Bakterien mit Stechrüssel

BLOG: Detritus

Gedanken, biologisch abgebaut
Detritus

Viele pathogene Bakterien produzieren Virulenzfaktoren. Das sind Moleküle, die die Wirtszellen manipulieren, um so zum Beispiel das Immunsystem auszutricksen oder eine Aufnahme des Bakteriums in die Wirtszellen zu veranlassen. Einige Bakterien, darunter die Erreger von Ruhr (Shigella), Pest (Yersinia) und Typhus (Salmonella), haben ein erstaunliches System entwickelt, um diese Moleküle in die Wirtszelle zu bekommen: sie injizieren sie mit Hilfe einer Nano-Spritze direkt in die Wirtszellen.

Isolierte Nadelkomplexe aus Salmonella typhimurinum (Bild von Schraidt O, Lefebre MD, Brunner MJ, Schmied WH, Schmidt A, Radics J, Mechtler K, Galán JE, Marlovits TC aus einer Publikation unter CC-BY-2.5-Lizenz)

Dieser etwa 80 nm lange Proteinkomplex mit dem sperrigen Namen „Typ-3-Sekretionssystem“ (T3SS) sitzt in der doppelten Zellmembran des gramnegativen Bakteriums und besteht aus etwa 30 verschiedenen Proteinen. Damit ist es im Gegensatz zu den anderen fünf bakteriellen Seketionssystemen außerordentlich komplex.

Es stellt sich die Frage, wie ein so komplexes funktionelles Gebilde entstehen konnte, und ob es Vorläuferstrukturen gibt, die vielleicht ganz andere Funktionen erfüllen. Auch was die Energiequelle für den Proteintransport im Inneren der Spritze darstellt, oder wie genau die Wirtszellmembran überwunden wird, ist weitgehend unbekannt. Es scheint jedoch sicher zu sein, dass die Wirtszellmembran nicht einfach „durchstochen“ wird, sondern dass bakterielle Proteine erst eine Pore in der Membran öffnen müssen, durch die Virulenzfaktoren in die Zelle eingeschleust werden.

Wie die Arbeiten aus dem Labor von Michael Kolbe vom Max-Planck-Institut für molekulare Infektionsbiologie zeigen, werden die Monomere der Spritzennadel an der Spitze der Nadel angefügt, wodurch sie immer weiter wächst. Damit die Monomere nicht bereits im Cytoplasma des Bakteriums polymerisieren, sondern erst an ihrem Bestimmungsort, nehmen sie möglicherweise jeweils unterschiedliche 3D-Strukturen ein. Spezifisch bindende Proteine (Chaperone) würden das Nadelprotein in der löslichen Konformation stabilisieren und eine Polymerisation im Cytoplasma verhindern. An der Nadelspitze, also außerhalb der Zelle, sind diese Chaperone nicht vorhanden und die Monomere falten sich zu ihrer Polymer-Form um und verlängern die Nadel.

Um überhaupt an die Nadelspitze zu gelangen, werden die Proteine unter Aufwand von Energie entfaltet und in den hohlen Schaft des Spritzenapparates eingefädelt. Von dort wird das Protein dann über einen bislang unbekannten Mechanismus bis zur Nadelspitze transportiert. Der selbe Mechanismus könnte anschließend benutzt werden, um die Effektorproteine in die Wirtszelle zu bringen.

Das alles erinnert stark an den Mechanismus, nach dem wahrscheinlich bakterielle Flagellen zusammengebaut werden. Die Propeller dieses von molekularen Elektromotoren angetriebenen Fortbewegungssystems wachsen ebenfalls an der Spitze, und die Einzelteile werden wohl auch über den Hohlraum im Inneren transportiert. Die Energiequelle stammt hier aus dem Ionengradienten über der Bakterienmembran, ein ähnlicher Mechanismus ist für das T3SS zumindest denkbar.

Video: Assemblierung des bakteriellen Flagellums (Keiichi Namba)

Auch sonst gibt es verschiedene Indizien, die auf das Flagellum als evolutionären Vorläufer des T3SS hinweisen: die generelle Struktur der beiden Komplexe stimmt weitestgehend überein, und einige Proteine sind auf Aminosäure-Ebene homolog, also sehr ähnlich.

Damit ergeben sich drei konkurrierende Hypothesen, wie Flagellum und der Nadelkomplex des T3SS entstanden sein könnten: Entweder entstand der Nadelkomplex aus dem zuerst vorhandenen Flagellum, oder umgekehrt, T3SS entstand zuerst und daraus hat sich das Flagellum abgeleitet. Möglicherweise haben beide Komplexe einen gemeinsamen Vorläufer, der heute nicht mehr existiert.

Quellen

Lunelli et al. IpaB-IpgC interaction defines binding motif for type III secretion translocator. Proc Natl Acad Sci U S A (2009) vol. 106 (24) pp. 9661-6

Poyraz et al. Protein refolding is required for assembly of the type three secretion needle. Nat Struct Mol Biol (2010) vol. 17 (7) pp. 788-92

Galán. Energizing type III secretion machines: what is the fuel?. Nat Struct Mol Biol (2008) vol. 15 (2) pp. 127-8

Saier. Evolution of bacterial type III protein secretion systems. Trends Microbiol (2004) vol. 12 (3) pp. 113-5

Martin Ballaschk ist promovierter Biologe, aber an vielen anderen Naturwissenschaften interessiert. Das Blog dient ihm als Verdauungsorgan für seine Gedanken. Beruflich ist er als Wissenschaftskommunikator, hier rein privat unterwegs.

2 Kommentare

  1. T3SS und ökologische Nische

    Ein spannender Artikel. Wer ist denn in der Regel älter, die Bakterienarten mit Flagellen oder die mit T3SS? Ich kann mir eher vorstellen, dass die mit T3SS eine ökologische Nische besetzt haben.

  2. Alter des TTSS

    Das ist nicht so einfach zu sagen, weil die TTSS meist auf Plasmiden (wie bei Shigella) oder „Pathogenitätsinseln“ (Salmonella) liegen und damit häufig einen lateralen Gentransfer durchmachen.

    Es gibt gute Argumente für eine Ableitung der TTSS aus den Flagellen, darunter auch deine Idee der ökologischen Nische, also als Anpassung an bessere Sekretion in Eukaryotenzellen (aus Milton & Saier 2004):

    (i) Several of the subunits of both systems share sufficient sequence similarity to allow the establishment of a common evolutionary origin. (ii) Bacterial flagella are found in a wider variety of bacteria (including Gram- positive bacteria that lack an outer membrane) than TTSSs, which are restricted to Gram-negative bacteria. (iii) Known TTSSs function exclusively in promoting symbiotic or pathogenic associations with eukaryotic organisms. (iv) Eukaryotes evolved much later than bacteria. (v) Before the appearance of eukaryotes, bacteria would have been under pressure to evolve motility systems, although pressure for the appearance of TTSSs with functions comparable to those of current TTSSs would have been non-existent. Indeed, many proteins translocated into eukaryotic cells by TTSSs are concerned with eukaryotic signaling and control, processes that had to develop late during the evolution of the eukaryotes

    Aber auch für TTSS als Vorläufer der Flagellen gibt es ein paar Argumente:

    (i) They [Gophna et al]explain the exclusive presence of TTSSs in Gram-negative bacteria by presuming that structural constraints require their association with two membrane envelopes. (ii) They note that eukaryotes have flagella (cilia) and suggest that bacterial and eukaryotic flagella have evolved in parallel. (iii) They also note that TTSSs are present in Chlamydia, organisms that might be as distant from Gram-negative Proteobacteria as the Proteobacteria are from Gram- positive Firmicites. (iv) They suggest that ancient TTSSs might have evolved to secrete proteins for purely bacterial functions, such as assembly of surface appendages. (v) They note, in agreement with the published data of Nguyen et al. [3], that branch lengths for the Fla proteins in phylogenetic trees are comparable to those for the homologous TTSS proteins.

    Das überzeugt aber nicht unbedingt.

    Wie auch Saier (oben verlinkt) tendiere ich auch eher zu „TTSS sind aus Flagellen abgeleitet“, aber ohne einen eindeutigen fossilen Beleg wird es wohl immer eine Restunsicherheit geben …

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