenden, von denen wir annehmen, dass sie zwar ganz gut zur Universität passen würden, für die wir aber kein Geld aufwenden wollen.“ (Prof. Alexander Zehnder, Präsident des ETH-Rats, am 9. Dezember 2004) Was wird unter diesen Umständen aus der kulturellen Dimension? Ein Ort, um „Nutzen und Gefährdungen der Forschung so [zu] thematisieren, dass neue Technologien ihre Verankerung in den Vorstellungen von einem lebenswerten Raum erhalten und bewahren“ (Universität Basel, Rektorat, bereits 1995). Welche Intellektualität ist demnach in Bologna erklärt worden, und welche hat sich in der akademischen Praxis fest- und durchgesetzt?

Wolfram Malte FuesDie Bologna-Deklaration betrachtet „the creation of the European area of higher education as a key way to promote citizens’ mobility and employability”. Dieser Weg zu „citizens’ mobility“ wird gangbar, wenn europaweit die Bachelor-Abschlüsse aller akkreditierten Bildungs-Einrichtungen umstands- und bedingungslos anerkannt werden; wenn europaweit den Studierenden Reise- und Aufenthalts-Stipendien in ausreichender Anzahl und Höhe zur Verfügung stehen; wenn der damit erzeugten Mobilität die ihr angemessenen Studienplätze entsprechen; wenn jede/r Studierende mit Bachelor-Abschluss europaweit einen Platz für das Master-Studium ohne Vorbedingungen und Einschränkungen findet, denn: „Access to the second cycle shall require successful completion of first cycle studies.“ Dann gilt der Umkehr-Schluss, dass, wer den Bachelor erfolgreich absolviert, Anrecht auf einen Studienplatz für den Master hat. Ebenso sehr soll aber auch gelten: „The degree awarded after the first cycle shall also be relevant to the European labour market as an appropriate level of qualification.“ Sind die obigen Bedingungen nicht erfüllt – und sie sind nicht erfüllt -, tauschen „mobility“ und „employability“ die Plätze und damit den Rang, so dass das dreijährige Bachelor-Studium immer mehr „relevant to the European labour market“ wird, immer weniger jedoch zum „appropriate level of qualification“ für das Master-Studium.

Die Bologna-Deklaration geht davon aus, „that Universities’ independence and autonomy ensure that higher education and research systems continuously adapt to changing needs, society’s demands and advances in scientific knowledge”. Autonomie-Modelle, wie sie in der Schweiz beispielsweise Basel, Zürich und Genf kennen, machen die Universitäten augenscheinlich unabhängiger von den staatlichen Instanzen und ihrer Politik. Sie werden zu eigenen Rechtspersönlichkeiten, die Verträge mit Dritten abschließen können, und kontrollieren ihre Organisation und ihre Finanzen weitestgehend selber. Dem entspricht in allen drei Beispielen eine aus Rektorat und Verwaltungs- oder Universitätsrat in verschiedener Weise zusammengesetzte Leitungsinstanz, die letztendlich die Entwicklungsschwerpunkte und damit die Zukunft der Universität  sowie die Verteilung der dafür vorgesehenen Geldmittel beschließt. Sie entscheidet in gleicher Weise über das Portfolio der Universität, kann also die Verkleinerung oder die Vergrößerung, die Gründung oder die Aufhebung von Seminaren und Instituten beschließen. In diesen Räten dominieren die VertreterInnen der Banken- und der Unternehmenswelt; VertreterInnen studentischer oder gewerkschaftlicher oder anderer gesellschaftlicher Organisationen fehlen, von solchen der Wissenschaftsforschung oder der Wissenssoziologie ganz zu schweigen. Die Abhängigkeit der Universität von der Politik und den in ihr und durch sie bestehenden Machtverhältnissen wird also durch dieses Autonomie-Modell nicht geringer, nur versteckter und damit undeutlicher, der Maxime der Medien-Gesellschaft folgend, dass es nicht gibt, was man nicht sieht. Die Forschung und Lehre steuernde Definition der „changing needs“ aufgrund von vorgängig interpretierten „society’s demands“ vollzieht sich im exklusiv kleinen Kreis, und die „advances in scientific knowledge“ haben ihr zu gehorchen.

Erste und letzte Absicht der Bologna-Deklaration war und ist „a Europe of knowledge“. Welches Wissen welcher Wissenschaft? Darüber sollten wir anlässlich ihres zehnten Geburtstags neu, gründlich und so folgenreich wie nur möglich nachdenken. 

 


Linktipp:

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Veröffentlicht von

Carsten Könneker Zu meiner Person: Ich habe Physik (Diplom 1998) sowie parallel Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte (Master of Arts 1997) studiert – und erinnere mich noch lebhaft, wie sich Übungen in Elektrodynamik oder Hauptseminare über Literaturtheorie anfühlen. Das spannendste interdisziplinäre Projekt, das ich initiiert und mit meinen Kollegen von Spektrum der Wissenschaft aus der Taufe gehoben habe, sind die SciLogs, auf deren Seiten Sie gerade unterwegs sind.

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