Zur weltpolitischen Bedeutung von Neglected Tropical Diseases

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In meinem letzten Beitrag ging es darum, dass Schlangenbisse neuerdings zu den Neglected Tropical Diseases (NTD) gezählt werden, die überproportional häufig die ärmsten Länder und Bevölkerungsgruppen betreffen. Der dort vorgestellte Zusammenhang zwischen Armut und Krankheit ist jedoch nur die eine Hälfte der Geschichte. Tatsächlich handelt es sich bei den vernachlässigten Tropenkrankheiten um das neben dem Klimawandel drängendste weltweite Problem, denn sie sind ebenso sehr Ursache wie Folge von Armut.

Mehr noch, sie halten gerade ländliche Regionen der Entwicklungsländer in einem Kreislauf der Armut gefangen, und darin liegt ihre große Bedeutung für die Zukunft der Menschheit. Wer Armut weltweit effektiv bekämpfen will, muss zuerst einmal Bilharziose, Dengue-Fieber, Schlafkrankheit oder Flussblindheit besiegen – eine Erkenntnis, die sich inzwischen langsam durchsetzt.

Das große Pech der Betroffenen ist eben, dass diese Krankheiten so unspektakulär sind. Die meisten NTDs verursachen eine vergleichsweise geringe Sterblichkeit, führen aber zu langen, wiederholten Krankheitsepisoden oder dauerhaften Behinderungen. Die weite Verbreitung dieser Krankheiten manifestiert sich deswegen nicht in Leichenbergen auf der Straße, sondern in sehr hohen sozialen und ökonomischen Kosten.

Mehr als eine Milliarde Menschen ist von einer oder mehr dieser extrem weit verbreiteten Krankheiten befallen – ein Sechstel der Weltbevölkerung, mindestens. Sie sind unter anderem ein wesentlicher Grund für Ungleichheit, Ungerechtigkeit und Instabilität nicht nur global, sondern auch und gerade innerhalb einzelner Länder.

Vieles deutet darauf hin, dass verlorene Lebenszeit und Produktivität durch diese Erkrankungen nach wie vor sogar noch deutlich unterschätzt werden, genauso wie die reinen Fallzahlen. Die Betroffenen sind arm, leben weitab von größeren Städten und haben meist kaum Zugang zu ausreichender medizinischer Versorgung. Ihre Krankheiten tauchen in keiner Statistik auf. Zum Beispiel konzentrieren sich einige Programme wie das zur Bekämpfung der Flussblindheit in Afrika auf besonders stark betroffene Brennpunkte und erfasst niedrigere, aber dennoch relevante Erkrankungszahlen in der Fläche nicht.

Vergleichbare Schwierigkeiten bereitet die Einschätzung der sozioökonomischen Auswirkungen der NTD-Last. Üblicherweise berechnet man die Kosten von NTDs aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive, einerseits aus Sicht des Gesundheitssystems und andererseits in Form von durch Tod und Krankheit der Volkswirtschaft entgangener Produktivität. Im letzten Teil der aktuellen Lancet-Serie über NTDs ist das für einige Krankheiten und Länder beispielhaft aufgeführt. Lateinamerika verliert allein durch die Chagas-Krankheit etwa 750.000 Arbeitstage jährlich, und die Betroffenen natürlich das entsprechende Einkommen

Damit sind wir bei dem Teil der Geschichte, der in solchen Zahlen nur unzulänglich berücksichtigt ist. Den eigentlichen ökonomischen Schaden richten Tropenkrankheiten auf lokaler Ebene an. Da die Betroffenen meist sehr arm sind, stellen die Krankheitskosten eine enorme Belastung dar.

In Ghana kosten Transport, Pflege und Therapie eines Patienten mit Buruli-Ulker das durchschnittliche Jahreseinkommen des reichsten Viertels der Bevölkerung – und das zweieinhalbfache Jahreseinkommen eines Haushalts aus dem ärmsten Viertel. Dengue-Fieber bei Kindern verursacht in Thailand direkte Kosten in Höhe eines Monatslohns und so weiter. Der ökonomische Schaden trifft gerade ländliche Regionen gleich doppelt: Es geht nicht nur Produktivität verloren, sondern zusätzlich auch Kaufkraft, die dem Einkommen lokaler Geschäftsleute fehlt. So halten diese Krankheiten ganze Landstriche in der Armutsfalle gefangen.

Dementsprechend wenig taugen die gängigen Kosten-Nutzen-Rechnungen für Kampagnen gegen diese Krankheiten. Üblicherweise rechnet man mit einem direkten finanziellen Nutzen von etwa 10 – 30 Prozent des eingesetzten Kapitals, der sich überwiegend in geringeren Kosten für die Gesundheitssysteme manifestiert. Das allerdings ist viel zu kurz gedacht, denn die eigentlichen Ressourcen, die eine deutlich geringere Krankheitslast freisetzt, lassen sich a priori kaum einschätzen.

Erfahrungen mit erfolgreichen Programmen gegen Schistosomiasis oder Würmer zeigen, dass sich neben dem Wurmbefall und den davon ausgelösten Schäden auch andere Parameter deutlich verbessern.  Dazu gehören allgemeine Infektionen, der Ernährungszustand, aber bei Kindern eben auch regelmäßiger Schulbesuch. Historische Zahlen, unter anderem aus Kampagnen gegen Hakenwürmern im Süden der USA, deuten darauf hin, dass gezielte Kampagnen gegen Parasiten ein Mehrfaches ihrer Kosten an volkswirtschaftlichen Gewinnen einbringen.

Der große Vorteil der Neglected Tropical Diseases vom Bekämpfungs-Standpunkt aus ist, dass es bereits erprobte und kostengünstige Gegenmittel gibt. Anders als Malaria oder HIV lassen sich viele weit verbreitete Tropenkrankheiten mit einfachsten Mitteln zurückdrängen, wenn der Wille und die Ressourcen vorhanden sind. Wegen der weiten Verbreitung von NTDs sind Länder oder ganze Regionen erfassende Programme hier die Regel, wobei die schiere Größenordnung der Maßnahmen die Kosten pro Kopf weiter senkt. So würde es nach Modellrechnungen lediglich etwa 50 Cent pro Person kosten, weltweit alle Patienten mit Flussblindheit, Trachom und Fadenwurm-Filariose mit den nötigen Medikamenten zu versorgen – das ist etwa halb so viel wie ein Insektizid-imprägniertes Moskitonetz gegen Malaria kostet.

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