Das Schweigen des Schlemmers

BLOG: Die Sankore Schriften

Die Welt ist voller Rätsel
Die Sankore Schriften

Wann hat man mal die Gelegenheit einem Profiler bei der kriminaltechnischen Ermittlungsarbeit über die Schulter schauen? Nie. Umso mehr freue ich mich über diesen Gastbeitrag von Kai Baumgärtner, der über einen besonders brutalen und bizarren Mordfall berichtet: Das Opfer liegt regungslos und ausgeweidet am Boden. Von dem einst stattlichen Körper sind lediglich Fragmente des zerfetzten Fleisches und verstümmelte Teile der Haut zu erkennen.

Die Reste von dem was einmal war liegen im Umkreis von einem Meter auf dem Boden verstreut. Der Profiler schreitet mehrfach um den Tatort herum und versucht mit einer nachdenklichen Miene die Geschehnisse zu rekapitulieren. "Das Opfer hatte eindeutig einen Migrationshintergrund und wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem Serientäter ermordet", so der Profiler.

Bei dem Opfer handelt sich um Citrus sinensis, die besonders in den Wintermonaten in Deutschland Einzug hält und sich bei der einheimischen Bevölkerung größter Beliebtheit erfreut. Citrus sinensis ist im deutschen Sprachgebrauch besser als Apfelsine, bzw. südlich der Mainlinie als Orange, bekannt. Das Rautengewächs, das ursprünglich chinesischer Apfel bedeutet, wurde wahrscheinlich im 17. Jahrhundert von portugiesischen Seefahrern von Indien und Südchina nach Europa gebracht. Heute wird sie hauptsächlich aus dem Mittelmeerraum und Brasilien importiert. Die Apfelsine kann in unterschiedliche Gruppen wie Rundorangen, Navelorangen, Blutorangen und säurefreie Orangen eingeteilt werden.

Als problematisch erweist sich für den Profiler die Bestimmung der Gruppenzugehörigkeit, da nahezu alles nahrungstechnisch Interessante verwertet wurde. Dennoch kann er aus dem entstellten Opfer erste Spuren herauslesen: "Die Apfelsine gehörte entweder den gerade in Deutschland stark vertretenen Gruppen Washington Navel aus Marokko, Navelina aus Spanien, Hamlin, Valencia oder Jaffa an. Ich befürchte aber, dass sich die Identität nicht mehr zweifelsfrei klären lassen wird. Eindeutige Ergebnisse über die Herkunft könnte möglicherweise eine lebensmitteltechnische Untersuchung im Labor zutage befördern."

Jetzt ist der Profiler in seinem Element und hält lange Monologe über die infrage kommenden Tötungsarten. "Auch beim Apfelsinenscheiden", so sinniert er, "hinterlässt der Täter ein klar umrissenes Profil von seiner Person." Als besonders perfide erscheint hier die Chirurgentechnik à la Jack the Ripper. Die Schale wird rundherum eingeschnitten und dann mit dem Stiel eines kleinen Löffels vom Fruchtfleisch gelöst. Die Schalenhälften können hier geschmackloserweise für Füllungen und Garnierungen verwendet werden. "Aber dies ist hier nicht der Fall", so der Profiler, "die Schalenreste lassen eher auf einen im Wahn agierenden Täter schließen."

Daher kommt auch die "Gourmet"-Technik nicht als Tötungsvorgang in Betracht. Hier müsste die Apfelsine leiden wie ein Hummer. Denn um die Schale von der Orange besser lösen zu können, wird die Frucht in heißes Wasser getaucht, ehe sie mühelos entfernt werden kann. "Wir haben es zweifelsohne mit einem Triebtäter zu tun, der bei nächster Gelegenheit wieder zuschlagen wird. Deshalb stehen wir unter hohem Handlungsdruck, um weiteren Schaden abzuwenden", so der Profiler. Er glaubt aber nicht an eine sadistische Neigung des Täters. Somit scheidet auch die Perforierung als mutmaßlicher Tathergang aus. Denn das Abschneiden eines Deckels und das seitliche Einschneiden von Trennlinien nehmen zu viel Zeit in Anspruch und wird häufig von Genießern mit Hang zum Sadismus bevorzugt. Der Täter löst die Segmente lediglich mit einem langsamen Zug vom Fleisch.

Zu akkurat erscheint auch die Abschälmethode. Das Messer wird im 45 Grad-Winkel schräg angesetzt und rund um die Apfelsine geführt. Als ideales Ergebnis präsentiert sich ein Schalenwurm. Diese Art der Enthäutung wird laut Profiler besonders von Ordnungsfanatikern bevorzugt, die von Ihrer Tat möglichst wenig Spuren hinterlassen möchten. "Am wahrscheinlichsten ist die Anwendung der Grobmotoriker-Technik: Drauf auf die Schale und runter mit dem Zeug", sagt der Profiler. Zum Kreis der Verdächtigen zählen insbesondere grobschlächtige Naturburschen, deren Unbedarftheit im Umgang mit Werkzeugen im Alltag meist nicht zu übersehen ist. Zu dieser Gruppe ist im Übrigen auch der Autor zu zählen.

Der Profiler, Kollege Schnibulski aus dem Redaktionsbüro, wird den Fall als ungeklärt zu den Akten legen müssen. Aber ich habe mir meine Tagesration Vitamin C wenigstens richtig schmecken lassen.

Autor: Kai Baumgärtner

Avatar-Foto

Veröffentlicht von

Joe Dramiga ist Neurogenetiker und hat Biologie an der Universität Köln und am King’s College London studiert. In seiner Doktorarbeit beschäftigte er sich mit der Genexpression in einem Mausmodell für die Frontotemporale Demenz. Die Frontotemporale Demenz ist eine Erkrankung des Gehirns, die sowohl Ähnlichkeit mit Alzheimer als auch mit Parkinson hat. Kontakt: jdramiga [at] googlemail [dot] com

1 Kommentar

Schreibe einen Kommentar