Wissenschaftskommunikation: Gutes Formulieren – Tipps und Tricks

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Serie Wissenschaftskommunikation – Schreibtipps vom Chefredakteur, Teil 6

 

Überprüfen Sie sich einmal selbst: Wann lesen Sie einen Beitrag in der Zeitung oder im Internet? Wenn das Thema sie berührt. Oder wenn Sie ein Faible für eine bestimmte mediale Form haben, etwa besonderes Vergnügen an Glossen oder Reportagen finden. Womöglich halten Sie in "Ihren" Medien auch gezielt Ausschau nach Beiträgen bestimmter Autoren. (Im Internet können Sie sogar regelrecht "Personen abonnieren", etwa bei Twitter oder per RSS-Feed bei Blogs.) Vielleicht scannen Sie Zeitungen und Magazine aber auch bisweilen, ohne gezielt nach bestimmten Themen Ausschau zu halten – und wenn ein Beitrag gut geschrieben und attraktiv aufgemacht daher kommt, "schalten Sie ein".

Im Idealfall passt alles zusammen: Interviews finden Sie ohnehin reizvoll; Astronomie fasziniert Sie seit Ihrer Kindheit; das letzte Sachbuch der interviewten Physikerin haben Sie regelrecht verschlungen; Überschrift und Einleitung des Beitrags kündigen eine neue Idee über das Wesen der Dunklen Materie an – in einer Weise, als seien die Texte extra für Sie persönlich geschrieben worden.

Dieses Beispiel ist natürlich arg konstruiert. In den meisten Fällen stolpern Sie vermutlich über das Thema – und bleiben hängen, wenn es textlich und bildlich gut umgesetzt wurde. Eventuell haben Sie sich aber auch schon dabei erwischt, einen Artikel zu lesen, obwohl er Ihnen inhaltlich zunächst nichts sagte; obwohl Sie auf Autornamen grundsätzlich nicht achten; obwohl Sie normalerweise keinen Gefallen an – sagen wir mal – seitenlangen Porträts haben. Dann erlagen Sie vermutlich dem Charme von Bild und Text!

Gutes Formulieren hat vor allem ein Ziel: Aufmerksamkeit zu wecken – und aufrechtzuerhalten. Je nach Redaktion (und manchmal entlang versteckter Frontverläufe quer durch eine Redaktion hindurch) kann es in einzelnen Punkten verschiedene Auffassungen darüber geben, was gutes Formulieren bedeutet. Einige Kollegen bevorzugen etwa, die Namen amerikanischer Institutionen einzudeutschen ("Wie Forscher der Universität von Kalifornien in San Francisco jetzt feststellten, …"). Andere scheuen sich nicht, auch in einem deutschsprachigen Beitrag über "Wissenschaftler der University of California in San Francisco" zu berichten. Manche rekurrieren lieber auf "die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts"; andere auf "die 1980er Jahre". Solche Geschmacksfragen werden durch redaktionelle Konvention geregelt, die von Medium zu Medium verschieden ausfallen können. Um sie geht es hier nicht. Denn darüber hinaus gibt es eine Handvoll Regeln für gutes Formulieren, die sicherlich die meisten Kollegen so unterschreiben würden. Sie lauten:

 

  • Präzise formulieren!
  • Schlank formulieren! Kurze Wörter verwenden; Sätze übersichtlich halten; Schachtelsätze mit vielen Kommata vermeiden!
  • Konkret, anschaulich, lebendig formulieren! Nominalstil vermeiden!
  • Aktiv formulieren! Passiv- und unpersönliche „man“-Konstruktionen vermeiden!
  • Abwechslungsreich formulieren! Wortwiederholungen vermeiden – allerdings bei Substantiven nicht um den Preis sprachlicher Verrenkung!

In der Wissenschaftskommunikation ebenfalls relevant:

  • Abstrakte Aussagen durch anschauliche, alltagsnahe Beispiele verdeutlichen!

Zudem gilt für Beiträge, die sich an ein so genanntes breites Publikum richten:

  • Fachjargon vermeiden! In jedem Fall aber Fachtermini bei der ersten Nennung einführen und erläutern!*


Es gibt eine gut gepflegte Mär, die da lautet: Schreiben ist einem in die Wiege gelegt, man kann es oder eben nicht.
Das ist falsch. Richtig ist: Talent schadet nicht. Doch gutes Formulieren ist ein Handwerk, das man ähnlich erlernen kann wie Fahrradschläuche Flicken. Schreiben und Redigieren (das Bearbeiten der Texte anderer vor der Publikation) lernt man vor allem durch Eines: üben, üben, üben – mit regelmäßigem kritischen Feedback von einem, der es bereits besser kann. Als ich vor bald 10 Jahren meine ersten Gehversuche im Wissenschaftsjournalismus wagte, nahm mich meine Kollegin Inge Hoefer aus der Spektrum-Redaktion an die Hand, las meine Texte gegen – und mir die Leviten.

Ein Handwerk zu erlernen ist mühsam. Das gilt auch für gute Wissenschaftskommunikation. Aber der Aufwand lohnt sich: Wer sein Bewusstsein für Zielgruppen, kommunikative Wirkungen und Haltungen sowie mediale Formen schärft, den Küchenzuruf stets im Hinterkopf hat und sein Formulieren kontinuierlich weiter entwickelt, der wird seine kommunikativen Ziele bei Lesern, Zuhörern, Zuschauern und Nutzern immer erfolgreicher erreichen.

Soweit Vorrede und Theorie, jetzt ran an Praxis! Ich möchte Ihnen die genannten Regeln für gutes Formulieren anhand konkreter Beispiele aus meinem Redaktionsalltag ein wenig verdeutlichen. Dazu gebe ich im Folgenden einige Textpassagen wieder, wie sie genau so auf meinem Schreibtisch landeten. Anschließend erläutere ich jeweils eine oder mehrere Möglichkeiten, wie man diese Texte verbessern kann.

Original:

Im Jahr 2003 erhielt der Biologe den akademischen Grad als Doktor der Naturwissenschaften und arbeitet seither in der XYZ-Forschungsgruppe der Universität ABC.

Besser, weil schlanker formuliert:

Seit seiner Promotion 2003 forscht der Biologe an der Universität ABC.

(Die nähere Bezeichnung der Forschungsgruppe dürfte allenfalls für eine kleine Gruppe Eingeweihter eine verwertbare Information darstellen, daher verzichtet man lieber darauf. Weniger ist meist mehr!)

Original:

Diese Kinder können keine gute Phonemrepräsentation in ihrem Gehirn ausbilden.

Mal abgesehen davon, dass es auf jeden Fall "in ihren Gehirnen" heißen müsste (präzise formulieren: mehrere Kinder haben nicht ein Gehirn), wäre die folgende Formulierung noch genauer:

Bei diesen Kindern ist die neuronale Repräsentation von Phonemen beeinträchtigt.

Die nicht-aktive Formulierung ist hier im Sinne der Präzision ausnahmsweise vorzuziehen, schließlich können Menschen neuronale Repräsentationen nicht willentlich "ausbilden". Außerdem empfiehlt es sich, die schwer verdauliche Wortwurst "Phonemrepräsentation" in Portionen zu teilen (Kurze Wörter sind meist besser!).

Einen besonderen Gräuel in unzähligen Manuskripten gerade von Wissenschaftlern stellen Bandwurmsätze mit drei, vier und mehr Kommata dar. Manchmal warten sie an ihrem bitteren Ende mit einer besonderen Überraschung auf: einem nachträglich vervollständigten Teilsatz. Solchen Ungetümen rückt jeder Redakteur sofort mit gezücktem Stift zu Leibe, dann ziehen sie ihre schuppigen Schwänze auch schnell ein. Zwei Beispiele dazu:

Original:

Die Zustände selbst lassen sich nicht direkt beobachten, aber das Verhalten der anderen kann auf der Basis einer Reihe von Kausalregeln, die Wahrnehmungen, Wünsche und Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen zusammenführen, vorhergesagt werden.

"Schwanz einziehen" bedeutet hier zunächst:

Die Zustände selbst lassen sich nicht direkt beobachten, aber das Verhalten der anderen kann auf der Basis einer Reihe von Kausalregeln vorhergesagt werden, die Wahrnehmungen, Wünsche und Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen zusammenführen.

Nettogewinn: ein Komma weniger. Der verbleibende Satz ist aber immer noch sehr unübersichtlich. Ein weiteres Komma würde ich daher durch einen Punkt nach "beobachten" eliminieren. Die bewährte Faustregel, die dahinter steht, lautet: "Ein Gedanke, ein Satz – zwei Gedanken, zwei Sätze!":

Die Zustände selbst lassen sich nicht direkt beobachten. Aber das Verhalten der anderen kann auf der Basis einer Reihe von Kausalregeln vorhergesagt werden, die Wahrnehmungen, Wünsche und Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen zusammenführen.

In beiden neu entstandenen Sätzen würde ich noch das Passiv durch ein Aktiv ersetzen. Dadurch erführen die Leser, wer denn da beobachtet bzw. das Verhalten vorhersagen kann: ein Forscher? Ein Computer? Jedermann? Hier würde der Redakteur beim Autor nachfragen und ihn bitten, mehr Information bereitzustellen. Ich belasse es an dieser Stelle jedoch dabei und bringe stattdessen das zweite Beispiel für die Schwanz-rein-Methode:

Original:

Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer ‘lesen’, und wir sollten aufhören, Begriffe zu verwenden, die bereits eine gewisse Voreingenommenheit in Bezug auf die Art und Weise, wie wir über einen solchen Prozess denken, transportieren.

Hier heißt das ekelige Schwänzchen "transportieren". Wird es eingezogen, ist der Satz bereits ein wenig zugänglicher:

Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer ‘lesen’, und wir sollten aufhören, Begriffe zu verwenden, die bereits eine gewisse Voreingenommenheit in Bezug auf die Art und Weise transportieren, wie wir über einen solchen Prozess denken.

Und noch einmal den Stift angesetzt (Zwei Gedanken, zwei Sätze!):

Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer ‘lesen’. Daher sollten wir aufhören, Begriffe zu verwenden, die bereits eine gewisse Voreingenommenheit in Bezug auf die Art und Weise transportieren, wie wir über einen solchen Prozess denken.

Der neu entstandene zweite Satz klingt immer noch nicht gut, oder? Vor allem aber ist er unpräzise, denn es geht nicht um mehrere Begriffe, sondern nur um einen, das "Gedankenlesen". Besser ist deshalb:

Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer ‘lesen’. Daher sollten wir aufhören, diesen Begriff zu verwenden, der bereits eine gewisse Voreingenommenheit in Bezug auf die Art und Weise transportiert, wie wir über einen solchen Prozess denken.

Zur weiteren Feinjustierung würde ich den präziseren Begriff "Metapher" ins Spiel bringen – und außerdem ein weiteres Komma einsparen (Zwei Gedanken, zwei Sätze!):

Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer ‘lesen’. Daher sollten wir aufhören, diese Metapher zu verwenden. Sie transportiert bereits eine gewisse Voreingenommenheit in Bezug auf die Art und Weise, wie wir über einen solchen Prozess denken.

Wie geht es Ihnen? Der neu entstandene dritte Satz flutscht noch nicht richtig, meine ich. Die „Voreingenommenheit“ zum Beispiel ist ein Reizwort, das jedem Redakteur die Pickel ins Gesicht treibt. Der Clou: Wenn man zuvor das Wörtchen "irreführend" einfügt, kann man den letzten Satz komplett streichen (kurz formulieren!), ohne auf Information oder Meinung verzichten zu müssen:

Ich glaube nicht, dass wir die Gedanken anderer ‘lesen’. Daher sollten wir aufhören, diese irreführende Metapher zu verwenden.

Zur Abwechslung mal etwas weniger Komplexes:

Original:

Albert Einstein zog die Abkehr von Deutschland in Erwägung.

Bereits einen Tick besser, weil die Nominalisierung "in Erwägung ziehen" aufgelöst wird: "Albert Einstein erwog die Abkehr von Deutschland."
Noch weitaus besser, weil lebendiger Verbalstil:

Albert Einstein erwog, Deutschland zu verlassen.

Je nach Medium noch besser, weil bildhafter:

Albert Einstein erwog, Deutschland den Rücken zu kehren.

Ein weiteres Beispiel dafür, wie Sie eine gestelzt klingende Nominalkonstruktion vermeiden können:

Original:

Daraufhin wurde die erneute Inaugenscheinnahme des Satelliten durch die Wissenschaftler notwendig.

Als Erstes sollte man die "Inaugenscheinnahme" in Augenschein nehmen – und keinesfalls beide Augen zudrücken ob dieses grausigen Wortmonsters:

Daraufhin wurde es notwendig, den Satelliten erneut durch die Wissenschaftler in Augenschein nehmen zu lassen.

Das war aber nur ein halber Sprung. Vollends auf die gute Seite gelangen Sie erst, wenn Sie aktiv formulieren:

Daraufhin mussten die Wissenschaftler den Satelliten erneut in Augenschein nehmen.

Noch einen Tick besser, weil kürzer:

Daraufhin nahmen die Wissenschaftler den Satelliten erneut in Augenschein.

Denn sie taten es ja wirklich; dass sie es mussten, geht aus dem Kontext hervor. Eventuell könnte man noch das "in Augenschein nehmen" durch schlankere Alternativen wie "untersuchen", "inspizieren", "prüfen" o.ä. ersetzen. Ich mache aber lieber mit einem neuen Beispiel weiter:

Original:

Die Studie, in der insgesamt 43 Probanden getestet wurden, darunter 31 Frauen, ergab, obwohl die Forscher das Gegenteil erwartet hatten, keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern. 

Das ist erneut ein starkes Stück! Ein wunderbares Beispiel für eingeschobene Nebensätze, die als Zutaten guter Kommunikation so sicher die Nachfrage beflügeln wie Salz im Schokopudding. Wer den Büchner-Preis gewinnen will, dem sei zu eingeschobenen Teilsätzen geraten. Im Journalismus und in der Wissenschaftskommunikation haben sie nichts verloren. Bevor ich diesen unnötig langen Schachtelsatz in seine Einzelteile zerlege und neu zusammenschraube, noch einmal eine kleine Portion Theorie:

Während wir lesen, stellen wir unentwegt Hypothesen darüber an, wie der jeweils aktuelle Satz grammatikalisch weitergehen könnte. Linguisten nennen dies Parsing: die antizipierende Analyse von Satzstrukturen. Für gewöhnlich läuft sie unbewusst ab. Schachtelsätze mit vielen Kommata und komplexen Hierarchien stellen das Gehirn vor weit höhere Anforderungen als Sätze mit einfacher Struktur. Widersprechen sich unsere anfängliche Idee von einem Satz und seine tatsächliche Syntax, müssen wir neu ansetzen zu lesen. Der Fluss ist unterbrochen, die Aufmerksamkeit futsch. Wiederholt sich der Effekt, steigt der Frustpegel – und wir bleiben allenfalls dann noch beim fraglichen Text, wenn es sich um eine absolute Pflichtlektüre handelt. Ansonsten haben der Beitrag und sein Inhalt, hat der Autor seine Chance vertan. Will heißen: Wer ewig lange Sätze baut, tut sein Bestes, die Leser zu vergraulen. Es sei denn, er schreibt Romane. Dann kann man zumindest darüber streiten.

Wolf Schneider und Paul-Josef Raue fordern in ihrem Handbuch des Journalismus, dass kein Hauptsatz, kein Subjekt und Prädikat für mehr als sechs Wörter oder zwölf Silben durch Einschub unterbrochen werden dürfe. Dies entspreche beim durchschnittlichen Leser einer Aufnahmezeit von drei Sekunden – und damit genau der Spanne, die unser Kurzzeitgedächtnis im Mittel bewältige.**

Doch zurück zu unserem aktuellen Schachtelsatz. Mehr Übersicht erhält das Ganze schon einmal so:

Für die Studie wurden insgesamt 43 Probanden getestet, darunter 31 Frauen. Entgegen der Erwartung der Forscher ergaben sich zwischen den Geschlechtern keine Unterschiede.

Der neu entstandene erste Satz lässt sich weiter verbessern, indem man die Passiv- durch eine Aktiv-Konstruktion ersetzt:

An der Studie nahmen insgesamt 43 Probanden teil, darunter 31 Frauen.

Darüber hinaus geht es noch schlanker, denn das "insgesamt" ist inhaltlich unnötig, ein typisches Füllwort:

An der Studie nahmen 43 Probanden teil, darunter 31 Frauen.

Zuletzt würde ich die "Probanden" noch durch "Personen" ersetzen, da Teilnehmer an einer Studie naturgemäß Probanden sind und die Spezifizierung hier etwas von einem "weißen Schimmel" hat. Also:

An der Studie nahmen 43 Personen teil, darunter 31 Frauen.

Wenn der Kontext nicht nahe legt, die Anzahl der Frauen hervorzuheben, geht es so noch schlanker:

An der Studie nahmen 31 Frauen und 12 Männer teil.

Auch der im ersten Schritt neu entstandene zweite Satz ist noch verbesserungswürdig. Etwa indem man bildhafter, etwas dramatischer formuliert:

Zur Überraschung der Forscher ergaben sich keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern.

Oder noch flüssiger, aktiver:

Zu ihrer Überraschung stellten die Forscher keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern fest.

(In vielen Manuskripten von Wissenschaftlern würde an dieser Stelle übrigens die schlimme Formulierung "fanden die Forscher …" auftauchen. Derlei Anglizismen stehen ebenfalls auf der roten Liste!)

Im vorletzten Beispiel wollte es der Autor besonders gut machen, nämlich abwechslungsreich formulieren und Wortwiederholungen (in diesem Fall "Gehirn") umschiffen. Doch das Beispiel zeigt: Während Texte fast immer gewinnen, wenn wir bei Adjektiven und Verben variantenreich formulieren, können wir bei Substantiven schnell über das Ziel hinausschießen.

Original:

Unsere Denkzentrale ist in zwei Hemisphären unterteilt, die durch den Corpus callosum miteinander verbunden sind. Das Oberstübchen unterteilt sich in Großhirn, Kleinhirn, Zwischenhirn und Hirnstamm.

Ein Gehirn&Geist-Redakteur, der diese Sätze liest, wird viel darauf verwetten, dass im nächsten noch die unvermeidlichen "grauen Zellen" ihren Auftritt bekommen. Das Problem liegt auf der Hand: Hier möchte jemand den Aufbau des Gehirns beschreiben – und muss in jedem Satz eben diese Vokabel benutzen. Um seine Leser nicht mit Wortwiederholungen zu nerven, rattert er die einschlägigen Umschreibungen runter. Doch der Ehrenpreis für mehr Abwechslung ist hier zu teuer erkauft; der Text wirkt verkrampft, ja nahezu lächerlich. Vor allem die Liaison zwischen "Oberstübchen" und "Corpus callosum" ist wie einem Fontane-Roman entnommen: Was da zusammenkommt, gehört nicht zusammen, entstammt getrennten Welten.

Merke: Eine "Orange" durch eine "Apfelsine" zu ersetzen ist immer möglich,
aber schon der "rote Lebenssaft" als Synonym für "Blut" liegt jenseits der Grenze guten Geschmacks. Während man im Fall von Substantiven sachte bei der Vermeidung von Wortwiederholungen zu Werk gehen sollte, ist bei Adjektiven und Verben meist problemlos Vielfalt herstellbar. Von daher heben wir auch im vorliegenden Text die Wortdopplung "unterteilt" noch schnell auf:

Das Gehirn ist in zwei Hemisphären unterteilt, die durch den Balken (Corpus callosum) miteinander verbunden sind. Es gliedert sich in Großhirn, Kleinhirn, Zwischenhirn und Hirnstamm.

Auch wenn Wörter wie "Oberstübchen" und "Denkzentrale" allergische Reaktionen bei vielen erfahrenen Textern auslösen, heißt das nicht, dass man nicht auch mal ein Wort neu schöpfen darf. Dies zeigt das letzte Beispiel:

Original:

Ein Team um den Psychologen XYZ hat jetzt neueste Errungenschaften auf dem Gebiet der Entscheidungsfindung zu verzeichnen, Errungenschaften, die den Befürwortern des Determinismus neuen Nährboden liefern. Die Forscher untersuchten …

Besser, weil schnörkellos und ohne die beiden Wortwiederholungen ("neueste"/"neuen"; "Errungenschaften"):

Ein Team um den Psychologen XYZ liefert den Anhängern des Determinismus jetzt neue Argumente. Die Entscheidungsforscher untersuchten …

Aus den "Forschern" im Original, die "auf dem Gebiet der Entscheidungsfindung" tätig sind, wurden "Entscheidungsforscher", ein durchaus handhabbares Wort, auch wenn es zugegeben recht lang ist. Das Beispiel verdeutlicht, dass man auch in der Wissenschaftskommunikation kreativ mit Sprache umgehen kann. Es geht nicht darum, Ketten dröger Aussagesätze mit ausschließlich simplen Wörtern zu produzieren! Kreativität zahlt sich insbesondere bei den Kleintexten aus: Überschriften, Vorspanne, Bildunterschriften usw. Ihnen widme ich in den restlichen Beiträgen der Serie "Wissenschaftskommunikation" meine ganze Aufmerksamkeit.


 
* Für die Beiträge eines Fachjournals wie Der Gastroenterologe gilt diese Regel nicht – ebenso wenig für einen spezialisierten Blog, der sich an eine eng umrissene Nah-Öffentlichkeit von "Eingeweihten" richtet. In beiden Fällen ist die Zielgruppe klein oder spitz, wie es so schön heißt. Man bleibt unter sich.

** Vgl. Wolf Schneider, Paul Josef Raue: Das neue Handbuch des Journalismus. Vollst. überarbeitete u. erw. Neuausgabe. Reinbek bei Hamburg: 2003, S.198. Die beiden erfahrenen Journalisten und Dozenten kommen zu dem Schluss: "Wer Sätze bauen will, die zugleich eingängig und kraftvoll sind, für den sind Hauptsätze die erste Wahl. Nebensätze werden angehängt. Was im Satz zusammengehört – der Hauptsatz, Artikel und Substantiv, Subjekt und Prädikat –, das lässt der Schreiber auch zusammen; wo die Grammatik ihn zum Zerreißen zwingt wie bei mehrteiligen Verben, hat er nach spätestens sechs Wörtern oder zwölf Silben die Verbindung wiederherzustellen." (Ebd., S.200.)

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Veröffentlicht von

Carsten Könneker Zu meiner Person: Ich habe Physik (Diplom 1998) sowie parallel Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte (Master of Arts 1997) studiert – und erinnere mich noch lebhaft, wie sich Übungen in Elektrodynamik oder Hauptseminare über Literaturtheorie anfühlen. Das spannendste interdisziplinäre Projekt, das ich initiiert und mit meinen Kollegen von Spektrum der Wissenschaft aus der Taufe gehoben habe, sind die SciLogs, auf deren Seiten Sie gerade unterwegs sind.

6 Kommentare

  1. Sehr gute Hinweise …

    … für die Kommunikation, nicht nur der Wissenschaft. Ich werde die Ratschläge beherzigen.

    Zudem habe ich gelernt, dass das Substantiv “Gräuel” männlichen Geschlechts ist; ich hatte es immer fälschlich für sächlich gehalten. Nun ja, Deutsch ist nicht meine Muttersprache, aber dennoch – dieses Wort ist gebräuchlich genug, seltsam, dass ich das nicht wusste.

    Was der erfolgreichen Wissenschaftskommunikation wirklich im Weg steht, ist die oben erwähnte Verwendung überflüssigen Fachjargon. Sicher geht es oft nicht anders. Das ist in meinem Berufsfeld auch so.

    Manchmal aber scheint der Jargon nur eine etwas dürftige wissenschaftliche Decke oder gar lückenhafte Argumentation zu maskieren, beispielsweise dann, wenn ideologisch motivierte Thesen in wissenschaftlicher Verkleidung daherkommen. Dies ist – da Absicht – wirklich unverzeihlich.

    Allerdings nutze ich ein beim Lesen eines Textes unwillkürlich aufkeimendes “Was will der eigentlich?” Gefühl mittlerweile als zuverlässigen Indikator für Dünnbrettbohrerei oder wackelige Argumentation. Verbale Nebelkerzen sind so gesehen sogar nützlich.

  2. @Michael Khan

    Lieber Herr Khan,
    danke für Ihren Kommentar. Ich freue mich, dass selbst ein so versierter Wissenschaftskommunikator wie Sie noch Anregungen in meiner Serie findet!

    Fachjargon ist per se nichts Schlechtes. Es kommt eben auf den Kontext an, vor allem die Zielgruppe und das Medium, in den der Fachjargon einfließt.

    Sie haben recht mit Ihrem Hinweis, dass Fachjargon nicht nur ein Hemmnis für gute Kommunikation darstellen kann, sondern mitunter auch gezielt als “Maske”, zur Blendung eingesetzt wird. Das erleben wir in der Politik (etwa der Finanz- und Wirtschaftspolitik) allenthalben. Und auch Wissenschaftler – insbesondere Geisteswissenschaftler – reden gerne mal über die Köpfe und Fähigkeiten ihres Publikums hinweg. Von Ärzten in Sprechstunden ganz zu schweigen. Das ist ein großes Manko – und dem Ansehen der Wissenschaft abträglich. Es wäre schön, wenn auch so ein Projekt wie die SciLogs hier durch (inhaltlich wie sprachlich) gute Beiträge gegensteuern könnten!

  3. Die “Schwanz-rein-Methode” ist nicht nur in der Wissenschaftskommunikation nützlicch.

    Sorry, der war platt, aber irgendwie konnt ich mir den nicht verkneifen. Man möge mir verzeihen.
    Ich muss ehrlich zugeben, dass ich mich mit den Ideen für einen Gonzo-Wissenschaftsjournalismus irgendwie verschluckt habe. Das war eine Nummer zu hoch. Aber ich arbeite dran.

  4. Gutes Formulieren – und der Inhalt?

    Gutes Formulieren ist auch relativ. Wenn ich ein Patent/Gebrauchsmuster (vor)formulieren muss, gilt eine „ganz andere Sprache“ – und hier ist manchmal ein Wort patententscheidend.
    In einer persönlichen Kommunikation zum Thema muss ich auch nicht jedes Wort „auf die Goldwaage legen“. Aber im Endergebnis müssen Theorie und Praxis zusammen passen.
    Ich möchte ein Beispiel aus Dr. Blumes Fachgebiet einbinden, dem sich Wissenschaftler angenommen haben.
    FS [ZB] und Presse [BS] berichteten über die Sintflut: Sie fand am Bosporus statt – obwohl eigentlich alle Welt durch die Überlieferungen weiß, dass sie weltweit wirkte. Gut, der Dammbruch am Bosporus fand vor um 6.500 Jahren v. Chr. statt. Das Wasser floss nach unten und hob den Wasserspiegel des Schwarzen Meeres, unter dem dann Dörfer verschwanden. Nachdem man sie „ausgegraben“ hatte, erklärte man den Vorgang zur Sintflut [PR][Ba].
    Wie aber die Arche, wenn das Wasser nach unten floss, 300 km weiter über die Berge auf den Ararat kam?
    Wie sagte der Forscher Joe Kirshving [WW]: „Stimmt die Theorie nicht mit den Daten überein, dann ändere die Theorie!“ Viel zu oft machen wir es noch umgekehrt [DI].
    Und so (kann, sollte) darf man also gutes Formulieren nicht (ganz) losgelöst vom Inhalt betrachten.

    [ZB] Behrend, J.-P.: Die Arche Noah und das Rätsel der Sintflut. ZDF Sendung vom 04.06.2006
    http://dokumentation.zdf.de/…939810,00.html?dr=1
    [BS] Bojanowski, A.: Schwarzer Schlamm. Welt.de vom 05.06.2005
    http://www.welt.de/…28707/Schwarzer_Schlamm.html
    [PR] Pittman, W.; Ryan, W.: Sintflut. Ein Rätzel wird entschlüsselt. Lübbe, Bergisch-Gladbach 1999
    [Ba] Ballard, R. D.: Die Sintflut. National Geographic, Mai 2001, S. 102-118
    [WW] Pro7: Welt der Wunder. Sendung am 27.07.2003
    [DI] Deistung, K.: Irrtümer der Wissenschaft. Magazin 2000plus, Nr. 247, 12/2007, S. 66 – 82

  5. Überforderte Gehirne

    Schachtelsätze mit vielen Kommata und komplexen Hierarchien stellen das Gehirn vor weit höhere Anforderungen als Sätze mit einfacher Struktur.

    Da bin ich ja beruhigt, dass sie nur mein Gehirn, nicht aber mich vor höhere Anforderungen stellen. 🙂

    Wieder mal ein guter Beitrag; dankeschön.

  6. Ich denke Neologismen sind absolut ok und auch oft einfach treffender, weil nunmal manchmal erforderlich um eigene Gedanken auszudrücken. Ausserdem ist Sprache ein dynamisches Konstrukt und so wie sich Menschen und die Welt verändern, passt sich auch die Sprache an. Ich bin jedenfalls ein großer Fan von Wortneuschöpfungen.

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