Indien – die kommende Wirtschaftsmacht?

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Noch vor wenigen Jahren galt Indien als das Paradebeispiel eines Entwicklungslandes. Hohe Armutsrate, arme Bevölkerungsgruppen, die von der Landwirtschaft leben und ein geringes Pro-Kopf Einkommen prägten den Subkontinent. Doch seit einigen Jahren erlebt das Land einen raschen ökonomischen Aufschwung, angefeuert durch die Erfolge der IT-Industrie und den hohen Wachstumsraten. Das Land steht vor einem tiefgreifenden Wandel. Doch immer noch drücken gewaltige Probleme in Form von hohen Armutsraten und Umweltzerstörungen.

Wirtschaftsliberalisierung seit 1991

Als die indische Regierung 1991 unter Premierminister Namasimha Rao tiefgreifende wirtschaftliche Reformen ankündigte, befand sich das Land in keiner guten Situation. Der wirtschaftspolitische Weg, der plan- und marktwirtschaftliche Elemente vereinen sollte, war gescheitert. Das Land wies ein enormes Budgetdefizit auf und die wirtschaftliche Produktion war vom Weltmarkt abgekoppelt und nicht konkurrenzfähig. Das Reformpaket der Regierung öffnete und liberalisierte die Bereiche Industrie, Handel und Finanzmärkte. Ein Erfolg dieser Maßnahmen setzte bereits kurz nach der Verabschiedung ein. Das indische BIP wuchs in den Folgejahren um 5,8% (1998-2001) sowie um 7,7% (2002-2007) . Damit wies Indien das zweithöchste Wachstum aller asiatischer Staaten in dieser Zeit auf und wurde nur von China  übertroffen (vgl. WAMSER 2008: 5f.).

 

 

 Blick auf Old Delhi

Es ist Indien durch die wirtschaftliche Öffnung gelungen sich in die globale Wirtschaft zu integrieren. Dies belegt auch das rasante Wachstum sowohl der Im- und Exporte sowie der Ausländischen Direktinvestitionen. Das Land entwickelt sich immer stärker hin zu einer industrie- und dienstleistungsorientierten Volkswirtschaft. Während der Anteil des sekundären und tertiären Sektors an der Zusammensetzung der Volkswirtschaft stetig steigt, sinkt der des primären Sektors kontinuierlich (vgl. ZINGEL 2004: 328ff.). Erfolgreiche Branchen, die in den vergangenen Jahren internationale Konkurrenzfähigkeit erlangten, sind die Automobilindustrie, die Informations- und Telekommunikation sowie die Filmindustrie (vgl. STANG 2002: 315).

Urbane Armut

Aufgrund des wirtschaftlichen Erfolges entstehen jedoch neue Probleme für das bevölkerungsreiche Land. Besonders die großen Agglomerationen Delhi, Mumbai, Hyderabad, Bangalore, Chennai und Kolkata profitieren stark vom ökonomischen Aufschwung. Diese Kerngebiete ziehen in hohem Maße Menschen aus dem überregionalen Umland an. Eine regelrechte Landflucht hat in den vergangenen Jahren eingesetzt. Delhi und Mumbai weisen mittlerweile mehr als 20 Millionen Bewohner auf; Kolkata ca. 16 Millionen, Chennai und Bangalore ca. 8 Millionen (vgl. CITYPOPULATION o.J.). WAMSER (2008: 8) fasst diese Entwicklung wie folgt zusammen: „Die Zunahme des Wirtschaftswachstums geht mit einer Verfestigung der Disparitäten einher.“ Als Erklärung hierfür dient das Verhalten ausländischer Investoren, die gezielt in den Agglomerationen der Kerngebiete tätig werden, damit an den Agglomerationsvorteilen partizipieren werden kann. Investitionen in die Peripherie bleiben bisher aus, da die Entwicklung der Infrastrukturen bisher sehr schwach ist.

Unter den Kernregionen, verzeichnet die Hauptstadt Delhi ein besonders dynamisches Wachstum. Vor wenigen Jahren wurde sie noch als "reine Verwaltungsstadt" charakterisiert (vgl. WAMSER 2008:8). Mittlerweile entstand ein Industriegürtel mit Standorten wie Gurgaon, Noida und Faridabad. Ich konnte Gurgaon im letzten Jahr im Rahmen eines Praktikums besuchen und muss eingestehen, dass dieser Vorort wie die größte Baustelle der Welt wirkte. Vor Ort wurde mir erklärt, dass die Stadtplaner ein zweites Pudong (Wirtschafts- und Hightechdistrikt in Shanghai) entstehen lassen wollen. Bewegen sich die Wachstumsraten weiterhin auf hohem Niveau, wird dies keine Illusion bleiben. Übersehen werden darf allerdings nicht, dass große Teile der indischen Stadtbevölkerung in Armut leben.

Das rapide Bevölkerungswachstum in den Megastädten führt, laut BOHLE und SAKDAPOLRAK (2008: 12) zu „krisenhaften Überlastungen der städtischen Kapazitäten.“ Die Bewohner sind sowohl Gewässer- als auch Luftverschmutzungen ausgesetzt, bedingt durch eine unkontrollierte Abfallbeseitigung. Besonders die Wasserversorgung der Bevölkerung ist kritisch. Während in Delhi vier Fünftel der Abwässer ungeklärt bleiben, werden in Chennai nur 64% des gesamten Wasserbedarfs durch die öffentliche Wasserversorgung gedeckt (vgl. BOHLE/ SAKDAPOLRAK: 13). Das rapide Wachstum der Bevölkerung, die in Slums leben, verschärft dieses Problem zunehmens. In Mumbai lebt mittlerweile jeder zweite Bewohner in einer Slumsiedlung. In Indien wird die Gesamtbevölkerung in Slums auf ca. 170 Millionen Menschen geschätzt. Eine einheitliche Definition von Slums besteht jedoch nicht, weshalb diese Zahlen mit Vorsicht zu betrachten sind.

 

 Straßenszene in Delhi

Bleibt Indien von der derzeitigen Finanzkrise verschont, ist mit einem weiteren ökonomischen Aufstieg des Landes zu rechnen. In Indien wird gerne der Ausdruck „golden Generation“ verwendet, da ein solcher Aufschwung in der Geschichte des Landes bisher einmalig ist. Dennoch wird es noch Jahrzehnte dauern, bis sich die Situation der armen Bevölkerungsteile verbessert, da immer noch die Mehrheit der Inder auf dem Land lebt, zumeist unter der Armutsgrenze.

Quellen

BOHLE, H.-G.; SAKDAPOLRAK, P. 2008: Leben mit der Krise – Vertreibung von Slumbewohnern in der Megastadt Chennai. In: Geographische Rundschau, 60(4), S.12-20.

STANG, F. 2002: Indien. (=Wissenschaftliche Länderkunden). Darmstadt: WBG.

WAMSER, J. 2008: Wirtschaftsstandort Indien – Wirtschaftliche Öffnung und Folgen des globalen Wettbewerbs. In: Geographische Rundschau, 60(4), S.4-10.

ZINGEL, W.-P. 2004: Indien auf dem Weg zur postindustriellen Gesellschaft: Infrastruktur, Dienstleistungen und Deregulierung. In: DRAGUHN (Hrsg.): Indien 2004 – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Hamburg: Institut für Asienkunde, S.319-338.

CITYPOPULATION 2008: The Principal Agglomerations of the World.
    http://www.citypopulation.de/
    Erstellt: 14.09.2008, Abruf: 30.10.2008

 

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Meine Name ist Stefan Ohm und ich bin Geograph. Vor meinem Studium habe ich eine Ausbildung zum Fachinformatiker absolviert und danach bei Electronic Data Systems (EDS) als Lotus Notes Entwickler gearbeitet. Während meines Studiums in Hannover führte mich mein Weg zur Texas State University in San Marcos (USA) sowie zur University of Bristol (UK). Darüber hinaus absolvierte ich zwei Praktika bei NGO’s in Neu Delhi (Indien), mit dem Ziel Entwicklungsprozesse vor Ort genauer zu betrachten und damit ein besseres Verständnis über diese zu erhalten. Promoviert habe ich über den Strukturwandel im Perlflussdelta und Hongkong (China) an der Justus Liebig Universität in Gießen.

5 Kommentare

  1. Ich kenne Indien nicht, aber…

    …es wurde doch bisher immer erzählt, dass Indien den grossen Nachteil hat, dass es immer noch in “Kasten” denkt? So soll es zwar 100-200 Millionen hochausgebildete Inder geben, der Rest soll aber sehr ungebildet sein. Ist es nicht so, dass der Elite (also auch der Regierung) der “ungebildete Rest” ziemlich egal ist? Hat sich diese Grundeinstellung verändert?

    Auch wurde immer gesagt, dass Inder stark religiös sind. Und sich zumindest der hinduistische Grossteil der Bevölkerung sich so ziemlich alles gefallen lässt – und immer relativ planlos in den Tag hinein lebt. Hat sich das auch verändert?

    Ich persönlich habe eher das Gefühl, dass Länder mit auch heute noch hohem Bevölkerungswachstum (Bangladesch, Iran, Pakistan, Sudan..) immer schneller dem Abgrund entgegen rasen.

    Und uns könnten sie evtl. gleich mitreissen. Denn wie wurde erst gestern ein afrikanischer Politiker (sinngemäss) in den Nachrichten zitiert: wir werden Europa stürmen – und wenn ihr eure Zäune noch so hoch baut…

    Ich kenne wie gesagt Indien nicht. Aber ich befürchte ja, dass die Inder, bevor sie ökonomisch spitze sind, ökologisch auf den Boden der Realität aufschlagen werden. Aufgrund limitierender natürlicher Ressourcen.

  2. Das indische Kastenwesen

    Von offizieller Seite sind die Kasten abgeschafft. Es wäre allerdings illusorisch zu glauben, es würde in Indien keine Rolle mehr spielen. Immerhin war es mehrere tausend Jahre ein zentrales Element der Gesellschaft. Es wäre zudem gleichfalls Illusion zu denken, dass der Inder dieses System gleichgültig hinnimmt. Das Streben nach Bildung ist selbst im ländlichen Raum sehr ausgeprägt (so habe ich es jedenfalls erlebt). Mir kam es immer so vor, als würden breite Teile der Bevölkerung wahrnehmen, dass sich etwas verändert im Land und dass sie dabei sein könnten.

    Bezüglich der Regierung kann ich nur sagen, dass es selbst Unberührbare (eine sehr niedrige Kaste) in hohe Ämter schaffen. Diese sind zwar in der Minderheit, es zeigt jedoch, dass sich etwas ändert.

  3. Bezüglich Armut

    Ein Blick auf die Armutsstatistiken der Weltbank zeigt, dass auch der Anteil der Armen in Indien von 1993 bis 2004 deutlich sinken konnte. Und dies sowohl auf dem Land als auch in der Stadt: 1993 lebte noch 52% der ländlichen und 41% der städtischen Bevölkerung in Armut. Im Jahr 2004 waren dies dann nur noch 44% bzw. 36%. Zugrunde liegt eine Armutsgrenze von 1,25$ pro Tag (in ppp).
    Gleichzeitig wurde allerdings die Verteilung der Einkommen immer ungleicher – die Armen konnten also von der Entwicklung profitieren, allerdings nicht im gleichen Ausmaß wie die Reichen…

    Quelle: PovcalNet (Worldbank)

  4. Zukunft eher ungewiss

    Ein gr0ßes Problem für Indien wird der Klimawandel werden. Nicht nur, dass das Land sehr lange Küstenstreifen hat, sondern, da fast ganz Nordindien von den Schmelzwassern des Himalayas abhängig ist. Und die ziehen sich gearde dramatisch zurück.

    Hinzu kommem die politischen Probleme. Mit Pakistan und Bangladesh sind sehr instabile Nachbarn vor der Tür. Und im Falle von Pakistan befinden sich sogar Atombomben im Arsenal. Auf die indische Gesellschaft kommen gewaltige Aufgaben zu.

  5. Vor allem die häufigen Anschläge in den letzten Wochen/Monaten lassen darauf schließen, dass der inneren Zusammenhalt der Gesellschaft nicht besonders stark ist. Indien ist eh schwer als ein Land zu begreifen. Ohne die Kolonialherrschaft der Briten hätten sich ja mehrere Länder (Nordindien, Kerala, Tamil, Ostindien, etc.) herausgebildet.

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