Glaube und Zölibat: bio-logisch erfolgreich?

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Heute überlasse ich – passend zur religiös geprägten Saison – dem Religionswissenschaftler Dr. Michael Blume das Podium. Michael Blume beschäftigt sich unter anderem mit den biologischen Ursprüngen und Mechanismen der Religiosität; 2005 promovierte er in Tübingen über das Verhältnis von Neurowissenschaften und Religionswissenschaft

An der Uni Heidelberg veranstaltet er in diesem Semester das Seminar "Religionswissenschaftliche Präsentationen zur Evolution der Religion", an dem ich auch mitwirke. Kennengelernt habe ich ihn vor einer Weile über sein Religionswissenschafts-Blog, in dem er regelmäßig über derartige Themen schreibt. Heute berichtet er hier bei Abgefischt über mögliche biologische Grundlagen des Zölibats. Viel Spaß!

Glaube und Zölibat: bio-logisch erfolgreich?

Edward O. Wilson, einer der bedeutendsten Biologen unserer Zeit, stellte in seinem mit dem Pulitzerpreis ausgezeichneten Buch On human Nature von 1978 fest: "Religion stellt die größte Herausforderung für die Soziobiologie des Menschen dar und ihre aufregendste Gelegenheit, als eine wirklich originale theoretische Disziplin fort zu schreiten." (S. 178, Übers. aus dem Englischen)

Inzwischen mehren sich die Anzeichen, dass Wilsons Traum in Erfüllung gehen könnte. In spezialisierten Netzwerken wie den Evolutionary Religious Studies wirken längst nicht nur Forscher verschiedenster Nationen, sondern vor allem auch unterschiedlichster Disziplinen mit. Dabei treffen Evolutionsbiologen, Anthropologen, Ethnologen, Psychologen, Neuromediziner, Soziologen, Ökonomen, Theologen, Philosophen und (vergleichende) Religionswissenschaftler nicht nur auf immer mehr Tagungen aufeinander, sondern nutzen auch das Internet, um in einer früher undenkbaren Geschwindigkeit und Tiefe empirische Daten und Thesen auszutauschen.

Dabei verdichten sich die Befunde von der Zwillingsforschung über die Neurowissenschaften bis hin zur Religionswissenschaft zu einem wachsenden Konsens, der gerade in seiner Selbstverständlichkeit verblüfft: Religiöse Veranlagungen scheinen völlig entsprechend zu etwa sprachbezogenen oder musikalischen, genetisch veranlagten Fähigkeiten mit hoher, kultureller Plastizität über Fitnessvorteile evolviert zu sein – und wohl auch weiter zu evolvieren. Eine schnell wachsende Zahl von Studien und auch psychologischen Experimenten belegt eine gesteigerte Kooperationsbereitschaft zwischen Religiösen sowie die Abwehr von Trittbrettfahrern und Assimilation durch kostspielige Verpflichtungen und Rituale.

Sogar die sprichwörtliche „Gretchenfrage“ (Gretchen an Faust: „Wie hälst Du’s mit der Religion?“) kommt inzwischen zu empirischen Ehren: Kostspielige Religiosität scheint tatsächlich als ein Indikator für Partnertreue und damit förderliches Merkmal sexueller Selektion zu wirken – und geht tatsächlich mit geringeren Raten etwa an Scheidungen und Alleinerziehenden in Religionsgemeinschaften einher. Also genau das, was Goethes Mephistopheles (in Kapitel 16) im spöttischen Kommentar zu Gretchens Frage vermutete:„Die Mädels sind doch sehr interessiert, ob einer fromm und schlicht nach altem Brauch. Sie denken: duckt er da, folgt er uns eben auch.“

Zumindest kann es nach Auswertung sowohl nationaler wie internationaler Daten und vor allem auch der Schweizer Volkszählungen 1970, 80, 90 und 2000 (die jeweils als Vollerhebungen durchgeführt wurden) praktisch keinen statistischen Zweifel mehr geben, dass religiös vergemeinschaftete Menschen weltweit durchschnittlich deutlich mehr Kinder haben als ihre konfessionslosen Zeitgenossen auch je der gleichen Einkommens- und Bildungsschicht.Ja, entgegen auch unseren frühen Erwartungen nimmt der reproduktive Abstand mit steigenden Freiheits-, Wohlstands- und Bildungsniveaus sogar zu! Denn während Menschen in klassischen Agrarwirtschaften kaum Alternativen zu einer hohen Kinderzahl als Arbeitskräfte und Altersversorgung hatten, werden Kinder in modernen Marktgesellschaften zu sehr kostenträchtigen Wertentscheidungen.

So blüht beispielsweise der Kreationismus in den USA nicht etwa, weil er haltbare, wissenschaftliche Argumente hätte – sondern weil tiefreligiöse Christen, Juden und Muslime durchschnittlich erheblich mehr Kinder bekommen und erziehen als die Befürworter des darwinistischen Naturalismus. Die Ironie in diesem Befund harrt noch der Aufarbeitung…

Sogar Zölibat…
Überraschenderweise lässt sich inzwischen sogar die religionshistorische Entstehung des Zölibats über Fitnessvorteile der Verwandtenselektion neu entschlüsseln. Diese ist an sich unumstritten: keinen Biologen wundert es, dass auch Menschen dazu tendieren, mit nahen Verwandten intensiver zu kooperieren und sich gegebenenfalls sogar für sie zu opfern, tragen sie doch eng verwandte Gensequenzen.

Aber genau das wird in klassischen Agrarwirtschaften zum Problem: weil die meisten schon aus ökonomischen Erwägungen (Arbeitskräfte, Altersversorgung, Schutz) viele Kinder anstreben, entstehen vor Ort expandierende Familienclans, in ständiger Verflechtung und Spannung auch um knappe Ressourcen (z.B. Land). Jeder lokale, religiöse Funktionär ist hier sofort dem (manchmal zutreffenden) Verdacht ausgeliefert, doch nur die eigene Familie nepotistisch zu begünstigen.

So erging es z.B. auch Jesus, der „kam in seine Vaterstadt und lehrte sie in ihrer Synagoge, so daß sie sich entsetzten und fragten: Woher hat dieser solche Weisheit und solche Taten? Ist er nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt nicht seine Mutter Maria, und seine Brüder Jakobus und Josef und Simon und Judas? Und seine Schwestern, sind sie nicht alle bei uns? Woher kommt ihm denn das alles? Und sie ärgerten sich an ihm. Jesus aber sprach zu ihnen: Ein Prophet gilt nirgends weniger als in seinem Vaterland und in seinem Hause. Und er tat dort nicht viele Zeichen wegen ihres Unglaubens.“ (Mt. 13,55-58)

Gibt es eine Lösung für dieses Dilemma? Ja, der Austausch von Zölibatären. Religiöse Institutionen könnten anregen, dass Clans aus ihrem jeweiligen Geburten- und Erbenüberschuss einige wenige Akteure „spenden“, die (ohne eigene Familien zu gründen) anderswo Dienst tun – und dafür umgekehrt auch selbst Zölibatäre zugeteilt bekommen. Der einzelne Zölibatäre würde damit in der Fremde sehr viel religiös glaubwürdiger Ehebünde segnen und überwachen, Familienwerte predigen, Streit schlichten, Arme und Kranke versorgen, Kinder unterweisen, antisoziales Verhalten ahnden und andere Fitness-relevante Tätigkeiten ausüben können – und dürfte Gott, Mutter Kirche oder dem Sangha vertrauend zudem davon ausgehen, dass auch die eigene Herkunftsgruppe entsprechend Fitness-fördernd betreut würde. Hier läge also eine clevere Form indirekter Verwandtenselektion vor! (Siehe Schaubild)

Und auch diese These lässt sich empirisch testen. So müssten wir einerseits davon ausgehen, dass die Inhaber zölibatärer Rollen zur Sexualität klar Stellung beziehen: Sie müssten zur Unterstreichung ihrer eigenen Glaubwürdigkeit insbesondere in klassischen Agrargesellschaften ihre eigene Abstinenz sowohl gegenüber hetero- wie homosexuellen „Versuchungen“ unterstreichen (diese also strikt verdammen) und sie müssten vor allem, im Kontrast zur eigenen Kinderlosigkeit, für eine möglichst hohe Fertilität der nichtzölibatären Laien eintreten. Dies lässt sich im Christentum, aber auch etwa in Hinduismus, Buddhismus und Jainismus sowohl historisch wie zeitgenössisch-vergleichend reichlich beobachten.

Daneben müsste die Akzeptanz des Zölibats milieuabhängig sein: in klassischen Agrargesellschaften mit Geburtenüberschüssen müsste eine sehr viel höhere Akzeptanz zölibatärer Rollen beobachtbar sein als in Marktgesellschaften mit niedrigen Geburtenraten. Dies ist nicht nur im Vergleich christlicher Länder (z.B. Afrikas und Europas) sondern ebenso in buddhistischen Gesellschaften (z.B. Birma und Japan) eindeutig der Fall. Auf die zunehmend datengestützte Präsentation dieser und unzähliger weiterer Thesen zu religiösen Phänomenen dürfen wir uns also in naher Zukunft freuen.

Noch kaum andiskutiert ist dabei die Frage, wie sich die Erkenntnis, dass Religion als ein Teil menschlicher Natur biologisch beschreibbar wird sowohl auf das religiöse Selbstverständnis wie auf die naturalistische Religionskritik auswirken wird. Und gerade die deutsche Wissenslandschaft muss sich fragen, warum in den Netzwerken interdisziplinärer und internationaler Evolutionsforschung zur Religion bisher deutschsprachige Wissenschaftler sowohl natur- wie geisteswissenschaftlicher Disziplinen nur sehr vereinzelt vertreten sind bzw. warum wir immer noch kein einziges solches Netzwerk im deutschsprachigen Raum haben.

 asdf

237 Kommentare

  1. Keine Religion

    Die untersuchten sozialen Verhaltensweisen haben nichts wirklich religiöses an sich. Sie gelten für alle durch Rituale gekennzeichneten Gemeinschaften.
    Für Religion – die Verbreitung höchst unwahrscheinlicher Thesen ohne jegliche Beweise – spricht keine der gemachten Beobachtungen.

    Es wird Zeit endlich diese altertümlichen Weltansichten durch modernere zu ersetzen, um die ganzen negativen Effekte von Religionen loszuwerden.
    Ich denke, dass das allgemein ein evolutionärer Vorteil wäre, nicht nur für solche like-minded Gruppierungen.

    Wer weiss welche guten Gene uns religiös motivierte Konflikte bereits gekostet haben! Wieviel weit fortgeschrittener wäre unsere Wissenschaft, wenn Religionen sie nicht systematisch unterdrückt hätten?

    Ich kann gut verstehen, dass deutsche Wissenschaftler kaum Lust haben für die Rechtfertigung von Religion als ein Teil menschlicher Natur (wofür es wenig Anhaltspunkte gibt) Forschungsgelder zu verschwenden.

  2. Empirie

    Sehr geehrter Herr Bedersdorfer,

    danke für Ihren Beitrag, der in mehrfacher Hinsicht sehr interessant ist.

    Zunächst zu Ihrer Auffassung, dass es bei der Erforschung der Evolution von Religion um eine “Rechtfertigung von Religion” gehe. Interessanterweise erleben dass nicht wenige Religiöse anders, auch unter Theologen gibt es z.B. sehr kritische Stimmen, die im Erkenntnisfortschritt eine “biologische Funktionalisierung” befürchten. Eine einheitliche Agenda gibt es hier schlicht nicht – sondern empirische Forschung.

    Und die zeigt eben sehr eindeutig auf, dass säkulare Organisationen nur einen kleinen Teil der beobachtbaren Effekte dauerhaft zu erreichen vermögen. Einen großen Einfluss hatte z.B. die vergleichende Studie der Anthropologen Sosis und Bressler, die die Langlebigkeit säkularer und religiöser Gemeinschaften auch im Zusammenhang mit “costly requirements” verglichen. Abrufbar hier:
    http://www.anth.uconn.edu/…ndBresslerCCR2003.pdf

    Auch in meinem Forschungsschwerpunkt, dem Zusammenhang von Religion und Demografie, sind die empirischen Ergebnisse außerordentlich eindeutig: Religiöse haben deutlich mehr Kinder als Konfessionslose und wir haben bisher keine säkulare Gemeinschaft gefunden, die auch nur eine Generation hindurch ähnliche, reproduktive Erfolge wie z.B. orthodoxe Juden, Amish oder weitere Religionsgemeinschaften erzielt hätten. Auf Basis steigender Bildung und Einkommens nehmen die Unterschiede sogar zu. Eine kleine Zusammenstellung religionsdemografischer Daten gerne hier: http://religionswissenschaft.twoday.net/…047705/

    Nach bisherigem Erkenntnisstand zeichnet sich ab, dass gerade in der Annahme übernatürlicher Akteure wie Ahnen oder Götter (die im Dies- und/oder Jenseits belohnen und strafen können) der Clou liegt: wer wirklich annimmt, dass Kooperationen (einschließlich Ehen) von ggf. strafenden, allwissenden Akteuren überwacht werden, wird zu häufiger kontraktloyalem Verhalten tendieren. Damit wird die (erst durch kostspielige Signale glaubwürdige) Religiosität zu einem Indikator, der Kooperationsdilemmas auflöst und damit mehr ökonomische, politische oder eben (und biologisch m.E. am entscheidensten) reproduktive Kooperationen ermöglicht.

    Noch einmal: damit ist weder irgendeine religiöse Wahrheit bewiesen noch widerlegt und auch kein Werturteil abgegeben. Es handelt sich hier um eine von harten Daten inzwischen unterschiedlichster Disziplinen gestützte, empirische (und also ggf. falsifizierbare) Beobachtung, an der atheistische, agnostische und (wenige) glaubende Wissenschaftler gleichermaßen interdisziplinär arbeiten.

    Mit den besten Wünschen für schöne Feiertage!

    Michael Blume

  3. Die Biologie der Religion

    Schöner Text! Aufregendes Thema! Falls es je ein deutsches Netzwerk zur Verhaltensökologie der Religion geben sollte, bin ich gern dabei.

    Dabei geht es selbstverständlich nicht um eine “Rechtfertigung”, sondern einzig und allein um eine ERKLÄRUNG der Religion.

    Dass eine so verstandene Verhaltensökologie irgendwelche Implikationen für das religiöse Selbstverständnis oder die naturalistische Religionskritik haben wird, wage ich jedoch zu bezweifeln.

    Dass der Zölibat adaptiv sein kann, leuchtet mir ein. Dennoch bin ich hinsichtlich eines echten Selektionsvorteils der Religion skeptisch. Wie Dawkins betrachte ich die Religion eher als ein Epiphänomen.

    Ihre Überlegungen zur Korrelation von Religion und Treue legen eine Erklärung durch die sexuelle Selektion nahe. Dass Frauen religiöse Männer bevorzugt haben mögen, ist zumindest ein reizvoller Gedanke.

    Insofern man davon ausgehen muss, dass die natürliche Selektion ein opportunistisches Sexualverhalten der Männer prämiert hat, kann man auch überlegen, ob eine Interpretation im Sinne des Handicap-Prinzips möglich ist. Doch wenn ich mich recht entsinne, ist dieser Gedanke bereits von Dawkins aufgegriffen und letztlich verworfen worden.

    Was mir an Dawkins’ eigenem Ansatz missfällt, ist, dass die kindliche Leichtgläubigkeit (“Glaube allem, was Deine Eltern Dir sagen!”) lediglich die WEITERGABE, aber nicht die ENTSTEHUNG der Religion erklärt.

  4. Epiphänomen

    Sehr geehrter Herr Dahl,

    danke für Ihre freundliche Rückmeldung!

    Religion als Epiphänomen zu betrachten war (vor allem nach Boyer) lange Zeit Mehrheitsmeinung, ist inzwischen aber sehr geschwächt. Lassen Sie mich nur drei Punkte kurz anreißen, die dagegen sprechen:

    1. Die Befunde belegen einen einfachen Beginn (schlichte Bestattungen) und von dort aus eine dynamische Zunahme an Aufwand un Komplexität (Sekundärbestattungen, Opfergaben, später Kultobjekte und -stätten etc.). Ein Epiphänomen, das aber immer “teurer” geworden wäre, ohne Nutzen zu erbringen, hätte aber eher ausselektiert werden müssen, kaum aber dynamisch zunehmen können.

    2. Interessanterweise haben wir Belege für religiöses Verhalten nicht nur bei Homo Sapiens, sondern auch bei Homo Neandertalensis – und auch dort mit zunehmender Tendenz. Auch dies spricht gegen ein quasi zufälliges Rauschen und deutet auf ein adaptiv zu lösendes Problem bzw. Potential hin – wie etwa die reproduktive Vorausplanung.

    3. Die rezenten Daten weisen sehr starke, kooperative und messbar reproduktive Vorteile durch religiöse Vergemeinschaftung auf. Wenn wir von einem reinen Epiphänomen ausgingen, müssten wir diese erst einmal wegerklären.

    Zur Dawkins-Prägethese sind besonders die Experimente des Kognitionspsychologen Jesse Bering (Belfast) mit Kindern sehr interessant. Diese deuten darauf hin, dass Kinder bereits eine intuitive Ontologie mit sich bringen, die beispielsweise von der Weiterexistenz Toter ausgeht – und die im Laufe des Aufwachsens tendenziell erst “verlernt” wird. Auch dies scheint mit adaptiven Vorteilen leichter zu erklären als über epiphänomenologische Thesen.

    Und Einflüsse religiösen Primings bei Erwachsenen konnte der Evolutionspsychologe Ara Norenzayan (Vancouver) ebenfalls nachweisen. Wurden Probanden vor Diktatorspielen unewusst religiös geprimet (religiöse Schlüsselwörter in Worträtseln), so verhielten sich die Probanden in den Diktatorspielen generöser.

    Also, noch einmal herzlichen Dank für Ihr ermutigendes Feedback – ich gehe auch davon aus, dass hier in nächster Zeit noch vieles zu entdecken und vor allem auch zu integrieren ist.

    Mit herzlichen Grüßen!

    Michael Blume

  5. Religion als Epiphänomen

    Lieber Herr Blume, dies verspricht eine lange und interessante Diskussion zu werden. Um keines der von Ihnen genannten Argumente zu übergehen, schlage ich vor, sie der Reihe nach zu behandeln. Ihr erster Einwand, dass eine zunehmend komplexer werdende Eigenschaft darauf schließen lässt, dass sie bereits von Anfang an adaptiv gewesen sein muss, leuchtet ein, wenn wir von anatomischen Merkmalen wie einem Auge oder einem Gehirn sprechen. Was mir vorschwebt, wenn ich von der Religion als einem bloßen Epiphänomen oder Nebenprodukt der Evolution spreche, geht aber in eine andere Richtung.

    Die einfachste Erklärung scheint mir folgende zu sein. Über Jahrmillionen bestand insbesondere bei sozial lebenden Tieren ein Selektionsdruck auf mentale Fähigkeiten. Ein Zuwachs an sozialer Intelligenz, die es dem einzelnen Tier erlaubte, in der Hierarchie seiner Gruppe aufzusteigen, war adaptiv, da ein höherer sozialer Status mit einem höheren Fortpflanzungserfolg verbunden war. Die geistigen Fähigkeiten, die sich auf diese Weise herausgebildet haben, befähigten uns aber nicht nur dazu, soziale Probleme, wie zum Beispiel Interessenkonflikte, besser zu lösen, sondern sie befähigten uns irgendwann auch dazu, Fragen zu stellen: Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Was hat es mit diesem Leben eigentlich auf sich? Und: Warum gibt es so viel Leid und Elend in dieser Welt?

    Der Verstand, der sich unter dem Druck größerer sozialer Intelligenz herausgebildet ha

  6. Die Wurzeln der Religion

    Für mich sind die Religionen mit ihren Schöpfungsmythen sozusagen prähistorische Kosmologien – Versuche, die Frage nach der Herkunft der Welt zu beantworten. Die Antworten spiegeln dabei den jeweiligen Erkenntsnisstand unserer Vorfahren wider. Wie im Totemismus betrachteten sie sich beispielsweise als direkte Nachfahren eines Tieres – eines Löwen, eines Krokodils oder eines Känguruhs – das man fortan für heilig und unantastbar erklärte.

    Wenn man Religionen als archaische Kosmologien betrachtet, ist es auch nicht verwunderlich, dass es zahllose religiöse Vorstellungen gibt. Schließlich sind der Phantasie, wie diese Welt wohl entstanden sein mag, keinerlei Grenzen gesetzt. Wenn es Beschränkungen gibt, dann wahrscheinlich vor allem geographischer Art, insofern die Gottheiten, die man für die Schöpfung dieser Welt verantwortlich machte, jeweils der ökologischen Nische entnommen scheinen, in der die Menschen gerade lebten.

  7. Religionen als Antwort auf das Leiden

    Religionen scheinen mir aber nicht nur eine Antwort auf die Herkunft der Welt, sondern auch eine Antwort auf die Herkunft des Leidens zu sein. Zumindest alle großen Religionen – ob Judentum, Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus oder Jainismus – sind “Erlösungsreligionen”. Sie erklären uns mit Hilfe verschiedener Mythen, wie dem “Sündenfall”, der “Erbsünde”, dem “Karma” und der “Reinkarnation”, warum wir leiden und es beispielsweise Alter, Krankheit und Tod gibt, doch sie lehren uns auch, wie man dem Leiden entfliehen und erlöst werden kann.

    Ich glaube wirklich, dass nicht nur die Herkunft der Welt, sondern vor allem die Herkunft des Leids und Elends in dieser Welt den Auslöser für religiöse Spekulationen gegeben haben. Warum werden wir alt, krank und schwach, warum gibt es Erdbeben, Vulkanausbrüche und Wirbelstürme, warum gibt es Dürrezeiten, Hunger und Durst, und warum um alles in der Welt müssen die Menschen, die wir lieben, sterben? Konnte es in der Frühzeit der Menschen irgendeine andere Antwort darauf geben als: Wir werden für ein Verbrechen bestraft, dass wir, unsere Väter oder unsere Vorväter begangen haben?

  8. Noch einmal: Religion als Nebenprodukt

    In meinen Augen sind Religionen also nicht entstanden, weil sie adaptiv sind und unseren Fortpflanzungerfolg erhöht hätten. Sie sind entstanden, weil uns unser immer größer und komplexer werdendes Gehirn (auf das tatsächlich eine reproduktive Prämie bestand!), plötzlich existenzielle Fragen vorlegte, auf die unsere Vorfahren eine Antwort finden mussten.

    Ich denke, dies ist eine recht simple Antwort. Doch zumindest momentan sehe ich keinen Grund, nach einer tiefer liegenden Ursache zu suchen.

  9. Danke!

    Lieber Herr Dahl,

    danke für die munteren Beiträge – ja, das ist eine sehr niveauvolle Diskussion! Und lustigerweise vertrete ich da eine beinhartere Biologie als Sie: natürlich behandeln Religionen auch kosmologische und existenzielle Fragen. Würde sich der Aufwand nicht nur an Denken und Zeit, sondern auch an oft kostspieligen Ritualen, Opfern usw. nicht auch wiederum auszahlen, hätte dieses kosmologische bzw. existentielle Grübeln ausdünnen müssen. Dann hätten jene Menschen (die es ja auch heute gibt), die sich um Kosmologien oder Existenzfragen nicht scheren, den gesparten Aufwand in mehr Nachkommen investieren und die unproduktiven Grübler ablösen müssen.

    Das Gegenteil war und ist aber der Fall. Dass religiöse Vergemeinschaftung mit enormen Reproduktionsvorteilen einhergeht, vermute oder behaupte ich ja nicht nur – sondern überprüfe es mit einer wachsenden Zahl von Mitforschern seit mehreren Jahren. Sowohl weltweit (Word Value Survey), wie auch in Deutschland (Birg, ALLBUS) und besonders umfassend in der Schweiz (Volkszählungen 1970 bis 2000) haben wir inzwischen empirische Daten, die klar aufzeigen: umso religiös aktiver die Betreffenden, umso erfolgreicher werden (durchschnittlich) die Gene weitergegeben. (Eine kleine Datenübersicht, wie gesagt, hier: http://religionswissenschaft.twoday.net/…047705/ )

    Die Kosmologien etwa der Amish oder orthodoxen Juden haben aus naturwissenschaftlicher Perspektive recht wenig Erklärungskraft und ihre religiösen Vorschriften sind außerordentlich umfassend und kostspielig – aber reproduktiv sind diese Gemeinschaften seit Generationen um ein Vielfaches erfolgreicher als z.B. säkulare Wissenschaftler mit State-of-the-Art Kosmologien und Seminaren in zeitgenössischer Metaphysik. Die demografischen Daten sind da einfach eindeutig – und ich beobachte derzeit gespannt, ob und wo naturalistische Wissenschaftler harte, empirische Daten ignorieren, nur weil sie nicht in die jeweilige Weltanschauung passen… (-;

    Freue mich sehr auf weitere Diskussionen! Ihnen alles Gute!

    Michael Blume

  10. Urban-Beitrag

    Konkret frage ich mich z.B., wie ich vor diesem Hintergrund etwa der Spektrum-Essay von Martin Urban (in Spektrum der Wissenschaft 01/08, S. 92f.) zu bewerten ist. Inhaltlich kann ich seinem Plädoyer für rationalen Zweifel und gegen (wörtlich) “die Bibel im Biologieunterricht” durchaus nachvollziehen.

    Nur ist es schon eine Ironie, dass Bibelglaubende “aus biologischer Sicht” etwas aufgeben würden, würden sie sich – wie gefordert – in den säkularen Mainstream einordnen. Denn der implodiert gerade nicht nur in Mitteleuropa mangels Kindern…

    Dass (wie Urban zu Recht bemerkt) der Anteil auch kreationistischer Positionen bis tief in die großen Kirchen hinein wieder wächst, hat ja die gleiche Ursache: auch die freundlich-liberalen Christen haben und erziehen zwar mehr Kinder als die Konfessionslosen, aber weit weniger als z.B. die Evangelikalen. Das kann man schlecht finden – aber haben uns nicht gerade die Naturwissenschaftler immer empfohlen, die Welt erst einmal zu verstehen, bevor wir sie bewerten?

    Naja, ich fürchte, sowohl die meisten naturalistischen Religionskritiker wie auch die meisten Religiösen werden sich wohl kaum aus ihren Schützengräben begeben – immerhin stabilisiert es ja die je eigene Identität, Feindbilder zu haben. Umso mehr genieße ich das Klima in den bisher seltenen Diskussionen, die darüber hinaus reichen.

  11. Korrelation beweist keine Kausalität

    Ich bezweifle nicht im geringsten, dass es eine Korrelation von Religiosität und Kindersegen geben mag. Doch selbst wenn sie existieren sollte, ist sie erst einmal eben nur das – eine Korrelation. Die Frage ist, ob nicht nur ein statistischer, sondern auch ein kausaler Zusammenhang zwischen beiden besteht.

    Darüber hinaus scheint mir die Korrelation noch kein Indiz für eine genetische Grundlage der Religiosität zu bieten. Die höhere Kinderzahl religiöser Menschen mag schlicht auf moralische Normen zurückgehen, die beispielsweise eine Empfängnisverhütung und einen Schwangerschaftsabbruch verbieten.

  12. Reproduktiver Erfolg und sozialer Status

    Es ist schon Jahre her, dass ich mich intensiver damit beschäftigt habe, doch nach allem, was ich weiß, ist der reproduktive Erfolg in erster Linie an den sozialen Status gekoppelt. Als man die Kinderzahl der Menschen aus dem Who’s Who mit der Normalbevölkerung verglich, zeigte sich, dass die Oberen Zehntausend nicht nur das meiste Geld, sondern auch die meisten Kinder haben.

    Der Zusammenhang von sozialem Status und reproduktivem Erfolg ist biologisch leicht zu verstehen. Eine genetisch determinierte Eigenschaft wie der Ehrgeiz treibt die Männer dazu, auf der sozialen Stufenleiter nach oben zu klettern. Da diejenigen, die es schaffen, von den Frauen sexuell bevorzugt werden, hinterlassen sie nachweislich mehr Kinder.

    In meinen Augen müsste man jetzt einen ähnlichen Zusammenhang zwischen einer genetisch determinierten Eigenschaft religiöser Menschen und ihrem erhöhten Fortpflanzungserfolg finden.

  13. Ist Religion so paradox wie Altruismus?

    “Lustigerweise vertrete ich da eine beinhartere Biologie als Sie: natürlich behandeln Religionen auch kosmologische und existenzielle Fragen. Würde sich der Aufwand nicht nur an Denken und Zeit, sondern auch an oft kostspieligen Ritualen, Opfern usw. nicht auch wiederum auszahlen, hätte dieses kosmologische bzw. existentielle Grübeln ausdünnen müssen.”

    Ich sehe das nicht. Einem Schöpfungsmythos zu glauben, kostet nichts. Religionen werden erst dann teuer, wenn sie ihre Anhänger dazu bewegen, kostbare Zeit auf rituelle statt auf ökonomische oder sexuelle Zwecke zu verwenden. Abgesehen von Pfarrern (die immerhin ihren Lebensunterhalt damit verdienen), gilt dies aber nicht für die religiösen Menschen der Gegenwart und gewiss noch viel weniger für die Menschen der Vergangenheit.

  14. Einmal anders gefragt

    Oder anders gefragt: Was KOSTETE es mich und was würde es mir EINBRINGEN, wenn ich vor dem Schlafengehen zwei Minuten betete und am Sonntag in die Kirche ginge, um an einer Kommunion teilzunehmen?

  15. Einwände

    Lieber Herr Dahl,

    herzlichen Dank für die Einwände.

    1. Kausalität – Korrelation. Selbstverständlich “beweist” eine Korrelation alleine nichts, legt aber schon eine Vermutung nahe. Und die Vererbbarkeit religiöser Veranlagung wurde z.B. in Zwillingsstudien (Koenig, Bouchard et al.) inzwischen gut belegt. Auch passt der Befund hervorragend zu den paläoanthropologischen Befunden, die das Auftreten des Verhaltensmerkmals erst in der mittleren Altsteinzeit und eine dynamische Zunahme von dort nahelegen – und natürlich zu neurowissenschaftlichen Befunden, die Gehirnstrukturen mit religiösem Verhalten und religiöser Erfahrung korrelieren. Bei so klarer Korrelation würden wir bei jedem tierischen Merkmal selbstverständlich erst einmal von einer Adaption ausgehen – nur Religion darf wohl nicht adaptiv sein? (-;

    1a. Welche Mechanismen?
    Sie schrieben: “Die höhere Kinderzahl religiöser Menschen mag schlicht auf moralische Normen zurückgehen, die beispielsweise eine Empfängnisverhütung und einen Schwangerschaftsabbruch verbieten.”
    Selbstverständlich, völlige Zustimmung! Weitere, pronatal wirksame Gebote wären z.B. die Beschränkung von Geschlechtsverkehr auf das Eheleben – ein schöner Anreiz zum früheren Heiraten. Oder die Überzeugung, dass Kinder “Geschenke Gottes” sind usw. Wussten Sie, dass es in der jüdischen Orthodoxie inzwischen üblich geworden ist, vor der Eheschließung einen Gentest zur Vermeidung von Tay-Sachs und anderen Gendeffekten zu machen? Religionen können außerordentlich vielfältig in der Entwicklung reproduktiv erfolgreicher Strategien sein.

    2. Sozialer Status – Reproduktionserfolg. Gerade dieser Zusammenhang besteht beim Menschen so pauschal nicht. Reiche, gebildete und mächtige Menschen bekommen weltweit durchschnittlich weniger Kinder als arme, weniger gebildete und diskriminierte. So haben z.B. Afrikaner derzeit weit mehr Kinder als Europäer und in Europa haben Zuwanderer und Arbeiter weit mehr Kinder als Akademiker usw. Aber ganz davon abgesehen: wir haben ja als erstes den Reproduktionserfolg innerhalb von Bildungs- und Einkommensklassen verglichen, mit sogar zunehmendem Ergebnis. Will heißen: bei reichen und gebildeten Menschen macht die religiöse Vergemeinschaftung einen größeren Unterschied als bei ärmeren, wenig gebildeteren. Religiosität hat hier ganz klar die Funktion einer unabhängigen Variable.

    3. Sie schrieben: “Einem Schöpfungsmythos zu glauben, kostet nichts. Religionen werden erst dann teuer, wenn sie ihre Anhänger dazu bewegen, kostbare Zeit auf rituelle statt auf ökonomische oder sexuelle Zwecke zu verwenden.”
    Wie geschrieben: die Kosmologie und religiöse Lebensführung eines orthodoxen Juden oder Amish (auch der Laien) ist “sehr” teuer – und reproduktiv außerordentlich erfolgreich. Dabei ist es interessant, wie reproduktiv erfolgreich sich orthodox-jüdische Gemeinden an Großstädte angepasst haben (z.B. New York, Zürich, Tel Aviv etc.), während die Amish im agrarischen Umfeld reüssieren.

    4. Sie schrieben: “Was KOSTETE es mich und was würde es mir EINBRINGEN, wenn ich vor dem Schlafengehen zwei Minuten betete und am Sonntag in die Kirche ginge, um an einer Kommunion teilzunehmen?” Genug, um beispielsweise potentiellen Partnerinnen zu signalisieren: ich bin ein gläubiger Mensch, erfahre mich durch Gott gesehen, geborgen, aber auch verpflichtet und werde also das Ehegelöbnis auch vor Gott ernst nehmen, ggf. Scheidungen ablehnen und wahrscheinlich Fruchtbarkeit als einen Bestandteil des Ehelebens betrachten.

    Diesen Signalen entspricht (empirisch!): dass katholische Christen eher und stabiler heiraten, mehr Kinder haben und ihre Kinder wiederum religiös erziehen als die Konfessionslosen… (-;

    Herzliche Grüße

    Michael Blume

  16. Religiosität

    Zunächst einmal: Ich habe nichts dagegen, dass Religiosität adaptiv sein mag. Ihre mögliche Adaptivität sagt ja nichts darüber aus, ob sie wahr oder falsch ist.

    Optimistisch zu denken, ist angeblich auch adaptiv, dennoch bleibe ich gern pessimistisch. In meinen Augen hat Schopenhauer nicht unrecht, als er schrieb, dass der Optimismus angesichts all des Leids und Elends in dieser Welt “eine wahrhaft ruchlose Denkungsart” sei.

    Bevor wir weiter diskutieren können, muss ich zunächst einmal eine Frage stellen: Was genau wird eigentlich gemessen, wenn man die Erblichkeit der “Religiosität” misst? Ist das Pathos, Phantasie, Demut, Dankbarkeit, Leichtgläubigkeit oder was?

    Ich denke, wenn wir die Antwort darauf haben, lässt sich besser darüber diskutieren, ob die Eigenschaft, die für “Religiosität” steht, wirklich fitnessmaximierend sein kann.

  17. Noch einmal: “Religiosität”

    Ich glaube wirklich, dass es wichtig ist, festzulegen, was wir unter “Religiosität” verstehen wollen. Wenn wir nämlich Eigenschaften wie Neugierde, Begeisterungsfähigkeit und Leidenschaft herausgreifen, sprechen wir von Eigenschaften, die sich, grob gesagt, Kosmologen und Theologen durchaus miteinander teilen. Albert Einstein hat sich ja nicht ganz ohne Grund einer mitunter religiösen Sprache bedient.

    So wie ich es sehe, brauchen wir also eine Eigenschaft, die gläubige Menschen von ungläubigen trennt.

    Da ich bezweifle, dass die Religion adaptiv ist, bin ich skeptisch, dass wir eine solche Eigenschaft finden werden.

    Was unterscheidet Ossis von Wessis genetisch? Höchstwahrscheinlich nichts! Dennoch sind im Osten rund 75 Prozent ungläubig, im Westen dagegen rund 75 Prozent gläubig. Der einzige Unterschied, der zwischen ihnen besteht, ist die Erziehung, die sie genossen haben. Anders als den westdeutschen Kindern, sind den ostdeutschen Kindern keine Märchen vom guten Jesus erzählt worden, wie er übers Meer spazierte und Tote auferweckte.

    Wenn man sich die USA näher ansieht, scheint es eher die Intelligenz zu sein, die gläubige Menschen von ungläubigen unterscheidet. Während etwa 92 Prozent der Bevölkerung Theisten sind, sind 92 Prozent der Mitglieder der Amerikanischen Akademie der Wissenschaften Atheisten.

    Ich bin gespannt, welche Eigenschaft Sie vor Augen haben, wenn sie meinen, dass gläubige Menschen gegenüber ungläubigen Menschen Fitnessvorteile haben.

  18. Beschreibung Religiosität (nach Darwin)

    Lieber Herr Dahl,

    noch einmal danke für die gute Diskussion und die präzisen Fragen!

    Also: für Religiosität kann es nach derzeitigem Kenntnisstand der Religionswissenschaft ebensowenig eine abschließende, allgemeingültige Definition geben wie für andere Produkte des menschlichen Gehirns wie z.B. Musik, Politik oder Mathematik. Möglich sind (in allen Fällen) aber annähernde Beschreibungen, die sich interessanterweise wieder dem Sprachgebrauch annähern, den auch bereits Charles Darwin verwendete.

    Dieser definierte “Religion als den Glauben an unsichtbare oder geistige Kräfte” und ging (darin womöglich weitblickender als vieler seiner “Schüler”, z.B. Dawkins) ganz selbstverständlich davon aus, dass sich auch diese Fähigkeit des Menschen über biologische Evolutionsvorteile entwickelt hat. (Abstammung des Menschen, Kap. 3, Abschnitt Gottesglaube, Religion)

    Heute würde man die Glaubens- durch die Verhaltenskomponente erweitern und ggf. statt der transzendenten Kräfte stärker auf die Personalität der übernatürlichen Akteure abstellen. Religiosität wäre demnach zu beschreiben als “Glauben an und entsprechendes Verehren von übernatürlichen Akteuren” (wie Ahnen, Göttern, Gott).

    Sowohl in den Zwillingsstudien wie auch in unseren religionsdemografischen Arbeiten wurden je beide Parameter erfasst, z.B. der Glauben über die religiöse Selbsteinschätzung (z.B. ALLBUS “Wie religiös schätzen Sie sich ein?”, von 1 bis 10), das Verhalten über die Frequenz von Gebeten und Gottesdienstbesuchen. Beide erweisen sich als sehr eng miteinander korreliert, die religiöse Praxis ist jedoch ein stärkerer Indikator mindestens für den reproduktiven Erfolg.

    Mir ist auch immer noch nicht klar, wie irgendeine menschliche Fähigkeit außerhalb unseres Gehirns und also unserer genetischen Veranlagung manifestiert werden könnte. Und völlig analog zu anderen biokulturellen Fähigkeiten wie Musikalität oder Sprachfähigkeit muss sich die Veranlagung dann natürlich auch im soziokulturellen Umfeld entfalten. Ihrem Vergleich der Ost- und Westdeutschen stimme ich daher ausdrücklich zu: für die unterschiedlichen Levels an Religiosität sind natürlich keine genetischen Unterschiede verantwortlich, sondern der Umstand, dass in Ostdeutschland die Entfaltung und Tradierung von Religiosität nicht nur nicht gefördert, sondern sogar unterdrückt wurde. (Meine Familie entstammt übrigens den neuen Bundesländern.) Hier gilt also ebenfalls völlig analog zur Musik: Wer nie in die Praxis eingeführt wurde, wird nur selten zum Virtuosen werden.

    In Summa möchte ich Ihnen also versichern, dass sich Religiosität nicht in andere menschliche (bzw. auch tierische) Veranlagungen wie Neugier, Todesfurcht o.ä. auflösen lässt. Als paläoanthropologischer Startpunkt gilt ja die Bestattung sowohl unter Homo Sapiens wie Homo Neanderthalensis – in der damit erstmals ein Glauben an ein “Weiterwirken” der Toten und ein entsprechendes Verhalten ihnen gegenüber sichtbar wird.

    Dass Erfolg kein Wahrheitskriterium ist, sehe ich (wie eingangs geschrieben) ganz genauso (Optimismus – Pessimismus ist wirklich ein gutes Beispiel! (-; ). Für den einen mag Gott der zentrale Bezugspunkt menschlichen Lebenssinns sein, für den anderen eine Mitgliedschaft in der Amerikanischen Akademie der Wissenschaften. Und ich möchte noch einmal betonen, dass die Mehrheit der Mitforscher in den Evolutionary Religious Studies Agnostiker oder gar Atheisten sind, aber eben naturwissenschaftliche Erkenntnisse als solche respektieren und suchen.

    Meine einzige Bitte ist und bleibt also die: dass gerade beinharte Naturalisten nicht plötzlich beginnen, empirischen Fakten auszuweichen, weil sie ihnen nicht ins weltanschauliche Konzept passen. Das erlebe ich leider immer wieder, auch im leider manchmal unnötig religionsfeindlichen Tenor in Spektrum der Wissenschaft.

    Religion erweist sich aber nun einmal als ein Teil der menschlichen Natur, ebenso evolviert wie Musikalität, Sprachfähigkeit und andere Vernlagungen unseres Gehirns, und ebenso naturwissenschaftlicher Beschreibung zugänglich. Und ich hoffe, dass sowohl religiöse wie atheistische Fundamentalisten endlich von ihren Bäumen herunter kommen und beginnen, auf der Basis harter, empirischer Fakten gemeinsam zu diskutieren, zu forschen und zu entdecken.

    Die gute Diskussionen mit Ihnen, Herr Dahl, hat mir ausdrücklich Mut gemacht, dass es in diese empirische Richtung laufen könnte. Danke dafür!

    Michael Blume

  19. Religion als Schicksal!?

    Dass die Religion ein Teil der menschlichen Natur ist, kann man, denke ich, von beiden Perspektiven aus behaupten – sowohl von Ihrer wie von meiner.

    In Ihrer Perspektive gehört die Religion zur menschlichen Natur, weil die Religiosität in unserer DNA kodiert ist und aufgrund ihres fitness-maximierenden Effekts von Generation zu Generation weitervererbt wird.

    In meiner Perspektive gehört die Religion zur menschlichen Natur, weil sie ein Produkt unseres Gehirns ist, das uns angesichts der Schönheit der Natur und der Endlichkeit unseres Lebens fragen und staunen lässt. Sobald wir uns einmal unserer Fressfeinde erwehrt hatten und etwas Muße besaßen, konnten wir nicht anders, als eine “Weltanschaung” zu entwickeln, die die Fragen nach unserem woher und wohin beantwortet.

    Diejenigen Weltanschauungen, die sich übernatürlicher – oder etwas vornehmer: sakraler – Erklärungen bedienen, nennen wir Religion. Diejenigen Weltanschauungen, die sich lediglich natürlicher – oder von mir aus auch: profaner – Erklärungen bedienen, nennen wir Philosophie.

    In meinen Augen sind also sowohl die Religion als auch die Philosophie bloße Weltanschauungen. Sowenig uns bestimmte Philosophien angeboren sind, sowenig sind uns bestimmte Religionen angeboren. Angeboren ist uns, wenn überhaupt, nur das Staunen, das die Griechen nicht zu unrecht als die “Mutter der Philosophie” betrachteten.

  20. Definition der Religion

    Ich hätte Religion ähnlich wie Darwin definiert, nämlich als den Glauben an übernatürliche Wesenheiten. Doch ich fürchte, diese Definition wird nicht genügen – jedenfalls nicht für Ihre Zwecke. Der bloße Glaube hat schließlich noch keinerlei Implikationen für unser Verhalten. Wenn ich glaube, dass eine Spinne diese Welt aus sich herausgesponnen hat, entstehen mir weder irgendwelche Vorteile noch irgendwelche Nachteile (es sei denn, irgendwelche Frauen würden sich ob meines absonderlichen Glaubens magisch zu mir hingezogen fühlen, was man mit guten Gründen bezweifeln darf).

    Auch Ihre eigene Definition, die neben dem Glauben auch die Verehrung einschließt, scheint mir nicht zu genügen. Selbst wenn ich der besagten Spinne jeden Tag eine Fliege “opferte”, würden mir daraus weder Vor- noch Nachteile entstehen.

    Es kann also nicht der Glaube an irgendwelche beliebigen übernatürlichen Wesenheiten sein, der adaptiv ist, sondern nur der Glaube an Wesenheiten, die mit mir in Verbindung treten und mir ein bestimmtes Handeln auferlegen. Dieses Handeln kann mir dann zu meinem Vorteil oder zu meinem Nachteil gereichen. Wenn mir dieses Wesen sagt: “Alles ist eitel”, mag ich mich (und meine Gene) in die nächste Schlucht stürzen; sagt es mir dagegen: “Sei fruchtbar und mehre dich”, mag ich mich auf Brautschau begeben und mich (und meine Gene) fortpflanzen.

    Wenn es aber letztlich die Befolgung von bestimmten Handlungsanweisungen ist, die mir biologische Vor- oder Nachteile verschafft, dann scheint es mehr die Ethik als die Religion zu sein, die adaptiv oder maladaptiv ist.

  21. Weitgehende Zustimmung!

    Lieber Herr Dahl,

    Ihren beiden Texten kann ich weitgehend zustimmen – mit einer kleinen Ergänzung.

    Ich denke nicht, dass Religiosität nur die Staunen-Dimension umfasst, sondern dass In-Beziehung-treten mit den übernatürlichen Mächten und/oder Akteuren. Sowohl zu Religionen wie säkularen Weltanschauungen treten als Teil der Verehrung daher regelmäßig z.B. Rituale, mythologische Erzählungen u.ä.

    Da das “Verehren” also schon regelmäßig das “Opfern” von Zeit, Energie und ggf. weiteren Gütern umfasst, darf es als Startpunkt betrachtet werden. Wir sind uns aber einig: adaptiv wird Religiosität (erst) dann, wenn daraus weitergehende Verhaltensnormen (kulturell) evolvieren. Daher stimme ich mit Ihnen auch darin überein, dass es keine Hinduismus- oder Katholizismus-Gene gibt, sondern plastische, religiöse Veranlagungen, die dann erst soziokulturell ausgeprägt werden. Genau in dieser Plastizität liegt ja auch ihr adaptiver Nutzen, es können sich z.B. auf neue Umweltbedingungen hin neue, religiöse Lehren entwickeln.

    Auf genau dieser Spur -einschließlich der Vermutung eines reproduktiven Vorteils, reproductive advantage- war übrigens auch schon Friedrich August von Hayek. Nun haben wir aber natürlich auch Daten dazu und können (etwa mit spieltheoretischen Experimenten) die Mechanismen beobachten. Hayek schlug übrigens vor, religiöses Wissen als “symbolische Wahrheit” zu bezeichnen, da es zwar faktisch nicht überprüfbar, aber evolutionär regelmäßig erfolgreich sei. Ich wäre da ein Stück zurückhaltender und würde lieber nur von “symbolischem Wissen” sprechen, da es ja um (sich auch ständig veränderndes) Orientierungswissen handelt, wogegen “Wahrheiten” auch in den Hochreligionen immer wieder nur erfahren/erahnt, nicht aber wirklich abschließend kodifiziert werden können.

    Zur Frage Religion als Schicksal – Ethik möchte ich noch einmal auf die Besonderheit des religiösen Glaubens hinweisen, der den adaptiven Vorteil ermöglicht. Denn einerseits stimmt es natürlich, dass ein Konfessionsloser, der sich z.B. Ehe und Familie ethisch verpflichtet fühlt, ebensoviel reproduktiven Erfolg erzielen kann wie sein religiöser Nachbar. Nur hat dieser den “Vorteil”, dass sein Ehe- und Familienversprechen eben zusätzlich von geglaubten, übernatürlichen Akteuren beobachtet und ggf. belohnt oder bestraft wird. Das ändert einfach das spieltheoretische Setting (z.B. “Diesen Ehebruch wird schon keiner sehen…” – kann ein Religiöser nur unter Verleugnung seines Glaubens sagen), zumal die gemeinschaftliche Verehrung ja auch mit einer sozialen Kontrolle in der Gemeinde einhergehen. Und noch einmal: das ist nicht einfach nur vermutet, weder Sosis, Braessler noch wir haben auch nur eine säkulare, ethische Gruppe gefunden, die mehrere Generationen lang eine vergleichbar stabile Struktur mit hoher Reproduktivität aufgewiesen hätte.

    Ob es Ahnen, Götter, Gott also im ontologischen Sinn gibt oder nicht – schon der “Glaube” an sie erweist sich in der Absicherung ethischer Verhaltensnormen als nachweisbar wirkungsvoll. Das ist eine biologische Funktion, die sich säkular bisher nicht dauerhaft substituieren ließ.

    Mit herzlichen Grüßen

    Michael Blume

  22. Ergänzend… (Kibbuz-Erfahrungen)

    …zu unserer Diskussion darf ich noch auf die unterschiedliche Performance sowohl säkularer (oft: sozialistischer) und orthodox-religiöser Kibbuz-Gemeinschaften verweisen.

    Obwohl die orthodoxen Gründungen anfangs in der Minderheit waren, erwiesen sie sich als sowohl wirtschaftlich wie reproduktiv erfolgreicher. Während die meisten säkularen Kibbuzgründungen inzwischen eingegangen sind, floriert die religiöse Kibbuz-Szene.

    Und liest man Vergleiche (auch etwa israelischer Forscher) über die Gründe für das unterschiedliche Abschneiden, so passen die Befunde haarscharf in unsere Diskussion: so wird einerseits die höhere Kinderzahl mit der orthodoxen Religiosität erklärt, aber auch der wirtschaftliche Erfolg mit dem gegenseitigen Vertrauen auf Basis sowohl sozialer Kontrolle und “zusätzlich” religiöser Observanz.

    So verbrauchen z.B. religiöse Kibbuzniks pro Kopf durchschnittlich weniger Energie. Und das liegt nicht nur am Sabbat, sondern auch daran, dass jede Energieverschwendung “von Gott” sehr wohl registriert und also als Sünde gemieden wird, selbst wenn sie von keinem Menschen wahrgenommen wird. Hier entschärft der übernatürliche Akteur also das Allmende-Problem auf einem zusätzlichen Weg, wie es eine säkulare Ideologie ohne allwissende Beobachter nicht vermag.

  23. Glaube und Zölibat …

    Als hätten sie’s gewußt, die Religionsstifter, wie sie mit Hilfe ihrer zölibatären Priester ihre Anhängerschar und damit ihren Machtbereich vergrößern. Sehr interessant!

  24. Noch einmal: Sozialer Status und reproduktiver Erfolg

    Bevor ich auf Ihren heutigen Kommentar zu sprechen komme, kurz eine weitere Bemerkung zu der bereits angesprochenen Korrelation zwischen sozialem Status und reproduktivem Erfolg.

    Ich habe mir gerade noch einmal einige Untersuchungen angesehen. Danach gleicht die gesellschaftliche Verteilung der Kinderzahl einer U-Form. Die meisten Kinder haben die reichsten Mitglieder der Gesellschaft, dann folgen die ärmsten und am Schluss folgt die Mittelschicht.

    Susan Essock-Vitale von der University of California hat beispielsweise normalsterbliche Frauen mit den Frauen verglichen, deren Männer im FORBES-Magazin stehen, also den 400 reichsten Männern. Wie sich zeigte, hatten sie signifikant mehr Kinder als ihre normalsterblichen Geschlechtsgenossinnen.

    In Deutschland hat Ulrich Mueller von der ZUMA in Mannheim die gleiche Untersuchung mit dem gleichen Resultat durchgeführt. Er hat sich dabei auf den WER IST WER, die Stammbäume des deutschen Hochadels ab 1800 und die westdeutsche Machtelite zwischen 1945 – 1989 gestützt.

    Die für mich vielleicht interessanteste Untersuchung stammt von Daniel Perusse aus Montreal. Angesichts der Verfügbarkeit von Schwangerschaftsabbruch und Verhütung hat er nicht die geborenen Kinder, sondern einfach die Zahl der Ehen, Verhältnisse und Seitensprünge gezählt. Dabei entdeckte er, dass je höher der soziale Status deines Mannes, desto größer die Zahl an Frauen, mit denen sie geschlafen haben.

    Soweit ich sehe, ist sozialer Status daher auch weit enger an reproduktivem Erfolg gekoppelt als religiöser Glaube. Auch wenn der Vergleich nicht ganz fair sein mag: Einem George Clooney werden sich immer mehr Frauen zu Füßen werfen als irgendeinem Mann von den Amish.

  25. Im Anfang war das Staunen

    “Ich denke nicht, dass Religiosität nur die Staunen-Dimension umfasst, sondern das In-Beziehung-treten mit den übernatürlichen Mächten.”

    Im Anfang war das Staunen. Das Staunen wirft Fragen auf: Woher kommt diese Welt? Warum gibt es so viel Leid und Elend auf dieser Erde? Und: Was passiert eigentlich nach meinem Tode? Erst die Antworten auf diese Fragen sind entweder als religiös oder philosophisch zu bezeichnen.

    Auf die Gefahr, mich zu wiederholen: Ich glaube, dass die Menschen ihr Staunen ihrem hochentwickelten Gehirn verdanken. Die existenziellen Fragen, mit denen sie sich plötzlich konfrontiert sahen, waren daher ein Nebenprodukt der Evolution unseres Gehirns. Damals wie heute suchen die Menschen sich einen Reim darauf zu machen, was es mit diesem Leben eigentlich auf sich habe. Entsprechend des Wissensstands fielen die damaligen Antworten offenbar etwas naiver aus als die heutigen.

    Sie hatten zu Beginn unserer Unterhaltung gesagt, dass jedes genetische Merkmal von von Beginn an adaptiv sein muss, um sich von einem simplen zu einem komplexen System entwickeln zu können.

    Ein Gen für Religiosität im Sinne eines Glaubens an übernatürliche Wesenheiten, kann aber, wie erwähnt, noch nicht adaptiv sein, weil der bloße Glaube an irgendeinen Schöpfer noch keinerlei reproduktive Vorteile mit sich zu bringen vermag. Selbst wenn die Menschen in einem zweiten Schritt dazu übergehen, nicht nur an einen Schöpfer zu glauben, sondern ihn sogar zu verehren, hat dies noch keinerlei biologische Konsequenzen, da das bloße Verehren noch keine reproduktiv relevanten Verhaltensweisen mit sich bringt. Ich verehre Richard Burton und ich vergöttere geradezu Sophia Loren, doch diese Form der Anbetung hat mich noch nie etwas gekostet und mir bedauerlicherweise auch noch nie etwas eingebracht. Es ist also ein dritter Schritt erforderlich: Der Glaube an einen Schöpfer, der ein persönliches Wesen ist, der mit mir in Beziehung tritt und mich dazu auffordert, bestimmte Dinge zu tun und andere zu unterlassen. Ist dies nach Ihrem ursprünglichen Ausgangspunkt nicht aber schon ein recht komplexes Glaubenssystem? Insofern es der dritte Schritt in der Entwicklung religiöser Glaubensvorstellungen zu sein scheint, müssen Sie zeigen können, dass bereits die beiden vorangegangenen Schritte biologische Vorteile mit sich brachten.

  26. Status – Religion

    Zum Zusammenhang Status – reproduktiver Erfolg gäbe es viel zu schreiben. Zum Beispiel stellt sich die Situation für Frauen etwas anders dar als für Männer usw.

    Allerdings sehe ich nicht, wie das mit unserem Thema hier zusammenhängt. Denn wie Sie z.B. in der ALLBUS-Umfrage sehen können, besteht die höhere Reproduktivität religiöser Menschen AUCH INNERHALB der jeweiligen sozialen Schicht. Die religiöse Arbeiterfamilie hat mehr Kinder als die säkulare Arbeiterfamilie, der religiöse Millionär mehr Kinder als der säkulare. Die Frage hier ist also doch nicht, ob Geld, Schönheit, Klugheit etc. “auch” einen Einfluss auf die Kinderzahl haben, sondern ob Religiosität einen eigenständigen Einfluss hat. Und das ist, nach allen Daten, die ich kenne, weltweit so der Fall.

    Sehr schön finde ich daher auch das von Ihnen gewählte Beispiel: “Soweit ich sehe, ist sozialer Status daher auch weit enger an reproduktivem Erfolg gekoppelt als religiöser Glaube. Auch wenn der Vergleich nicht ganz fair sein mag: Einem George Clooney werden sich immer mehr Frauen zu Füßen werfen als irgendeinem Mann von den Amish.”

    Nun hat sich George Clooney neulich in einem Interview dazu geäußert, dass er nun einmal keine Kinder wünsche. Und genau das ist der Punkt: es kommt evolutionsbiologisch eben nicht primär darauf an, wie viele Sexualpartner sich “vor die Füße werfen”, sondern wie viele Kinder daraus entstehen. Und dabei hängt die durchschnittliche Amish-Familie eben die gesammelten Hollywood-Schauspieler ab.

    Ein Buch, dass das Thema übrigens recht breit behandelt, ist Eckart Volands neues “Die Natur des Menschen”. Er behandelt kapitelweise differentielle Reproduktionsstrategien (z.B. bis in das Schwiegerelternverhältnis hinein), erkennt aber den massiven Reproduktionsvorteil durch religiöse Vergemeinschaftung an.

    Also: ja, es gibt sehr viele Einflußfaktoren auf das Geburtenverhalten wie Status, Aussehen, ökonomische Umgebung (ein sehr wichtiger Faktor!) etc. Aber nach allen verfügbaren Daten weist hohe Religiosität ihren reproduktiven Vorteil eben auch unabhängig davon auf – und darin liegt ihre Adaptivität.

  27. Wissen der Religionen – Kulturelle Evolution

    Sehr geehrte Frau Bauer,

    herzlichen Dank für Ihren kurzen, aber präzisen und ermutigenden Kommentar!

    Wir müssen nach derzeitigem Kenntnisstand nicht davon ausgehen, dass religiöse Akteure (auch Gründer oder Oberhäupter von Religionsgemeinschaften) bewusstes “Wissen” erfolgreicher Reproduktionsstrategien umsetzten. Vielmehr beobachten wir auf dem Feld der Religionen ein ständiges Entstehen von Neugründungen, -interpretationen und Absplitterungen, von denen es nur ein Bruchteil jemals auf eine relevante Größe bringt. Und auch von dieser kleinen Zahl von Gruppen wird wiederum nur ein Bruchteil historisch wirksam. Sowohl E.O. Wilson wie F.A. Hayek haben diese “kulturelle Auslese” beschrieben.

    Anders formuliert: zur Weltreligion steigen nur Gemeinschaften auf, die (auch) reproduktiv erfolgreiche Strategien entwickeln. Das geschieht häufig auch über interne Vielfalt, die sich dann im Wettbewerb misst. So waren sowohl Buddhismus wie Christentum im Anfang keinesfalls so einheitlich familienorientiert, wie es uns z.B. Eva Herman weismachen möchte. In der historischen Realität gab (und gibt) es ganz unterschiedliche Ansätze und Familienmodelle – und immer wieder setzten und setzen sich jene durch, die (auch) durch hohe Kinderzahlen ihre Position durchsetzen konnten. Derzeit haben z.B. in der Schweiz die traditionalistischen Gemeinschaften der Neuapostolischen Kirchen und Zeugen Jehovas sehr viel weniger Kinder als z.B. Frei- und Pfingstkirchen mit hohen Anteilen auch arbeitender Mütter (aber alle haben weit mehr Kinder als Konfessionslose). Und prompt überaltern NAK und Zeugen Jehovas und verlieren damit auch missionarische Ausstrahlung: die NAK musste vor wenigen Wochen zwei Berliner Kirchen an Moscheevereine kaufen usw.

    Der Clou der Religiosität (wie anderer biokulturellen Fähigkeiten wie z.B. Musikalität) besteht also gerade darin, dass sich aus der Vielfalt heraus immer wieder neue, erfolgreich an die jeweilige Umwelt angepasste Produkte herausbilden können, ohne dass es eines einzelnen “Intelligent Designer” dafür bräuchte. Evolution ist eine starke Theorie, ggf. noch viel stärker, als viele Wissenschaftler sich bislang träumen lassen.

  28. Am Anfang war der Ahnenkult

    Lieber Herr Dahl,

    Sie haben völlig Recht: nach Ihrer These eines uranfänglichen “Staunens” wäre die Entwicklung adaptiver Vorteile und komplexer Glaubenssystme recht schwer zu erklären. Sie entspräche auch nicht den paläoanthropologischen Befunden: denn lange vor symbolischen Zeichnungen, Himmelsobservatorien etc. haben wir Befunde zunehmend komplexer Bestattungen.

    Die US-Anthropologen Craig Palmer und Lyle Steadman haben schon vor längerer Zeit den Ansatz der “descendant leaving strategy” entwickelt: tendenziell wurden und werden jene Eltern ihre Gene erfolgreicher weitergeben, die ihren Nachkommen erfolgreiche Lebens- und Reproduktionsstrategien übermitteln.

    Wie Craig & ich dann feststellten (und derzeit gemeinsam publizieren), passt das wunderbar zusammen: schon die Ahnung eines “Weiterlebens” der Eltern würde sich wiederum adaptiv auswirken, indem es die Verbindlichkeit der Weisungen erhöht.

    Entsprechend haben wir

    1. Anzeichen von Trauer und ggf. verarbeitendem Verhalten im Todesfall naher Angehöriger schon bei höheren Säugetieren wie Elefanten und einigen Affenarten

    2. Bestattungen als erste belegbare Funde, die auf religiöses Verhalten verweisen

    3. Belege aus der Kognitionspsychologie (v.a. Berings), wonach schon Menschenkinder eine “intuitive Theologie” des Weiterlebens Verstorbener vertreten, die ihnen dann erst teilweise “abtrainiert” wird.

    4. Sowohl komplexe Bestattungsrituale wie auch ausgereifte Mythologien über das “wichtige Wissen der Vorfahren” wie auch über Tote, die aus den Gräbern kommen, um Verfehlungen zu rächen bzw. nicht eingehaltene Gelübde zu sühnen in praktisch allen Weltkulturelen (sog. Universalie).

    Die Befunde deuten also eher darauf hin, dass am Anfang der Ahnenkult stand, der sich erst dann (mit auch steigender Bevölkerungsdichte) in abstraktere Formen kleidete. Das würde i.Ü. auch dazu passen, dass Religiöse ihre Götter gerne als Familienvorfahren ansprechen (“Vater!”, “Mutter!”) und auch untereinander Familiennomen pflegen (“Liebe Brüder und Schwestern.”).

  29. Am Anfang war der Ahnenkult

    Bevor ich mich etwas ausfürhlicher zu Worte melde, kurz eine Anmerkung zu Ihrem letzten Kommentar:

    “Sie haben völlig Recht: nach Ihrer These eines uranfänglichen “Staunens” wäre die Entwicklung adaptiver Vorteile und komplexer Glaubenssystme recht schwer zu erklären.”

    Ich hoffe, Ihnen ist nicht entgangen, dass Sie sich hier einer groben Beweiserschleichung schuldig machen. Sie setzen kuzerhand die Adaptivität von Glaubenssystemen voraus, während es in unserer Diskussion doch gerade darum geht, sie erst einmal zu erweisen.

    Mein Ansatz hat keinerlei Probleme mit der Erklärung “komplexer” Glaubenssysteme. Für mich steht, wie erwähnt, das Staunen und Wundern am Anfang. Dieses Staunen und Wundern wirft Fragen nach unserem Woher und Wohin auf. Die erste Antwort, die sich unsere Vorfahren auf diese Fragen gegeben haben mögen, bestand vermutlich in einer Art Schöpfungsmythos. Der Schöpfer, an den man glaubte, ist dann wahrscheinlich schrittweise von einem zunächst unpersönlichem Wesen zu einem persönlichen Wesen und schließlich zu jenem komplexen Wesen geworden, an das beispielsweise Christen heute glauben. Dogmen wie die Trinität oder die Transsubstantiation sind sicher Glaubensvorstellungen jüngeren Datums, die erst auf der Grundlage einer immer ausgefeilteren Theologie entstehen konnten, in der man gezwungen zwar, Konsistenz in sein Glaubenssystem zu bringen: “Ist Gott höchstpersönlich auf die Erde gekommen oder war es vielleicht sein Sohn; und wenn es sein Sohn war, wie kann Gott dann nur eine Person sein; muss er nicht vielemehr aus mehereren Personen bestehen?” etc.

    Mit anderen Worten: Die wachsende Komplexität religiöser Vorstellungen lässt sich genau wie die wachsende Komplexität philosophischer oder juristischer Vorstellungen aus der zunehmenden Beschäftigung mit diesen Vorstellungen verstehen – ohne dass man auf irgendeine genetische und biologisch adaptive Grundlage zurückgreifen muss.

  30. Ein letztes Mal: sozialer Status und reproduktiver Erfolg

    Der Zusammenhang zwischen sozialem Staus und reproduktivem Erfolg ist in der Tat nicht von unmittelbarer Relevanz für unser Thema. Mittelbar aber doch! Denn es geht darum, neben einer bloßen Korrelation von Religiosität und Kinderzahl eine Kausalität von Religiosität und Kinderzahl aufzuzeigen. Die Korrelation von sozialem Status und reproduktivem Erfolg hat hier sozusagen Vorbildcharakter, da wir hier auch den kausalen Mechanismus verstehen: Mehr Geld, mehr Frauen, mehr Kinder. Die Frage ist: Gibt es einen vergleichbaren kausalen Mechanismus zwischen Religiosität und Kinderzahl? Und wenn ja, wie sollte er aussehen: “Je frömmer, desto attraktiver und folglich mehr Kinder”!?

  31. George Clooney – Ein häufiges Missverständnis

    “Nun hat sich George Clooney neulich in einem Interview dazu geäußert, dass er nun einmal keine Kinder wünsche. Und genau das ist der Punkt: es kommt evolutionsbiologisch eben nicht primär darauf an, wie viele Sexualpartner sich “vor die Füße werfen”, sondern wie viele Kinder daraus entstehen. Und dabei hängt die durchschnittliche Amish-Familie eben die gesammelten Hollywood-Schauspieler ab.”

    Dies ist, fürchte ich, ein grobes Missverständnis der Evolutionsbiologie. Die natürliche Selektion hat Männer prämiert, die ehrgeizig und erfolgreich waren, da “Erfolg sexy macht”. Das genetische Programm “Versuche auf der sozialen Stufenleiter soweit als möglich nach oben zu klettern!” ist zu einer Zeit entstanden, als weder Verhütungsmittel noch Schwangerschaftsabbrüche in Sicht waren. Über Jahrmilionen hat es sich daher auch für Männer reproduktiv ausgezahlt, erfolgreich zu sein. Dass es sich im Zeitalter der Pille nicht mehr in derselben Weise auszahlt, ist kein Einwand gegen die Adaptivität eines hohen sozialen Status. Daher gefiel mir ja auch Perusses Untersuchung, in der er statt der Zahl der Kinder, die Zahl der Frauen zählte, mit denen arme und reiche Männer geschlafen hatten. Denken Sie sich für einen Moment die Pille weg und Sie werden sehen, dass erfolgreiche Männer mehr Kinder zeugen.

    Zudem darf man nicht den Fehler machen, zu unterstellen, dass wir dem biogenetischen Imperativ zur Fitness-Maximierung “bewusst” folgen. Die Menschen haben nie Sex gehabt, um ihre Gene weiterzugeben, sondern schlicht und einfach, weil sie Spaß daran hatten. Dass sie Spaß daran hatten, hat dann aber automatisch dafür gesorgt, dass sie ihre Gene weitergaben. Dass sich einige Menschen, wie offenbar auch George Clooney, bewusst gegen Kinder entscheiden, ist daher kein Einwand.

  32. George Clooney

    Genau die von Ihnen beschriebene Entkoppelung von Sex und Geburten halte ich für hochinteressant. Und, nein, die kannte nicht erst George Clooney. Schon Wildbeutervölker haben ein differenziertes Verständnis von Sexualität und Verhütung, oft auch pflanzliches und technisches Wissen dazu, manchmal wird zusätzlich Infantizid praktiziert. Die Vorstellung, erst in den letzten paar Jahrhunderten hätten gebildete Europäer begonnen, über ihre Kinderzahl bewusst nachzudenken, halte ich für eurozentrisch.

    Ein schönes Beispiel für reproduktive Vorausplanung und die von Ihnen völlig zu Recht gesehene Entkoppelung von Sex und Geburten haben wir beispielsweise in der Bibel, Genesis 38: der biblische Onan will mit Tamar gerne Beischlaf haben, aber kein Kind zeugen. Also “lässt er seinen Samen zur Erde fallen” – Coitus interruptus. Und das ist in einer sehr alten, wahrscheinlich schon auf mündliche Überlieferungen zurück gehenden Schrifttradition. (Gott ist übrigens nicht einverstanden – er besteht auf Reproduktion… Schon hier war es also reproduktiv förderlich an ihn zu glauben… (-; )

  33. Sexualität und Reproduktion

    Ich wollte selbstverständlich nicht sagen, dass es in der Vergangenheit nicht auch schon eine Entkopplung von Sexualität und Reproduktion gegeben hat. Sicher, Menschen haben zu allen Zeiten unerwünschte Kinder vernachlässigt, ausgesetzt oder gar getötet. Doch auch hier waren es eher die armen Teufel, die sich keine zusätzlichen Kinder leisten konnten und zu so grausamen Mitteln greifen mussten, als die reichen.

    Ich sehe mir jetzt mal das Kapitel aus Eckart Volands neuem Buch an. Bis gleich!

  34. Eckart Voland

    Ich bin ein großer Bewunderer von Eckart Voland. Dennoch finde ich sein Kapitel zur Evolution der Religion nicht sonderlich überzeugend. Natürlich hat er recht, dass Religionen – wenn sie einmal enstanden sind – Vorteile mit sich bringen: Sie stärken das Wir-Gefühl, mögen die Opferbereitschaft des Einzelnen erhöhen und so weiter. Doch das ist nicht die Frage. Die Frage ist, wie konnte sich die Religion überhaupt entwickeln? Sofern wir nicht an Gruppen-Selektion glauben, müssen wir uns auf die Suche nach den biologischen Vorteilen für das Individuum machen. Inwieweit sollten Individuen, die Träger eines Gens für Religiosität sind und an Geister, Götter und Dämonen glauben, irgendwelche Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteile gegenüber anderen Individuen haben?

    Die einzige Brücke, die mir von einer naturalistischen zu einer supernaturalistischen Weltsicht zu führen scheint, sind die von Voland angesprochenen “intuitiven Ontologien”. Es könnte sein, dass religiöse Vorstellungen nicht einfach die Antwort auf die existenziellen Fragen sind, mit denen uns unser Neokortex plötzlich konfrontierte, sondern dass sie tatsächlich auf “magischen” und “animistischen Intuitionen” beruhen.

    Das Beispiel das Voland benutzt, ist aber wenig überzeugend. Wenn man durch einen Wald geht, in dem Feinde oder Raubtiere lauern können, ist es adaptiv, auf der Hut zu sein und sich bei dem leisesten Rascheln der Blätter in Sicherheit zu begeben. Inwieweit sollte nun aber derjenige, der sich nicht nur vor einem möglichen Feind oder Raubtier, sondern zusätzlich noch vor einem Geist versteckt, irgendwelche Überlebensvorteile haben? Furcht vor realen Gefahren ist adaptiv genug – es bedarf keiner zusätzlichen Furcht vor imaginären Gefahren. Eine solche Furcht vor imaginären Gefahren mag sogar maladaptiv sein.

    Kennen Sie “The Intuitive Magician” von Bruce Hood? Ich habe diesen Artikel letztes Jahr mal irgendwann gelesen und war recht beeindruckt. Er geht nicht soweit zu behaupten, dass wir alle “geborene Theisten” sind; doch nach ihm sind wir gewissermaßen “geborene Animisten”. Ich sehe mir den Text heute oder morgen noch einmal an, um zu prüfen, inwieweit er die Adaptivität animistischen und magischen Denkens plausibel macht

  35. Staunen oder Ahnenkult

    Ich verhehle nicht, dass ich die These eines uranfänglichen Staunens sehr schön finde. Nur gelten in der Religionswissenschaft und insbesondere in den interdisziplinären Evolutionary Religious Studies inzwischen sehr hohe Erwartungen: eine Evolutionstheorie zur Religiosität sollte die paläoanthropologischen Befunde einbeziehen (die mit Bestattungen beginnen und kosmologisch-symbolische Artefakte erst sehr spät aufweisen) und sollte ein Set empirischer Daten und ggf. (insofern neurobiologische bzw. kognitive Hypothesen enthalten sind) experimenteller Befunde aufweisen bzw. solche zu integrieren vermögen.

    Die “intuitiven Ontologien” in Volands Kapitel teile ich ausdrücklich, der Ausdruck stammt von Pascal Boyer (“Religion explained”), der damit 2002 einen sehr fruchtbaren kognitionspsychologischen Ansatz auf Basis ethnologischer Beobachtungen und auch experimenteller Fragen vorstellte. Und ich darf noch einmal darauf verweisen, dass v.a. Bering in inzwischen mehreren Experimenten mit Kindern eine solche “intuitive Ontologie” (er schreibt sogar von “intuitiver Theologie”) vorweisen konnte, nach der schon kleine Kinder z.B. ganz selbstverständlich ein bestimmtes “Weiterleben” nach dem Tod annehmen.

    Auf Ihre Nachfrage also gerne noch einmal: ja, ich halte religiöse Vergemeinschaftung für demografisch nachgewiesen adaptiv, indem sie v.a. den Reproduktionserfolg vorausplanender Akteure (Homo Sapiens und Homo Neanderthalensis) relativ zu säkularen Zeit- und Schichtgenossen beflügelt(e). Wie Sie gesehen haben, hat auch Voland die entsprechenden Daten nicht nur anerkannt, sondern auch in sein Buch übernommen.

    Der Glauben an und die Verehrung von übernatürlichen Akteuren (beginnend mit den eigenen Vorfahren bzw. Verwandten) bewirkte und bewirkt m.E.

    1. die Vermittlung von und Motivation zu erfolgreichen Lebens- und Reproduktionsstrategien (descendant leaving strategies oder symbolisches Wissen), wie auch schon die ersten Worte des biblischen Gottes an den Menschen formulieren “Seid fruchtbar und mehret euch!” (Gen 1,28) – und wie es heutige, demografische Daten reichlich belegen

    2. die Absicherung von Kooperationen durch deren wahrgenommene “Überwachung” durch die übernatürlichen Akteure, am evolutiv wohl wichtigsten dabei die Ehekooperationen. Auch hier lässt der Hintergrund der Goetheschen “Gretchenfrage” (Religiosität als Indiz für Kooperationstreue und also Vorteil in der sexuellen Selektion) nicht nur in der Theorie und vergleichenden Beobachtung erschließen (Ehen sind Universalien und fast weltweit werden sie unter Anrufung der übernatürlichen Akteure eingesegnet) – sondern vor allem auch wiederum empirisch am Vergleich des Heiratsverhaltens, Scheidungsquoten etc. belegen. (Z.B. Daten Schweizer Volkszählung)

    3. Damit die Glaubwürdigkeit religiöser Akteure wechselseitig bestärkt und die Kooperationsfähigkeit religiöser Gemeinschaften gesichert werden kann, enthalten religiöse Lehren regelmäßig “costly requirements” (regelmäßige Gemeinschaftsversammlungen, Initiationsriten, Opfer, Rituale, Kleidungs- und Speisegebote etc.), die nach innen als “ehrliche Signale” wirken und Trittbrettfahrer abschrecken. Auch dieser Aspekt der Theorie kann sich etwa auf empirische Arbeiten von Sosis und Bressler berufen – Religionsgemeinschaften mit mehr costly requirements haben durchschnittlich längere Lebensdauern als “liberale” Gruppen, säkulare Gemeinschaften profitieren dagegen von den costly requirements kaum.

  36. Intuitive Magician

    Nein, den Text kenne ich noch nicht – aber er klingt sehr interessant! Danke für den Tip, das werde ich mir anschauen!

    Für Sie auf jeden Fall interessant dürfte Pascal Boyer sein, der übrigens ebenfalls Religiosität als Epiphänomen beschreiben wollte. Wie es aussieht, werde ich nächstes Jahr die Gelegenheit zu einer Tagung mit ihm zum Thema haben, wie sich überhaupt derzeit unglaublich viel vernetzt und tut.

    Und das war ja auch nur der Sinn meines Wissenslogbeitrags: aufzuzeigen, dass sich in der Kombination historischer und empirischer Befunde sowie vor allem verschiedenster Disziplinen derzeit im Bereich “Evolution religiöser Veranlagungen” sehr viel tut.

    Und da möchte ich ausdrücklich zum Mitdenken und Mitmachen ermuntern! (-:

  37. “The Intuitive Magician”

    Ich kann Ihnen gern eine PDF-Datei des Textes schicken.

    Alternativ findet man den Text auch unter:

    http://www.dana.org/…cerebrum/detail.aspx?id=114

    Haben Sie schon irgendwelche genaueren Details oder gar das Programm zu der Tagung im nächsten Jahr?

  38. Paläoanthropologische Befunde

    “Ich verhehle nicht, dass ich die These eines uranfänglichen Staunens sehr schön finde. Nur gelten in der Religionswissenschaft und insbesondere in den interdisziplinären Evolutionary Religious Studies inzwischen sehr hohe Erwartungen: eine Evolutionstheorie zur Religiosität sollte die paläoanthropologischen Befunde einbeziehen (die mit Bestattungen beginnen und kosmologisch-symbolische Artefakte erst sehr spät aufweisen) und sollte ein Set empirischer Daten und ggf. (insofern neurobiologische bzw. kognitive Hypothesen enthalten sind) experimenteller Befunde aufweisen bzw. solche zu integrieren vermögen.”

    Was wir tun, wenn wir über die Ursprünge der Religion nachdenken, ist ja letztlich reine Spekulation. Daran ist selbstverständlich nichts auszusetzen, solange wir uns dieser Tatsache nur deutlich bewusst bleiben.

    So wie es sehe, setzen die paläoanthropologischen Befunde, wie etwa bestimmte Bestattungsriten, bereits eine Metaphysik voraus. Wir können also nicht mit den Bestattungsriten beginnen, sondern müssen weitergehen und das Weltbild zu rekonstruieren suchen, das diese Menschen besaßen.

  39. Die Metaphysik der Schimpansen

    Ich habe vor einiger Zeit mal gelesen, dass bereits Schimpansen religiöse Riten kennen. Wenn es regnet und einfach nicht aufhören will zu regnen, nehmen sie sich angeblich Stöcke, tanzen im Kreis und bedrohen den Himmel.

    Angenommen, dies ist wahr. Müssen wir uns dann nicht drei Fragen stellen? Erstens, hat dieses Verhalten eine genetische Grundlage? Zweitens, falls es eine genetische Grundlage hat und Schimpansen tatsächlich “geborene Animisten” sein sollten, die hinter den Wolken einen Geist vermuten, den sie mit ihrem Verhalten einschüchtern oder beschwichtigen wollen, welchen biologischen Vorteil hat dieses Verhalten dann? Und drittens schließlich: Wie sind die Schimpansen zu dem Animismus gekommen, der sie den Himmel bedrohen lässt – sollten “animistische Schimpansen” tatsächlich größere Überlebens- oder Fortpflkanzungschancen haben als “naturalistische Schimpansen”?

  40. Jenseits der Spekulation

    “Was wir tun, wenn wir über die Ursprünge der Religion nachdenken, ist ja letztlich reine Spekulation.”

    Genau das ist es nicht mehr. Wie bei allen anderen Themen der Evolutionsforschung auch können wir das Evolutionsmerkmal Religiosität aus der Perspektive verschiedener historischer Disziplinen, der Genetik sowie mit vergleichenden Beobachtungen, Studien und Experimenten an zeitgenössischen Homo Sapiens Thesen entwerfen und überprüfen. Damit haben wir eine sehr viel breitere Datenbasis als zum Beispiel zum Brutverhalten der Dinosaurier – dennoch würden allenfalls Kreationisten sagen, wir könnten über das Leben der Saurier “nur spekulieren”, weil doch die ganze Evolutionstheorie unbeweisbar und eine lückenlose Fossilkette nicht herstellbar sei…

    Ich kann mich da nur wiederholen: wenn sowohl Geistes- wie Naturwissenschaftler die (religiösen oder religionskritischen) Scheuklappen weglassen und sich auf empirische Befunde verschiedenster Disziplinen einlassen, lässt sich das Verhaltensmerkmal Religion ebenso erforschen wie Musik, Sprache etc. Und die Daten deuten klar darauf hin, dass es sich ebenso über (bis heute wirksame) adaptive Vorteile entfaltet hat: Phänotypen, die Verhaltensmerkmal R ausgeprägt haben, weisen beobachtbar deutlich höhere Paarungsstabilität und Reproduktionserfolge auf – auch unter Bedingungen, die andere Erklärungsfaktoren weitgehend ausschließen (z.B. orthodoxe Juden, Amish).

    Ich muss, ehrlich gesagt, schon manchmal schmunzeln, warum da plötzlich manche Naturwissenschaftler auf einem “Es kann nicht sein!” bestehen wollen, die doch den Religiösen stets empfohlen haben, sich vorurteilsfrei mit wissenschaftlichen Fakten zu befassen…

    “So wie es sehe, setzen die paläoanthropologischen Befunde, wie etwa bestimmte Bestattungsriten, bereits eine Metaphysik voraus. Wir können also nicht mit den Bestattungsriten beginnen, sondern müssen weitergehen und das Weltbild zu rekonstruieren suchen, das diese Menschen besaßen.”

    Nein, wir brauchen kein geschlossenes Weltbild (das bieten auch heutige Religionen immer nur temporär), sondern lediglich die Fähigkeit von Menschen, “intuitive Ontologien” (Boyer, Voland) zu kreieren. Und dass Kognitionspsychologen wie Bering einen intuitiven Glauben an ein Weiterleben bei Kindern experimentell aufgezeigt haben, hatte ich bereits erwähnt.

    “Ich habe vor einiger Zeit mal gelesen, dass bereits Schimpansen religiöse Riten kennen. Wenn es regnet und einfach nicht aufhören will zu regnen, nehmen sie sich angeblich Stöcke, tanzen im Kreis und bedrohen den Himmel.”

    Solche Beobachtungen wären, wenn sie seriös und verifizierbar sind, hoch interessant, sind aber mir und -soweit ich sehen kann- den Kollegen unbekannt. Und wir hatten z.B. auf der Evolution of Belief-Tagung in Delmenhorst einige Primatologen dabei, mit denen wir z.B. intensiv sexuelle Selektionsstrategien (auch im Hinblick auf die o.g. Gretchenfrage) diskutieren konnten. Auf erkennbar religioides Verhalten bei Schimpansen hätten sie uns, meine ich, hingewiesen, auch bei De Waal et al. habe ich bislang nichts darüber gefunden.

    Ihnen noch einmal danke für die gute Diskussion (die jedoch m.E. etwas Gefahr läuft, sich im Kreis zu drehen) – und von Herzen einen guten Rutsch ins neue Jahr! Vielleicht besteht ja einmal die Chance zu einem persönlichen Kennenlernen, ich würde mich freuen! (-:

  41. Zu Ursprung und (weiteren) Entwicklung von Religiosität

    Bei der Diskussion um die mögliche Herkunft von Phänomenen, die wir heute wie selbstverständlich und damit zumeist ohne Gründe dafür anzugeben oder gar zu reflektieren “religiös” nennen, wird zwar immer wieder auf das Denken und Fühlen von frühen Menschen Bezug genommen. Für mich verblüffend ist aber die Tatsache, dass selbst Fachleute kaum belastbare psychologische Überlegungen dazu vorlegen. Am meisten habe ich bei meiner kursorischen Lektüre noch das ein Jahrhundert alte Werk von William James über “Die Vielfalt religiöser Erfahrung” angegeben gefunden.

    Aufgefallen ist mir außerdem, dass – wiederum wie selbstverständlich – zumeist auch davon ausgegangen wird, frühe Menschen hätten schon gedacht wie wir heute, eine Voraussetzung, die ich für methodisch fragwürdig halte; denn hier besteht die Gefahr, eigenes Denken schlicht anderen und insbesondere Menschen zu unterstellen, die vor zwei- bis dreihunderttausend Jahren gelebt haben: Überlegungen und Argumentationen auf dieser Ebene laufen besondere Gefahr schlicht zirkulär zu sein.

    Der einzige Wissenschaftler, den ich kenne, der ein derartiges Vorgehen vermieden hat, war der verstorbenen Princeton-Psychologe Julian Jaynes. Ich möchte daher auf sein 1976 erschienenes Werk “The Origin of Consciousness…” hier zumindest hinweisen. Über den Wikipedia-Eintrag zu Person und Werk sind weitere Informationen zu erhalten, insb. der komplette Text der deutschen Übersetzung seines Werks sowie eine Darstellung seiner wichtigsten psychologischen Überlegungen von mir, die auch über einen Klick auf meinen Namen hier zu erreichen ist.

  42. Bloßes Missverständnis

    Ich fürchte, Sie missverstehen mich. Selbstverständlich sind die empirischen Daten zur Korrelation von Religiosität und Kinderzahl sowie die Untersuchungen zu den intuitiven Ontologien keine bloßen “Spekulationen”. Spekulativ sind lediglich unsere Überlegungen zu den Ursprüngen religiösen Denkens: Wie hat alles angefangen? Mit dem Staunen? Mit einem Geistesblitz? Einem Mythos? Oder einem Gen, das seine Träger zu animistischen oder metaphysischen Gedanken verhalf.

    Wie erwähnt, bin ich durchaus bereit, die Existenz eines “religiösen Gens” anzunehmen. Ich will nur eine Antwort auf die Frage, inwieweit animistische Menschen gegenüber naturalistischen Menschen irgendwelche Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteile haben.

    Unabhängig davon, ob die Geschichte über die Schimpansen (die ich mal bei Vitus B. Dröscher gelesen habe) wahr ist oder nicht – es ist ein gutes Gedankenexperiment. Wie sind sie zu ihrem animistischen Weltbild, das sie hinter den Wolken eine Person vermuten lässt, gekommen? Welchen adaptiven Vorteil sollten animistische Schimpansen gegenüber naturalistischen haben? Ist das nicht eine interessante und faire Frage?

    Sobald man die biologischen Vorteile animistischen, magischen oder religiösen Denkens aufgezeigt hat, befindet man sich auch auf einer weit besseren Grundlage, um den Zusammenhang von Reproduktion und Religion in heutigen Gesellschaften zu verstehen. Lassen Sie uns doch also erst kurz über die Schimpansen und dann über die Amish sprechen.

  43. Homo Causalis?

    Sehr geeehrte Diskutierende, insbes. Herr Blume und Herr Dahl,

    ich bin eben erst auf diese Diskussion hier gestoßen, habe sie mir in den letzten ca. zwei Stunden zu Gemüte geführt und bin sehr positiv von deren Niveau überrascht.

    Ein Aspekt, der m.E. noch nicht (oder nur am Rande) angesprochen wurde, ist einer, den ich zumindest teilweise in Hoods Web-Beitrag zu erkennen glaube: Die evolutionäre Entwicklung der diversen religiösen Praktiken (und auch Reproduktionsergebnisse) aus einem einfachen Prinzip heraus.

    Als solches sehe ich das Prinzip der evolutionären Nische. Jede (zufällig durch Mutationen entstandene!) Spezies versucht m.E., eine solche möglichst noch brachliegende Nische zu identifizieren und durch entsprechende Anpassung im Lauf der Generationen möglichst effektiv zu besetzen. Dies kann relativ kurzfristig sein, wie es wohl der Säbelzahntiger vorgemacht hat, oder eben langfristig, wie es die derzeit existierenden und schon lange existierenden Arten vormachen.

    Die ökologische Nische, die sich der Mensch wohl zu eigen gemacht hat, dürfte die möglichst gute Welterklärung durch Kausalität sein. Dieses ständige Fragen nach Ursachen und das Erkennen von Wirkzusammenhängen dürfte dem körperlich eher mittelmäßigen Homo Sapiens seinen spezifischen Selektionsvorteil gegeben haben.

    Für viele hunderttausend Jahre beschränkte sich aber die Kausalität auf die unmittelbaren Welterklärungen des Alltäglichen. Und wenn man halt keine real-kausalen Zusammenhänge (für Erdbeben, Feuersbrünste, Dürren, …) finden kann, aber qua Genom auf das Erklären geradezu fixiert ist, muss man irgendwann auf die finale Erklärung durch Postulierung eines höheren Wesens zurückgreifen. Sobald dieses höhere Wesen im Sinne einer eines evolutionären Quantensprungs jedoch erfunden ist, ergeben sich m.E. viele der diskutierten Effekte geradezu zwangsläufig:

    Wenn es einen Gott als kausale Ursache für all die ansonsten unerklärbaren Naturphänomene (einschließlich echt zufälliger Effekte!) gibt, werden Menschen versuchen, diese Ursache in ihrem Sinne zu bearbeiten – wie jede andere Ursache unliebsamer Wirkungen auch. Diese Bearbeitung ist aber nichts anderes als die religiöse Kulthandlung in diversesten Ausprägungen.

    An diese Stelle scheiden sich auch die Atheisten von den Religiösen in ihren Verhaltensmustern, und zwar für mich ziemlich genau mit dem Effekt, den Herr Blume als Reproduktionsvorteil für Religiöse empirisch beobachtet: Wenn in einer (fast) ausweglosen Lage der Atheist in durchaus passender Erkenntnis des Erwartungswerts verschiedener (aber alle suboptimaler) Handlungsstrategien aufgibt, wird der Religiöse auf sein “gutes Verhältnis” zum diese Situation geschaffen Habenden vertrauen, der Situation einen “tieferen Sinn” beimessen und wider jegliche Wahrscheinlichkeit mit seinem Handeln weitermachen. Und in einer gewissen Zahl von Fällen damit auch erfolgreich sein. Somit im Sinne der längerfristigen Reproduktivität schon mal 1:0 für die religiöse Seite.

    Wie sieht es nun mit dem direkten Kinder-Bekommen aus? Während der Atheist verantwortungsvoll die Ressourcen abwägt, die er seinen Kindern widmen bzw. mitgeben kann, wird der Religiöse – insbesondere, wenn die generelle Lehrmeinung der entsprechenden Religionsgemeinschaft dies nahelegt – mit “Gottvertrauen” für eine größere Zahl von Nachkommen sorgen und die erforderliche Ressourcenlage vertrauensvoll auf die spätere göttliche Fügung verlagern. Auch diese Strategie bringt – von der Quantität her – zunächst mal einen direkten Selektionsvorteil für die Anhänger von Religionen. Also 2:0.

    Schließlich noch, um die Diskussion noch einmal ein wenig auf den ursprünglichen Inhalt des Zölibats zurück zu bringen, der Aspekt des Exports entsprechender Personen: Zölibatäre Priester (im allgemeineren Sinn) dürften in der gängigen Sichtweise die ideale Besetzung für die Bearbeitung der Causa Prima (also dem Gott) sein, weil sie sich mangels anderer Lebensinhalte gerade dem wesentlichen Wunsch der Gemeinschaft nach dessen Beeinflussung widmen können. Während jedoch in der Gruppe, in der der Priester heranwächst, das Wissen um dessen (allzu menschliche) Verquickung in übliche menschliche Beziehungskisten (Eltern, Geschwister, Besitz, …) besteht – der Prophet gilt wenig im eigenen Land – , stören solche Effekte nach dessen Export in eine andere Gemeinschaft halt nicht mehr das gewünschte Bild dieses Individuums.

    Zusammenfassend sehe ich den Selektionsvorteil der einer Religiösität Verhafteten, hier ein wenig Dawkins folgend, als einen Nebeneffekt der zentralen genetischen Veranlagung, die uns durch die Extrementwicklung unseres Gehirns vor allem Wirkzusammenhänge suchen lässt (Homus Causalis). Ich glaube aber, dass diese Religiösität nur ein vorüber gehender Nebeneffekt bleibt, der sich totläuft, sobald die auf starke Gruppenreproduktion und -ausweitung ausgerichteten Handlungsparadigmen an natürliche Grenzen stoßen (ganz wesentlich hier: die Überbevölkerung).

  44. Momentan kann es unmöglich 2:0 stehen

    “Zusammenfassend sehe ich den Selektionsvorteil der einer Religiösität Verhafteten, hier ein wenig Dawkins folgend, als einen Nebeneffekt der zentralen genetischen Veranlagung, die uns durch die Extrementwicklung unseres Gehirns vor allem Wirkzusammenhänge suchen lässt (Homus Causalis).”

    Lieber Herr Roosen, haben Sie herzlichen Dank für Ihren Kommentar. Aber wenn Sie Dawkins zustimmen, dass die Religion nur ein Nebeneffekt ist, sehe ich nicht, wie es 2:0 zugunsten der Religion stehen kann.

    Wie auch immer, Ihre Überlegung ist in jedem Fall reizvoll. Im Sinne der Evolutionären Epistemologie kann man argumentieren, dass unser Erkenntnisapparat an eine kognitive Nische – den “Mesokosmos”, wie Gerhard Vollmer ihn nennt – angepasst ist. Anders als der Mikrokosmos oder der Makrokosmos hat der Mesokosmos tatsächlich drei Dimensionen und alle Ereignisse erfolgen in ihm streng kausal. Da sich unser Gehirn mit seinen Erkenntnisstrukturen über Jahrmillionen an diese Welt der mittleren Dimensionen angepasst hat, können wir gar nicht anders, als kausal zu denken. Gezwungen, stets nach einer Ursache zu suchen, mögen sich unsere Vorfahren also nach der Herkunft der Welt gefragt haben. Was ist die Ursache dieser Welt? Wo kommt sie her? Wer hat sie geschaffen? – Dies ist aber auch der Ansatz, für den ich mich die ganze Zeit stark gemacht habe, als ich argumentierte, dass uns unser Gehirn staunen, wundern und fragen und schließlich eine primitive Kosmologie entwickeln ließ.

  45. “Woher” oder “Wozu”?

    Möglicherweise war ich eben etwas oberflächlich. Bei näherem Nachdenken könnte man durchaus zwischen unseren Positionen unterscheiden. So könnte man etwa sagen, dass Ihr Ansatz mit der Frage “Woher?” und mein Ansatz mit der Frage “Wozu?” beginnt. Ihrer Ansicht nach begann die Religion gewissermaßen mit dem “kosmologischen Gottesbeweis” und meiner Ansicht nach begann die Religion eher mit dem “teleologischen Gottesbeweis”.

  46. Neuer Schwung

    Liebe Mitdiskutanten,

    herzlichen Dank für den neuen Schwung in der Debatte! Danke auch für die faire Klarstellung, Herr Dahl – immerhin stecken in den religionsdemografischen Daten jetzt über zwei Jahre harte Arbeit (und nicht nur von mir, auch z.B. von Carsten Ramsel, der in einem meiner Seminare mitwirkte und das Thema derzeit eigenständig als Magister- und jetzt als Promotionsthema bearbeitet oder von Dominik Enste, der am Institut der deutschen Wirtschaft Köln die Datensätze des World Value Survey auswertete), einschließlich des Diskutierens und Überprüfens immer neuer Alternativhypothesen vor Religionswissenschaftlern, Biologen, Theologen, Ökonomen und Journalisten und zuletzt im internationalen Rahmen. Erst jetzt, da die Daten mehrfach gesichert sind, laufen die ersten, vertieften Veröffentlichungen (neben Voland in seinem neuen Buch hatte aber schon Bild der Wissenschaft die Befunde in der Februar-Titelgeschichte auf einer ganzen Seite aufgegriffen… (-; ). Da hat die Aussage von der “reinen Spekulation” schon etwas getroffen, denn das ist sie beim besten Willen längst nicht mehr… Mir ist, als jungem Wissenschaftler, durchaus bewußt, was ich riskiere, wenn ich mit der Behauptung einer Religion-Reproduktion-Korrelation “raus gehe” – und ich tue das, weil sich die Daten als sehr stabil und stärker als erwartet erwiesen haben, in der Hoffnung, auch andere auf das Thema und seine Chancen aufmerksam zu machen.

    Schon unsere Diskussion hier zeigt m.E. auf, dass kein Mensch und auch keine Disziplin das Rätsel alleine knacken kann. Schon die Religionspsychologie alleine, hier stimme ich Herrn Wolf-Kittel ausdrücklich zu, ist ein Riesenthema – und die Frage der “Paläopsychologie” wäre ein noch größeres. Hier ist eine Menge ernsthafter, interdisziplinärer Arbeit zu leisten.

    Das gleiche gilt für die Primatologie – im ersten Entwurf dieses Wissenslogs-Beitrags hatte ich noch die Überschrift “Wenn der Religionswissenschaftler mit dem Primatologen…” erwogen, um genau diesen vielleicht auf den ersten Blick verblüffenden Strang religionsbiologischer Zusammenarbeit aufzuzeigen. In der Tat sind Primatologen für unser Thema wichtige Ansprechpartner. So habe ich über meinen Blog extra auch einen Artikel zur sexuellen Selektion von Andreas Paul eingestellt, eines deutschen Primatologen, den ich auf der Biology of Belief-Tagung kennenlernen durfte.

    http://religionswissenschaft.twoday.net/…376844/

    Zur Genetik hatte ich vor allem auf die Zwillingsstudien hingewiesen, die auf eine “normale”, auf jeden Fall aber polygene Vererbbarkeit auch religiöser Veranlagungen hindeuten. Ein Paper von König & Bouchard dazu hier:
    http://religionswissenschaft.twoday.net/…347367/

    Und schließlich wären neben den kognitionspsychologischen auch die erkenntnistheoretischen Fragen zu beantworten, wie sie Herr Roosen mit dem “Homo Causalis” eingeworfen hat usw.

    Und genau diese Vernetzung auf Basis harter Daten und Beobachtungen erlebe ich derzeit v.a. auf internationaler Ebene – siehe hier: http://evolution.binghamton.edu/…y_scholars.html

    Und so etwas würde ich mir auch unter deutschsprachigen Forschern wünschen, da ich glaube, dass wir in Deutschland, Österreich und der Schweiz eigentlich auch hervorragende Leute haben, die eigenständiges beitragen könnten.

    Gäbe es denn soviel spannendere Themen zwischen den Geistes- und Naturwissenschaften als die Evolutionsbiologie der Religion? Wenn unsere Disziplinen (und Medien) sich endlich mutiger vernetzen würden, wäre da m.E. voneinander und miteinander viel zu entdecken. Ermutigt von Lars, wollte und will ich genau hierfür werben: weniger wilde Spekulation, sondern endlich seriöse, empirische, interdisziplinäre Forschung zur Evolution der Religion!

    Mit herzlichen Grüßen

    Michael Blume

  47. Sind wir geborene Thisten?

    Lieber Herr Blume, herzlichen Dank für die Links. Sagen Sie, wo kann ich die Arbeit finden, nach der wir “geborene Theisten” sind?

  48. Nur eine einzige Frage

    Lieber Herr Blume, ich hatte doch bereits zugestanden, dass ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur Evolution der Religion keineswegs auf “bloßen Spekulationen” beruhen muss und dass ich mich einer entsprechenden Arbeitsgruppe sogar gerne anschließen würde.

    Es ist daher überhaupt nicht nötig, mich wieder und wieder darauf hinzuweisen, dass die in diesem Feld arbeitenden Wissenschaftler durchaus seriöse Forschung betreiben. Ich bezweifle dies nicht im geringsten.

    Worauf ich hinweise ist doch nur, dass die Forscher, die sich mit der Evolution der Religion beschäftigen, in zwei Lager geteilt sind – in diejenigen, die die Religiosität als ein bloßes Nebenprodukt der Evolution betrachten, und denjenigen, die die Religiosität für eine echte Anpassung halten. Und als Vertreter des ersten Lagers stelle ich Ihnen als Vertreter des zweiten Lagers nur eine einzige Frage: Worin könnten die Überlebens-und Fortpflanzungvorteile von “animistischen” gegenüber “naturalistischen” Menschen bestehen?

  49. Evolution der Religion

    Lieber Herr Dahl,

    obwohl ich auch eher Ihrem Standpunkt (der Religion als Nebenprodukt) zuneige, hatte ich gehofft, mit meinem Beitrag durchaus einen direkt evolutionsbiologischen Vorteil aufgezeigt zu haben.

    Ich möchte daher Ihre Frage “Und als Vertreter des ersten Lagers stelle ich Ihnen als Vertreter des zweiten Lagers nur eine einzige Frage: Worin könnten die Überlebens-und Fortpflanzungvorteile von “animistischen” gegenüber “naturalistischen” Menschen bestehen?” noch einmal aus meiner Sicht aufgreifen.

    Wenn meine Prämisse des Homo Causalis (als wesentliche Triebkraft der Nischenbesetzung im gesamtbiologischen Kontext) nicht ganz falsch ist, führt meine obige Argumentation aus dem Nebeneffekt der notgedrungenen Annahme eines höheren Wesens zur Welterklärung durch dessen soziologischen Einfluss auf die Handlungen des Einzelnen, der sich damit unterstützt wähnt, zu einer besseren Fitness hinsichtlich seiner Reproduktion. Diese Fitness erwächst nicht aus unmittelbarer “physischer” Verbesserung der Individuen, sondern aus einem geänderten Verhalten *aufgrund* einer physiologisch (großes Gehirn) bedingten anderen Weltsicht.

    So kann möglicherweise aus einem Nebeneffekt ein unmittelbar populationstechnisch wirksamer Haupteffekt werden.

  50. Deismus oder Theismus

    Lieber Herr Roosen, so wie ich es sehe, vertreten Sie mit Ihrem Ansatz immer noch die Theorie der Religion als Beiprodukt der Evolution. Unser Gehirn ist von der natürlichen Selektion dazu geformt worden, kausal zu denken, weil das Verstehen des Zusammenhangs von Ursache und Wirkung überlebenswichtig ist. Da wir dieses kausale Denken nicht ablegen können, wenden wir es intuitiv auch auf das Universum an und fragen: “Woher kommt diese Welt eigentlich? Da alles eine Ursache hat, muss auch diese Welt eine Ursache haben. Diese Ursache kann nur Gott sein.” Nach diesem Ansatz ist die Religion offenbar ein Nebenprodukt unseres kausalen Denkens.

    Der Schritt, den Sie vom Glauben an Gott zum Verhalten der Menschen machen, scheint mir etwas übereilt. Unser kausales Denken führt uns zunächst einmal nur zu einer “ersten Ursache”, nicht aber schon zum “lieben Gott”, der sich um das Wohl und Wehe seiner Geschöpfe kümmert und ihnen Weisungen für das Leben auf Erden gibt. Diese erste Ursache könnte beispielsweise in dem unpersönlichen Gott der Deisten bestehen, an den Voltaire, Jefferson und möglicherweise auch Einstein geglaubt haben – ein Gott, der diese Welt geschaffen hat, sich um seine Geschöpfe aber in keiner Weise kümmert.
    Vom Deismus zum Theismus ist es noch ein langer Weg.

  51. Kurze Ergänzung

    Um der Klarheit willen hätte ich der folgenden Bemerkung noch einen kurzen Satz hinzufügen sollen:

    Nach diesem Ansatz ist die Religion offenbar ein Nebenprodukt unseres kausalen Denkens. NICHT DER GLAUBE AN GOTT IST ADAPTIV UND UNS IN DIE WIEGE GELEGT, SONDERN DAS KAUSALE DENKEN IST ADAPTIV UND UNS IN DIE WIEGE GELEGT.

  52. Jesse Bering

    Lieber Herr Dahl,

    mein Ruf nach mehr interdisziplinärer Vernetzung galt nicht mehr primär Ihnen – denn die Bereitschaft dazu haben Sie in unserer Diskussion nicht nur geäußert, sondern auch demonstriert! Ich hoffe auf weitere Meldungen! (-;

    Ernsthaft: Ihre Frage nach einem Bering-Artikel inklusive “intuitivem Theismus” und nach meiner Antwort auf den Reproduktionsvorteil einer “animistischen” versus einer “naturalistischen” Kosmologie finden Sie in diesem Bering-Artikel beantwortet:
    http://www.qub.ac.uk/…/Filetoupload,37940,en.pdf

    Denn wir kamen -ohne uns vorher gekannt oder auch nur gelesen zu haben- je von der experimentellen Psychologie wie von der empirischen Religionswissenschaft auf nahezu identische Schlussfolgerungen: dass der Vorteil “animistischen” gegenüber “naturalistischen” Glaubens darin liegt, dass “belebte” Akteure Weisungen durchsetzen und damit Kooperationsdilemmas auflösen können.

    Bei meinen Arbeiten war/ist das eben auch auf die Reproduktion bezogen: Naturalistische Evolutionstheoretiker wissen zwar, dass Reproduktionserfolg “der” Fitnessindikator ist, lassen sich aber von Naturgesetzen keine persönliche Lebensführung vorschreiben. Der Glaubende, der von Gott (oder einem Ahnen) “Sei fruchtbar und mehre Dich!” gesagt bekommt, unter Umständen schon. Andere Gebote (Kein Sex außerhalb der Ehe, Meidet Verhütung und Abtreibung etc.) hatten wir ja schon diskutiert. Empirisch wird sich das in höheren Reproduktionsraten der Religiösen niederschlagen – wie inzwischen empirisch reichlich belegt.

    Und weiter: der “Animist”, der z.B. im Angesicht der Ahnen oder Gottes seinen Eheschwur geleistet hat, wird häufiger (schon aus Verehrung oder auch Angst vor den transzendenten Zeugen) geneigt sein, diesen dann auch einzuhalten als derjenige, der ihn “nur rational” betrachtet. Die Scheidungs- und Alleinerziehendenrate sollte sich also zwischen Religiösen und Konfessionslosen zugunsten der ersteren unterscheiden – was wiederum empirisch nachweisbar der Fall ist.

    Im Umkehrschluss werden übrigens auch religiöse Ehepartner in der sexuellen Selektion bevorzugt sein, da sie ebenjene Loyalität signalisieren. Und wiederum: empirisch beobacht- und belegbar.

    Religion mag also als Nebenprodukt entstanden sein, soweit ich sehen kann, ist sie heute hoch adaptiv. Vertreter der Epiphänomen-These müssten m.E. erst einmal die aktuellen Reproduktionsdaten tapfer ignorieren oder irgendwie wegerklären, dann auch noch eine Erklärung für die dynamische Zunahme religiösen Verhaltens in den letzten Jahrzehntausenden finden und schließlich diese auch noch auf der Basis steigender Kosten (durch ein “unnützes” Verhaltensmerkmal) begründen…

    Annahmen der Maladaptivität oder auch der Epiphänomenalität von Religion scheinen mir daher von der Datenlage her kaum mehr haltbar zu sein.

    Mit freundlichen Grüßen

    Michael Blume

  53. Sind wir geborene Theisten?

    Lieber Herr Blume, tausend Dank für den Link! Der Text, den ich meinte, war allerdings Deborah Kelemen’s Aritekel “Are Children Intuitive Theists?”, Psychological Science 15 (5): 295-301, 2004. Haben Sie davon zufällig eine PDF-Datei?

    Nochmals vielen Dank und einen guten Rutsch!

  54. Differenzierungsvorschlag

    Mir erscheint es hilfreich, die Bezeichnungen Religiosität und Religion wie folgt zu unterscheiden und damit auseinander zu halten:

    – Dem vielleicht weitest verbreitetem Verständnis nach liegt es nahe, unter einer “Religion” in erster Linie oder sogar (wozu ich aus bestimmten Gründen tendiere) ausschließlich ein Gesamt von (a) Überzeugungen zu verstehen, die (b) auf Vorstellungen oder Annahmen von entweder irrealen oder außer-, nicht- oder überweltlich vorgestellten “Wesen” beruhen (Geistwesen jeglicher Art, angefangen bei Naturgeistern bis hin zu Engeln, Teufeln und Dämonen sowie Göttern aller Art und Anzahl) und die (c) sprachlich zu einem “Glauben” genannten System von Vorstellungen, Ansichten, Meinungen sowie Überzeugungen und dazu gehörenden Handlungs- und Verhaltensanweisungen zusammengefasst sind. (Die möglichen Einwände gegen diesen Vorschlag sind mir bewusst; ihre Diskussion ist hier aber weder sinnvoll noch möglich.)
    – Als “Religiosität” könnte dem entsprechend die psychische Bereitschaft oder “Disposition” definiert werden, auf – unsinnliche… – Vorstellungen von Wesenheiten der genannten Art, insbesondere auf solche “transzendenter” Art reflexhaft oder willentlich auf genau dieselbe Art und Weise zu reagieren wie auf sinnlich vermittelte (“sinnvolle”) Erlebnisse und Erfahrungen mit Lebewesen aus der realen Umwelt und anderen Naturerscheinungen.

    Diese Bestimmungen erlauben eine differenzierte und psychologisch recht genaue Systematik oder Typologie von Menschen im Hinblick auf ihre Haltung gegenüber allen Phänomenen, die als religiös angesehen werden. (Es ist nämlich durchaus möglich, den religiösen Charakter sämtlicher als religiös angesehener Phänomene mit psychologisch guten Gründen zu bestreiten; denn sämtliche, in der Tat alle sog. religiösen Phänomene sind nach meinen Kenntnissen psychologisch auch anders darstellbar.)

    Die vorgestellte Unterscheidung legt darüber hinaus und in guter Übereinstimmung mit religionshistorischen Fakten nahe, dass Religiosität konkretem “Glauben” historisch vorangegangen sein dürfte; denn ein religiöses System entwickelt nur, wem ein “religiöses” Erleben schon zuvor von wie immer entstandener Bedeutung und Wichtigkeit ist.

    Meine Unterscheidung erlaubt es weiterhin auch, folgende historisch kniffelige Frage besser einzukreisen und vor allem sachgemäß zu diskutieren: wie kann “Religiosität” vor Entwicklung spezifischer Religionen überhaupt entstanden sein?

    Bislang besteht m.W. nur darüber Konsens, dass dies irgendetwas mit dem Umgang früher Menschen mit Sterbenden und Verstorbenen zu tun hat oder haben muss. Unklar und historisch grundsätzlich auch nicht aufzuweisen, damit aber auch nicht direkt zu beweisen, sondern allenfalls psychologisch plausibel zu machen ist lediglich, wie es im Zusammenhang mit dem Erleben von Sterben und Tod zu Vorstellungen von einer Art gekommen ist, die wir heute als “religiös” ansehen oder zumindest so bezeichnen und klassifizieren.

    Eine Diskussion dieser Frage erfordert ein genaueres Wissen von der Natur und Eigenart von Vorstellungen und damit zweierlei:
    – 1. eine genaue Sach- und Begriffsbestimmung, zu der nach meiner Kenntnis (und fachlichen Einschätzung: gute) Vorarbeiten von Colin McGinn (in “Das innere Auge” 2007) und Dirk Hartmann (in “Philosophische Grundlagen der Psychologie” 1998) vorliegen, und
    – 2. eine hinreichend genaue Kenntnis von Entwicklungspsychologie und psychologischen Eigenheiten unserer Fähigkeit Vorstellungen zu “bilden”.
    (Anders ausgedrückt: etwas zu imaginieren oder uns “innere Bilder” zu machen. NBI: Hiervor wird im “Ersten Gebot” Moses’ bekanntlich abgeraten, und zwar so dringend, dass deswegen genauer von einem Bilder-Verbot gesprochen werden muss. Es wird nach meinen Erfahrungen jedoch kaum je auch nur erwähnt, geschweige denn beachtet und noch weniger befolgt. NBII: Es gibt eine Beziehung dieses Bilderverbots zur Paradieserzählung im 1. Buch Moses, die erkennbar wird, wenn sie strikt symbolisch gedeutet wird. “Ins Auge springt” dagegen die Verbindung des Bilderverbots mit der alttestamentarischen Verfluchung des Götzendienstes in “Buch der Weisheit” 14,12ff mit Angaben, deren hohe Bedeutung religionspsychologisch und vor allem religionshistorisch noch kaum erkannt und noch weniger ausgeschöpft worden zu sein scheint, allerdings mit Nachstehendem in bemerkenswerter Übereinstimmung steht.)

    Nach den Überlegungen des verstorbenen Princeton-Psychologen Julian Jaynes (in “Der Ursprung des Bewusstseins” 1976, dt. 1988/93 ) führt eine einfache Tatsache zum Verständnis des Ursprungs von Religiosität: irgendwann müssen frühe Menschen angefangen haben, sich in der Weise zu “erinnern”, und zwar so, wie auch wir dies können: indem wir in unserem Innern, genauer im Kopf “an” Erlebtes denken, sei es weil es uns spontan “einfällt” oder “kommt”, oder weil wir es uns gezielt wieder ausmalen. Nach Jaynes waren die ersten Elemente von dem, was sich in zig Jahrzehntausenden dann langsam zu dem entwickelt hat, was wir als religiöse Phänomene kennen, “schatten”-hafte Spontanerinnerungen an Tote. Und Erinnerungen sind nichts anderes als – Vorstellungen!

    Aus all dem ergibt sich die hochinteressante und evolutionär m.W. bisher nur von Julian Jaynes diskutierten Frage, welchen evolutionären “Nutzen” der Umstand hatte, dass irgendwann in der Anthropogenese die Fähigkeit, sich etwas vorstellen zu können, bei prähistorischen Menschen genügend ausgeprägt war, so dass spontan auftretende Erinnerungen an Tote für sie neben allen übrigen, durch Sinnesorgane vermittelten Wahrnehmungen deutlich bemerkbar, also ihrerseits eindrücklich wahrnehmbar, somit erlebbar und dadurch erstmals bewusstseinsfähig wurden. Es liegt nahe anzunehmen, dass es hier eine Beziehung zur archäologisch gesicherten Totenbestattung seit zweihunderttausend Jahren geben muss.

    Der lange historische Abstand bis zum Auftreten andersartiger und religiös spezifischerer Phänomene ist für evolutionäre Überlegungen m.E. eine Herausforderung besonderer Art. Die Frage nach dem evolutionärem Nutzwert uns bekannter religiöser Phänomene (insb. bei den historisch gesehen geradezu extrem jungen Hochreligionen) erscheint mir vor diesem Hintergrund nachgerade zweitrangig; denn es stellt sich die weitaus wichtigere Frage, welchen evolutionären Nutzen persönliche Erinnerungen an Tote haben können und hatten, aus der sich nach und nach als erstes offenbar die Ahnenverehrung entwickelt hat, die zudem von einer anthropologisch derart zentralen Wichtigkeit ist, dass sie bei naturnah lebenden “Naturvölkern” bis heute üblich und meinem Eindruck nach in verschiedensten Abwandlungen auch in allen übrigen religiösen Systemen enthalten ist.

    Julian Jaynes hat in seinem Werk in mir psychologisch plausibel erscheinende Überlegungen eine Antwort nahegelegt, die nicht gerade religiös erscheint, außer für solche Gläubige, nach deren Vorstellung schlicht alles, was existiert, ein Werk Gottes ist. so dass umgekehrt die Existenz der Welt die “Existenz” ihres Gottes geradezu beweist. Jaynes’ Erklärung ist bescheidener: danach haben individuelle Erinnerungen an Tote schlicht den sozialen Zusammenhalt prähistorischer Menschen auf eine völlig neue und damit besondere Weise, nämlich nicht nur biologisch-genetisch, sondern auch noch über die neurophysiologische Fähigkeit individuellen Lernens vertieft und gefestigt. Dies ist eine Antwort, die nicht nur wie vorhin schon erwähnt verblüffend gut zu den Angaben in BdW14,12ff passt, sie sogar ergänzende und erweiternd; die psychologischen Thesen Julian Jaynes’ passen auch auch zu ganz aktuellen naturwissenschaftlichen Forschungsergebnissen, wie sie der Freiburger Psychosomatikers Joachim Bauer genau dreißig Jahre nach dem Erscheinen des Buches von Jaynes 2006 in seinem geradezu programmatischen Buch “Prinzip Menschlichkeit” dargelegt hat.

  55. @ – Kittel

    “Jaynes’ Erklärung ist bescheidener: danach haben individuelle Erinnerungen an Tote schlicht den sozialen Zusammenhalt prähistorischer Menschen auf eine völlig neue und damit besondere Weise, nämlich nicht nur biologisch-genetisch, sondern auch noch über die neurophysiologische Fähigkeit individuellen Lernens vertieft und gefestigt.”

    Ich weiß nicht, ob es das gestrige Glas Champagner war, doch ich verstehe einfach nicht, worin die große religionsstiftende Bedeutung der “individuellen Erinnerung an Tote” bestehen soll. Unsere Vorfahren waren dem Tod noch stärker ausgesetzt als wir. Sie werden ihre Eltern, ihre Gefährten und ihre Kinder sterben sehen und sich vermutlich zeitlebens an sie erinnert haben. In meinen Augen mag der Tod sehr wohl Anlass zu metaphysischen Spekulationen gegeben haben. Doch weshalb sollte man von der “individuellen Erinnerung an Tote” so großes Aufhebens machen?

    Angenommen, unsere Vofahren hatten Mühe, den Tod zu verstehen. Sie konnten oder wollten einfach nicht glauben, dass die Menschen, die sie liebten und eben noch lebten, plötzlich tot und für immer gegangen sein sollten. Dies wäre sicher nur zu verständlich. Nehmen wir weiter an, dass sie, um sich über den Verlust ihrer Lieben hinwegzutrösten, annahmen, dass die Seelen der Toten in einem Schattenreich weiterleben. – All dies ist psychologisch verständlich und erfordert keinerlei biologische Erklärung. Der Glaube an eine unsterbliche Seele ist einfach ein Produkt ihres Gehirns, das sie vor die Frage stellte, was es mit dem Tod auf sich hat. Selbst wenn wir annehmen, dass der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele eine genetische Grundlage hat, sehe ich nicht, inwieweit denjenigen, die diese Vorstellung teilten, daraus irgendwelche Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteile erwachsen sollten. Schließlich impliziert der Glaube, dass die Verstorbenen noch irgendwo herumgeistern, noch keinerlei Handlungsanweisungen, die adaptiv sind.

  56. @ – Blume: Adaptionist oder Epiphänomenalist?

    “Religion mag also als Nebenprodukt entstanden sein, soweit ich sehen kann, ist sie heute hoch adaptiv.”

    Dies ist eine reichlich verwirrende Bemerkung: Sind Sie nun Adaptionist oder Epiphänomenalist?

  57. @ – Blume

    “Vertreter der Epiphänomen-These müssten m.E. erst einmal die aktuellen Reproduktionsdaten tapfer ignorieren.”

    Das sehe ich nicht. Wir können sehr wohl anerkennen, dass religiöse Menschen durch die Einhaltung bestimmter Gebote und Verbote mehr Kinder haben als areligiöse Menschen und dennoch daran festhalten, dass die Religion nur ein Nebenprodukt ist.

    Ein Beispiel, das mich tief beeindruckt hat, ist das “Post-Partum Koitus-Tabu” der Kalahari-Buschleute, das von den Frauen verlangt, sich nach der Geburt eines Kindes für vier Jahre des Geschlechtsverkehrs zu enthalten. Das Tabu ist in der Tat adaptiv, weil es den Frauen zu mehr überlebensfähigen Kindern verhilft. Wenn sie schon ein oder zwei Jahre nach der Geburt ihres ersten Kindes eine zweites bekämen, würden beide Kinder unter Unterernährung sterben. Die spärlichen Ressourcen, über die die Kalahari-Buschleute verfügen, erlauben es den Frauen einfach nicht, zwei Kleinkinder gleichzeitig aufzuziehen. Erst wenn das eine Kind entwöhnt ist, darf ein nächstes Kind zur Welt gebracht werden.

    Dieses Beispiel zeigt, dass religiöse Regeln adaptiv sein können, beweist aber nicht im geringsten, dass die Religiosität selbst adaptiv ist.

    Ähnlich wie das Inzest-Tabu kann sich das Koitus-Tabu auf natürlichem Wege herausgebildet haben. Die Menschen haben einfach aus der Erfahrung gelernt, dass inzestuös gezeugte Kinder weit häufiger Fehlbildungen aufweisen und den Inzest entsprechend verboten. Nachdem – auf welche Weise auch immer – Religionen entstanden sind, hat man das Inzest-Tabu zusätzlich religiös sanktioniert, um ihm eine größere Autorität zu verleihen.

  58. Kurze Ergänzung zum Inzest-Tabu

    Das Inzest-Tabu mag natürlich auch eine genetische Grundlage haben. Offenbar haben wir tatsächlich, wie Westermarck vermutete, eine angeborene “Inzest-Scheu”. Diese Inzest-Scheu mag auf einem genetischen Programm beruhen, das uns gegenüber denjenigen, “mit denen wir auf demselben Topf gesessen” haben, sexuell indifferent sein lässt. Aber auch in diesem Fall hätte es nichts mit Religion zu tun.

  59. @ – Blume: Religion und Kooperation

    “Der Vorteil ‘animistischen’ gegenüber ‘naturalistischen’ Glaubens liegt darin, dass ‘belebte’ Akteure Weisungen durchsetzen und damit Kooperationsdilemmas auflösen können.”

    Ich glaube, was Epiphänomenalisten von Adaptionisten unterscheidet, ist, dass sie “Ockhams Rasiermesser” respektieren und von zwei Theorien, die ein Phänomen gleichermaßen gut erklären, jeweils der einfacheren den Vorzug geben.

    Dies gilt, denke ich, auch für die Kooperation. Nicht erst Menschen, sondern bereits viele Tiere wissen zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen Kooperationspartnern zu unterscheiden. Sie gründen ihre Entscheidung, ob sie mit jemanden kooperieren, auf ihre eigenen Beobachtungen oder die Beobachtungen anderer. Wenn jemand in der Vergangenheit seine Versprechen gehalten und jeden ihm erwiesenen Gefallen erwidert hat, ist er ein vertrauenswürdiger Kooperationspartner. Dass ein zuverlässiger Kooperationspartner seine Versprechen mit einem zusätzlichen Gelöbnis wie “Ich schwöre bei Gott” versieht, ist überhaupt nicht nötig.

    Voltaire hat einmal sehr schön beschrieben, wie zu der Zeit, da in Frankreich und Deutschland die Religionskriege tobten, in Holland Menschen verschiedener Religionen miteinander handelten. Auf dem “Markt” war es vollkommen gleichgültig, ob jemand Christ, Muslim, Jude, Buddhist, Agnostiker oder Atheist war – das einzige, was zählte, war, dass sie alle von dem gemeinsamen Handel profitierten.

  60. @ – Blume: Animismus und Animismus

    “Der ‘Animist’, der z.B. im Angesicht der Ahnen oder Gottes seinen Eheschwur geleistet hat, wird häufiger (schon aus Verehrung oder auch Angst vor den transzendenten Zeugen) geneigt sein, diesen dann auch einzuhalten als derjenige, der ihn ‘nur rational’ betrachtet.”

    Streng genommen, besteht der Animismus nur in der Überzeugung, dass alles in der Welt – jeder Käfer, jeder Baum, ja selbst jeder Felsen – “beseelt” ist. Der Glaube daran, dass ein Mammutbaum eine eigene Seele hat, schließt aber noch keinerlei religiöse Normen, Riten oder Opfer ein.

    Angenommen, wir müssen zwischen zwei verschiedenen Stufen des Animismus unterscheiden. Die erste besteht lediglich in dem Glauben an die Beseeltheit, die zweite schließt auch sittliche Forderungen ein. Insofern die zweite Stufe auf der ersten basiert, genügt es nicht, die Adaptivität der zweiten Stufe aufzuzeigen – man muss auch die Adaptivität der ersten erweisen!

    Wie aber kann der bloße Glaube an eine Seele Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteile mit sich bringen? Dass ich daran glaube, dass ein Felsen eine Seele hat, verschafft mir genauso wenig biologische Vorteile wie der Glaube an Bertrand Russels “himmlische Teekanne”. Oder irre ich mich da?

    Ich hatte letztens etwas zum Hellenismus gelesen und war überrascht, dass die griechischen Götter keinerlei moralische Forderungen stellten. Anders als Jahwe hat Zeus den Menschen nie irgendwelche Gebote gegeben, die sie bei Androhung von Strafe einhalten mussten. Selbst den Priestern war das Verhalten der Menschen gleichgültig. Sie waren für die Einhaltung der Riten, Opfer und Zeremonien zuständig, nicht aber für die Moral der Menschen. Mit anderen Worten: Zwischen dem Glauben und der Verehrung von Göttern und der Befolgung sittlicher Normen besteht nachweislich ein Unterschied.

  61. Boyer!

    Lieber Herr Dahl,

    Ihre Überlegungen nähern sich tatsächlich immer mehr dem frühen Boyer an (auf deutsch als: “Und Mensch schuf Gott” erschienen), der für Sie sicher sehr interessant wäre! Kurz: Entlang der gleichen Gedanken wie Sie entwirft er das Selektionskriterium der “Mehrfachrelevanz”: ein beseelter Baum, der nichts mit mir zu schaffen hat, erscheint (auf die Erkennung potentieller Chancen und Risiken evolvierter Gehirnstrukturen) weniger relevant als einer, der mich beobachtet und mein Leben beeinflussen kann. Ebenso wäre ein allessehender Gott, der leider gleich wieder alles vergisst, zwar logisch denkbar, hat aber weniger Relevanz als ein Gott, der alles sieht, erinnert, beurteilt und ggf. bestraft.

    Das Hellenismus-Beispiel ist geradezu hervorragend geeignet zur Verdeutlichung! In der Tat erhob der spätantike Götterhimmel sowohl in Griechenland wie Rom immer weniger moralische Forderungen an seine Anhänger, was traditionelle Apologeten zu heftiger Klage veranlaßte (vgl. heute zum Beispiel Peter Hahne, der gegen ein Christentum light “Schluss mit lustig!” fordert).

    Und was war die bzw. eine Folge? Sowohl in Griechenland wie Rom wurde heftig über einen Einbruch der Geburtenraten geklagt, Familien der Mittel- und Oberschicht gingen z.B. statt des anstrengenden Aufugs mehrerer Kinder dazu über, ihren Besitz einem zuvor adoptierten, bewährten Sklaven zu vermachen, der sie dafür “an Kindes statt” im Alter zu versorgen hatte. Die Unterschichten ließen sich dagegen in den Stadtstaaten zunehmend als Klienten versorgen – auch hier bedeuteten Kinder nur Kosten und Mühen und wurden gemieden. Wie verzweifelt z.B. noch Kaiser Augustus (der Volkszähler aus der Weihnachtsgeschichte! (-; ) diesen Werte- und Geburtenverfall mit staatlichen Maßnahmen aufzuhalten versuchte, können Sie z.B. hier lesen:
    http://statistik.baden-wuerttemberg.de/…8_11.pdf

    Die staatlichen Maßnahmen aber blieben allein erfolglos – die Wende brachte erst etwas anderes: nämlich der Aufstieg hochverbindlicher, monotheistischer Religionen – des Judentums und des Christentums. Deren Gemeinschaften waren bald gerade auch füpr ihre Ehe- und Familienverbindlichkeit bekannt, entsprechend (sexuelle Selektion!) schon zu Zeiten Paulus vor allem bei römischen und griechischen Frauen verbreitet, durchschnittlich kinderreicher, damit jünger und dynamischer und durch Verfolgungen nicht mehr aufzuhalten. Im Kern haben wir hier also ein hervorragendes Beispiel für genau den bereits mehrfach geschilderten Effekt: es setzen sich reproduktiv verbindliche Religionen unweigerlich am Ende durch, der biologische Religion-Demografie-Zusammenhang stellt sich gerade auch mittels kultureller Evolution immer wieder adaptiv her.

    Mit herzlichen Grüßen!

    Michael Blume

  62. genetische Fittness @Dahl @Blume @Sophia Loren

    “Sie hatten zu Beginn unserer Unterhaltung gesagt, dass jedes genetische Merkmal von Beginn an adaptiv sein muss, um sich von einem simplen zu einem komplexen System entwickeln zu können.”

    Eine Bemerkung vorweg: Meine Herren, ich hoffe Ihre Diskussion erscheint bald als Buch. Das wäre lesefreundlicher als dieses Format, und wert wäre sie es!

    Gestatten Sie mir noch eine Anmerkung bzw. Frage zum oben widergegebenen Zitat von Herrn Dahl: Sind Sie beide sicher, dass Evolution so verläuft? Meines Wissens gibt es neben positiver Selektion von Merkmalen u.a. auch den sog. genetischen Drift, bei dem ein Merkmal sich zufällig durchsetzt oder weite Verbreitung findet.

    Nehmen wir an, ich wäre ein blendend aussehender extrem schneller Läufer und exzellenter Taktiker, der es vor 50.000 Jahren geschafft hat, mit einer kleiner Gruppe von Freunden, Familienangehörigen und Kumpanen endlich den afrikanischen Kontinent hinter sich zu lassen und in den Mittelmeerraum (oder wohin auch immer die damalige Wanderung erfolgte) vorzudringen. Als meine Gruppe und ich uns einigermaßen von den Strapazen erholt hatten, lagen mir als Anführer die Frauen buchstäblich zu Füßen, und ich zeugte 20 Kinder und hatte 100 Enkelkinder, die den neuen Kontinent für sich eroberten. Dass ich eine genetische Anlage zu Migräne habe, war an manchen Tagen zwar ein ziemlicher Nachteil, aber glücklicherweise spielte das nur alle paar Monate eine Rolle und konnte meine vielen Vorteile (s.o.) nicht annähernd aufwiegen. Da ich reproduktiv ziemlich erfolgreich war, leidet nun 10-20% der europäischen Bevölkerung unter diesen völlig überflüssigen und überhaupt nicht adaptiven Kopfschmerzattacken.

    Was ich sagen will: Es können m. E. sehr wohl genetische Merkmale mitgeschleppt werden und weite Verbreitung finden, die nicht adaptiv sind, selektionsneutral sind oder für sich genommen sogar einen kleinen Nachteil mitsichbringen – sei es durch Zufall (wenn es doch nicht meine Athletik und mein blendenden Aussehen waren, sondern wir uns schlicht nach Europa verirrt hatten und ich der einzige überlebende Mann unter 15 Frauen war – und dehalb so gute Fortplanzungschancen hatte) oder indem sie “Huckepack” mit durch einen evolutionären “bottleneck” schlüpfen.

    Könnte man so nicht auch für die ersten evolutionären Schritte auf dem Weg zu einer genetisch determinierten Religiösität erklären – bis dann zusätzliche Merkmale das neu entstandene System sogar von evolutionärem Vorteil sein ließen?

  63. @ – Keinohrhase

    Das ist ein reizvoller Gedanke! Stimmt, es könnte sein, dass ein Gen für religiöses Denken rein zufällig entstanden ist und sich per Hukepack ausgebreitet hat, weil seine Träger über irgendein anderes genetisches Merkmal verfügten, das ihnen Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteile sicherte. Solange das “Gen für Religiosität” selektionsneutral war oder seine Nachteile durch die Vorteile, die es ihren Träger bescherte, aufgewogen wurde, konnte es einer Kontraselektion entgehen.

    Sie wollten offenbar noch etwas zu Sophia Loren sagen, oder?

  64. @ – Blume: Fragen

    Vielen Dank für den Hinweis auf Pascal Boyer. Wie es aussieht, werde ich mir wohl die Originalausgabe besorgen müssen, da die deutsche Fassung nicht mehr lieferbar ist und es leider auch nie zu einem Taschenbuch geschafft hat. Es ist schon erstaunlich, dass ein offenbar sehr gutes Buch wie Pascal Boyers “Und der Mensch schuf Gott” zu Makulatur gemacht wird, während ein so fürchterliches Buch wie Manfred Lütz’ “Gott: Eine kleine Geschichte des Größten” auf der SPIEGEL-Bestsellerliste landet – armes Deutschland!

    Als ich den Hellenismus angesprochen hatte, ging es mir nur um ein gutes Beispiel dafür, dass Religionen nicht eo ipso mit Anweisungen zu moralischem Verhalten einhergehen. (Dass Peter Hahne dieses Beispiel dazu missbraucht, uns mit dem Untergang des Abendlandes zu drohen, zeigt nur, dass er ähnlich leeres Zeug schwätzt wie Manfred Lütz.)

    Ich wollte aber eigentlich nur auf meine gestrigen Fragen zurückkommen:

    1: Sind Sie nun ein Adaptionist oder ein Epiphänomenalist?

    2: Wie erklären Sie sich die “Regentänze” der Schimpansen und die “Trauerrituale” von Elefanten?

    3: Worin soll die Adaptivität des Glaubens an eine Beseeltheit aller Dinge bestehen?

    Und die Zusatzfrage lautet:

    4: Wie gehen Sie mit den Daten um, die eine Korrelation von Religion und Kriminalität demonstrieren?

  65. Religiosität und Kriminalität

    Um die Frage zur Interpretation der Daten zum Thema “Religiosität und Kriminalität” zu konkretisieren, hier besser noch ein Zitat von Gregory S. Paul (zitiert nach Dawkins): “Ein höheres Maß des Glaubens an einen Schöpfer und ein höheres Maß an Gottesverehrung korrelieren in den wohlhabenden Demokratien mit einer höheren Quote an Morden, Kinder- und Jugendsterblichkeit, Übertragung von Geschlechtskrankheiten, Teenagerschwangerschaften und Abtreibung.”

  66. @ Keinohrhase

    Herzlichen Dank für Ihren Beitrag – dass Ihnen unsere Diskussion gefällt, ist eine schöne Ermutigung!

    Und ich sehe das im Grundsatz ähnlich wie Sie. Nicht jedes Merkmal entfaltet von Anfang an seine Adaptivität (ein beliebtes Argument von Kreationisten: “Was soll ein halber Flügel genutzt haben?”) und gerade entlang von Boyer, der frühe, religiöse Überzeugungen aus “normalen” kognitiven Funktionen ableitete, werden derzeit die spannendsten Experimente und Funde zu dem Thema gemacht. Boyer betrachtete Religion übrigens (ebenso wie Musik, Malerei und Lesen) noch 2001 als “parasitär”, d.h. maladaptiv – die nach ihm gestalteten Experimente und Überlegungen weisen jedoch immer stärker auf Adaptionen hin. Bin gespannt, ob er auch schon selbst seine Meinung geändert hat.

    In Sachen “Buch zum Thema” nur soviel: kurz vor Weihnachten kam der Vertrag eines renommierten Verlages für genau ein solches Buch, das (wenn alles klappt) noch dieses Jahr erscheinen soll… Bitte drücken Sie mir Daumen, es wäre (neben der Promotion und x Artikeln) das Erstlingswerk. (-:

  67. @ E.D., Nachtrag Hellenismus

    Zunächst muss ich Peter Hahne in Schutz nehmen: er hat den Hellenismus nicht als Beispiel verwendet, sondern ich habe ihn als Beispiel für eine auch heute stattfindende Kritik an der “Unverbindlichkeit” religiöser Überzeugungen gewählt. Ebenso wie damals die ethisch entleerten römischen und griechischen Religionen von den aufstrebenden Monotheismen v.a. auch per sexueller Selektion (starke Missionserfolge unter Frauen) und Reproduktionserfolg (größere und stabilere Familien, mehr Nachwuchs) abgelöst wurden, erleben wir ja auch heute das Ausdünnen säkularisierter Gemeinschaften gegenüber dem Wachstum “entschiedener”, kinderreicher Gemeinschaften aus dem christlichen, islamischen und jüdischen Bereich.

    Und, nein, das ist keine Bewertung, sondern eine Beobachtung – die belegt, dass (auch) hier die kulturelle Evolution in die gleiche Richtung wie die biologische Evolution zielt, da die reproduktive Performance einen wichtigen “Vorteil” darstellt.

  68. @ Präzise Fragen Edgar Dahl

    1: Sind Sie nun ein Adaptionist oder ein Epiphänomenalist?

    Natürlich beides. Die Nabelschnur ist eine Adaption, der Bauchnabel ein Epiphänomen dazu. Nur: umso kostspieliger ein Merkmal ist, umso größer ist der wirkende Selektionsdruck und umso unwahrscheinlicher die Einordnung als Epiphänomen. Religiöse Verhaltensausprägungen (nach aller Wahrscheinlichkeit polygen) können “sehr” teuer sein und haben dennoch beobachtbar im Verlauf der letzten paar tausend Generationen erheblich zugenommen. Schon dies scheint mir Annahme einer Adaptivität sehr wahrscheinlich zu machen – wie sie übrigens auch Darwin selbst mindestens für Aspekte religiösen Verhaltens selbstverständlich annahm. Und empirische Belege zum nachweisbaren, deutlich höheren Reproduktionserfolg religiöser Menschen liegen inzwischen ja reichlich vor.

    Religiöse Veranlagungen könnten also als Epiphänomene kognitiver Gehirnfunktionen enstanden sein – heute erweisen sie sich als biologisch hoch adaptiv. Der Unwille diverser Forscher wie z.B. Dawkins, die Faktenlage anzuerkennen, weist m.E. erstaunliche und vielsagende Parallelen zu Abwehrstrategien von Kreationisten auf: man möchte gerne das eigene Weltbild vor unliebsamen Erkenntnissen der Wissenschaft schützen. Gerade auch vielen deutschen Naturwissenschaftlern, in Säkularisierungsmythologien sozialisiert, fällt nach meiner Beobachtung oft recht schwer, sich eine Adaptivität von Religiosität auch nur vorzustellen.

    Einen sehr spannenden Kontrapunkt und ein Plädoyer für die Adaptivitätsannahme setzte der (übrigens ebenfalls atheistische) Evolutionstheoretiker D.S. Wilson mit “Beyond Demonic Memes – Why Richard Dawkins is Wrong About Religion” hier:
    http://www.skeptic.com/eskeptic/07-07-04.html

    2: Wie erklären Sie sich die “Regentänze” der Schimpansen und die “Trauerrituale” von Elefanten?

    Leider kenne ich keine seriöse Quelle zu einem Schimpansen-Regentanz und habe auch in der gemeinsamen Arbeit mit Primatologen noch nie davon gehört. Hier werden Sie mir also eine Portion gesunden Zweifels zugestehen…

    Die Beobachtungen zur Trauer von Elefanten und z.B. auch einigen Affenarten sehe ich als starken Beleg dafür, dass sich unter komplexen Säugetieren Gehirnfunktionen ausbilden können, an die später z.B. der Glauben an eine Weiterexistenz nach dem Tode anknüpfen kann. Dies passt m.E. auch zu den ersten, religionsbezogenen Funden, die wir bei Homo Sapiens und Homo Neanderthalensis haben: Bestattungen.

    Daher sind für mich auch die als Trauer interpretierten Verhaltensmerkmale von Elefanten und Affen ein starkes Indiz dafür, dass nicht ein spekulatives “kosmologisches Staunen”, sondern der soziale Umgang mit Ahnen als übernatürlichen Akteuren am Anfang der Evolution der Religion gestanden haben.

    3: Worin soll die Adaptivität des Glaubens an eine Beseeltheit aller Dinge bestehen?

    Aus evolutiv gut nachvollziehbaren Gründen behandeln wir unbelebte Dinge anders als belebte. Nur von belebten Akteuren akzeptieren wir z.B. direkte Gebote. Entsprechend sind a-theistische Religionen wie Buddhismus, Jainismus u.a. (in ihrer Hochtheologie, selten aber im Volksglauben) fast immer vom Wunsch nach der Überwindung der Wirkprinzipien geprägt wie auch “Ultradarwinist” Dawkins seine Jünger zur “Rebellion gegen die Tyrannei der Replikatoren” aufruft.

    Die Folge: beseelte Akteure nehmen wir nicht nur mit höherer Relevanz wahr, wir fühlen uns von ihnen auch beobachtet und akzeptieren Verhaltensgebote bereitwilliger. Entsprechend setzten und setzen sie sich in der kulturellen und biologischen Evolution immer wieder durch.

    Hinzu kommt, dass gerade o.g. Beobachtungen zur Trauer schon bei Tieren die Relevanz von Ahnen auch für sehr frühe Menschen mindestens nahelegen.

    4: Wie gehen Sie mit den Daten um, die in wohlhabenden Gesellschaften eine Korrelation von Religion und Kriminalität demonstrieren?

    Oh, das ist einfach. Wohlhabende Gesellschaften pflegen sich Migranten als günstige Arbeitskräfte zu holen, die (auch wegen des weltweiten Religion-Demografie-Zusammenhangs) meist aus religiösen Populatione stammen und dann auf Migrations- und Entwurzelungsprozesse, Sprach- und Bildungsprobleme sowie Diskriminierungen mit dem Rückbezug auf den Glauben (den mitgebrachten oder einen neu angenommenen) reagieren.

    Aber auch unter der einheimischen Bevölkerung werden verbindliche Religionsgemeinschaften oft auch für jene Menschen besonders attraktiv, die Krisen oder Brüche im Lebenslauf zu verarbeiten haben.

    Beide Fälle passen übrigens hervorragend in die adaptive Theorie: im Migrationsfall werden “warme Nester” gegenseitigen Vertrauens gerade auch zur Neugründung und Stabilisierung von Reziprozitäts- und Familienbanden gesucht. Und im zweiten Fall bieten die Gemeinschaften auch Einheimischen die Chance, sich im Rahmen einer ggf. neuen Gemeinschaft durch kostspieliges Engagement Vertrauen aufzubauen und Zugang zu stabileren, sozialen Verhältnissen zu finden.

    Eine bemerkenswerte Studie zur religiösen Gemeinschaftsbildung chinesischer Zuwanderer in den USA finden Sie z.B. hier:
    http://web.uni-marburg.de/…jr/art_ping_2007.html

    Obwohl Ping Ren den Religion-Biologie-Zusammenhang dabei gar nicht im Blick hatte, finden Sie hier auch reichliche Belege für den familienorientierten und reproduktiven Erfolg, der mit der religiösen Vergemeinschaftung der Zuwanderer einhergeht. In Deutschland finden Sie entsprechendes beispielsweise im Vergleich türkisch-kemalistischer zu türkisch-religiösen Familien.

  69. Religion als Zwangsfolge der Kausalität

    Ich möchte noch einmal auf die Rolle der Kausalität für die Entstehung und Verbreitung der Religiösität und in Folge auch der Religionen zurückkommen und dabei auch die m.E. künstliche Aufteilung der hier vorgestellten Sichtweisen in Adaptionismus und Epiphänomenalismus diskutieren.

    Wie Herr Blume denke ich auch, dass es einen geradezu fließenden Übergang von der Epiphänomen-Eigenschaft zu einem Adaptionsvorteil geben kann, wenn durch eine (von mir zuvor schon mal angesprochene) Veränderung der ökologischen Nischen ein ursprüngliches Epiphänomen zu einer veränderten Reproduktionsrate führt.

    Angenommen, meine “Homo-Causalis-Hypothese”, also die primäre Besetzung der Nische einer bestmöglichen Welterklärung durch einen gewissermaßen genetisch vorgeprägten Hang zu Kausalitätszuweisungen der Vorgänge des täglichen Lebens seitens der Urmenschen ist einigermaßen zutreffend: Dann muss sich geradezu als Ultima Ratio ein höheres Wesen daraus entwickeln, das als Ur-Causa für alles dienen kann, was ansonsten unerklärbar bleibt. Soweit das Epiphänomen.

    Wie Herr Blume auch schon ausführt, bleibt dann noch die Separation von Deisten und Theisten. Solange auf einer fast menschenleeren Erde keine Konkurrenz zwischen diesen Richtungen existiert, werden sich beide entsprechend ihrer jeweiligen Dynamik entwickeln. Sobald aber eine Konkurrenz zwischen den Weltmodellen auftritt, wird diejenige Weltsicht einen Selektionsvorteil bringen, die ihre Anhänger stärker ausrichtet, hier also durch bindendere Vorschriften stärker “einnordet”. Das ist aber gerade von den Vertretern *eines* *persönlichen* Gottes am ehesten zu erwarten. Ich habe hier zwei Wörter hervorgehoben, die m.E. zwei Aspekte unabhängig von einander beleuchten und gerade durch deren Kombination ein entsprechender Impetus im Sinne eines Selektionsvorteils erwächst:
    # Monotheistische Ansätze verzetteln sich nicht so schnell in Interpretationen, wie mehrere Götter miteinander in Wechselwirkung stehen. Stattdessen konzentrieren sie sich auf die direkte Beziehung zwischen Gott und Mensch.
    # Personifizierende Religionen produzieren qua “persönlicher Zuwendung” des Gottes zu seinen Schäfchen stringentere Handlungsvorschriften, die wiederum – zumindest bei den erfolgreichen Religionen – zu einem entsprechend reproduktionsfreudigen Gesamtkodex führen.

    Es hat ja durchaus auch andere Religionen gegeben, wie geschichtlich belegt ist. Doch diese wurden nicht selten von den heute Vorherrschenden in der geschichtlichen Entwicklung “plattgemacht”.

    Verbindet also eine Religion beide Aspekte, wird sie in Konkurrenz zu anderen Welterklärungsmodellen der anhängenden Population voraussichtlich einen Selektionsvorteil bringen. Dieser entsteht jedoch erst, wenn eben diese Konkurrenzsituation auftritt.

    Andererseits kann ich die *Entstehung* der Religiösität nicht anders als ein Epiphänomen – eben jener starken Hinwendung zur Kausalität – nachvollziehen. Denn ein darüber hinaus gehender Erklärungsansatz für die Zusammenhänge von Phänomenen, konkret die Erfindung des Zufalls, ist ein ausgesprochen junger. Ich bin kein besonders wissenschaftsgeschichtsbewanderter Mensch, aber mich deucht, dass diese Idee bestenfalls 200 oder 300 Jahre alt ist. Vorher war Alles und Jedes kausal, was der generellen Fitness der Menschen im Alltagsleben in der mesoskopischen Welt des persönlichen Agierens ja auch angemessen war. Die verallgemeinerte Religion als kausalistisches Welterklärungsmodell wird jedoch ausschließlich von dieser neuen Erfindung der “echten Zufälligkeit” infrage gestellt. Insofern sollten wir uns also auch nicht wundern, dass die Religiösität eine derart weite Verbreitung genießt.

    Wenn man nun Spekulationen über die weitere Entwicklung von Welterklärungsansätzen anstellt und deren jeweilige Selektionsvorteile untersucht, so kommt es wohl stark auf die Randbedingungen an, die man für die Zukunft erwartet.

    Zunächst wird eine die Stochastizität explizit berücksichtigende Weltsicht eine ohne Causa Finalis und ohne teleologischen Imperativ sein. Insofern wird sie ihren Anhängern – insbesondere den Atheisten – weit weniger eine orientierende Marschrichtung vorgeben. Somit wird in direkter Konkurrenz beider Weltsichten die theistisch-religionsorientierte diejenige bleiben, die ihre Anhänger am effektivsten einnordet.

    Sollte es jedoch in Zukunft zu einer Krise kommen, die zum Überleben eine wiederum genauere Interpretation der Welt benötigt, *kann* dies dazu führen, dass der die Stochastik vieler Phänomene explizit berücksichtigende Atheismus in seiner wissenschaftlich-analysierenden Form die bessere, weil genauere Erklärungsalternative darstellt. Ob dies dazu kommt, hängt jedoch von vielen Faktoren ab, nicht zuletzt, ob eine noch genauere Welterklärung wirklich zu einem gruppendynamischen Reproduktionsvorteil führt oder eine restringierte Welterklärung durch einfachere Kochrezepte nicht doch effektiver ist. Schließlich leben auf der Erde nicht nur kausal interpretierende Menschen, sondern auch jede Menge anderer Lebewesen, die weitaus weniger “Durchblick” durch die Zusammehänge besitzen, freudig vor sich hin.

  70. @ Herr Kittel

    Danke auch für Ihren Beitrag zur Definition von Religion auf meinem Blog, auf den ich dort geantwortet habe.

    Nun zu Ihrem Definitionsvorschlag:
    > Als “Religiosität” könnte dem entsprechend die psychische Bereitschaft oder “Disposition” definiert werden, auf – unsinnliche… – Vorstellungen von Wesenheiten der genannten Art, insbesondere auf solche “transzendenter” Art reflexhaft oder willentlich auf genau dieselbe Art und Weise zu reagieren wie auf sinnlich vermittelte (“sinnvolle”) Erlebnisse und Erfahrungen mit Lebewesen aus der realen Umwelt und anderen Naturerscheinungen. <

    An sich finde ich diesen Beschreibungsansatz (denn Produkte menschlichen Geistes wie Musik, Literatur, Mathematik, Wissenschaft, Religion können m.E. nur beschrieben, nicht aber abschließend “definiert” werden) sehr gut, habe jedoch gegen die Einordnung der Reaktionen “auf genau dieselbe Art und Weise” Einwände. So ist es ja gerade ein Merkmal der Religionen, dass sie eigene Verhaltensmuster entwickeln (z.B. Meditationen, Trancetänze, Gebetshaltungen etc.), die auch eigene, religiös gedeutete Erfahrungen induzieren können. Das ist m.E. schon eine eigene Verhaltenskategorie, die zwar auf sozialem Verhalten aufbaut (z.B. der Einnahme demütiger Haltungen gegenüber der Gottheit, was entsprechende Gehirnfunktionen begünstigen dürfte), aber nicht einfach mit ihm identisch ist.

    Nach meiner Auffassung weist also nicht nur die inhaltiche Seite der Religion(en), sondern auch die Verhaltens- und Erfahrungsseite die Emergenz eigener Phänomene auf, die es erlauben, von “religiösen Überzeugungen”, “religiösem Verhalten” und “religiösen Erfahrungen” in der gleichen Art zu sprechen, wie wir musikalische Inhalte, Verhaltensausprägungen (z.B. Tanz, Orchesterrituale etc.) und natürlich Erfahrungen zugestehen können.

  71. @ Herr Roosen, Kausalität

    Danke für Ihren Beitrag, dem ich weitgehend zustimme. Erlauben Sie mir nur, zwei Akzente anders zu setzen:

    1. Das kausale Denken ist sicher ein starker Motor auch der Konstruktion religiöser Weltanschauungen, keinesfalls aber der einzige. Ich glaube nicht, dass der Mensch jemals ein “Homo Causalis” in Reinform war, sondern sein Erkenntnisapparat hatte z.B. die bevorzugte Aufmerksamkeit für bewegte, willensbegabte, sozial agierende und potentiell bedrohliche Akteure (die auch Tiere zeigen) sicher längst entwickelt. Entsprechend konnte und kann z.B. der evolutive Vorteil von “belebten” Akteuren gleich an drei Aspekten ansetzen: einmal an der natürlichen Bevorzugung belebter Akteure in der Verteilung von Aufmerksamkeit, in der (von uns beiden gesehenen) höheren Verbindlichkeit personaler Gebote und in der emotionalen Wertschätzung geliebter Angehöriger (“Vater!”), die -wie Herr Dahl bereits einführte- sogar schon bei Elefanten und Affen finden können.

    2. Obwohl ich zustimme, dass religiöse Überzeugungen neue Formen (durch regelmäßige Zusammenkünfte und kostspielige Anforderungen ggü. Trittbrettfahrern “abgeschirmte”) der Vergemeinschaftung ermöglichen und z.B. D.S. Wilson sehr stark für die “Gruppenselektion” votiert, hat mich dieses Konzept noch immer nicht ganz überzeugt. So schien das Zölibat ein sehr starkes Argument dafür zu sein, dass sich “einige wenige für die Gruppe opfern” – mir scheint aber (siehe Wissenslog-Beitrag) auch das Zölibat gut auf die klassischen Reproduktionsboni individueller und verwandschaftlicher Art zurückführbar zu sein. Insofern stehe ich Neuauflagen der “Gruppenselektion” zwar offen, aber noch nicht wirklich überzeugt gegenüber. Ich sehe die Gefahr, dass wir “Gruppe” als Black-Box-Begriff verwenden, der die evolutiven Prozesse innerhalb dieser Gruppe eher verschleiert als klärt.

    Schon in Naturreligionen wird z.B. meist sehr genau zwischen den “symbolischen” und “alltäglichen” Erzählungen unterschieden, beispielsweise in Art und Milieu der Erzählung. Kluge, sprechende Tiere oder Helden, die die Sonne besuchen, werden nicht für Alltagserfahrungen gehalten.

    Ansonsten freut es mich wirklich sehr, dass unser (von ganz unterschiedlichen Ausgangsannahmen ausgehende) Austausch durchaus auch zu zunehmend vergleichbaren Modellen zu konvergieren scheint!

  72. Trennsatz verschluckt

    Vor den Satz “Schon in Naturreligionen…” hätte natürlich noch gehört: “Zur differenzierten Betrachtung des Kausalitätsbegriffes würde ich plädieren zu berücksichtigen”.

    Jetzt den Absatz im Ganzen also:

    Zur differenzierten Betrachtung des Kausalitätsbegriffes würde ich plädieren zu berücksichtigen: Schon in Naturreligionen wird z.B. meist sehr genau zwischen den “symbolischen” und “alltäglichen” Erzählungen unterschieden, beispielsweise in Art und Milieu der Erzählung. Kluge, sprechende Tiere oder Helden, die die Sonne besuchen, werden nicht für Alltagserfahrungen gehalten.

  73. @Herr Blume, Kausalität

    Lieber Herr Blume,

    ich wollte mit dem Homo Causalis nicht gesagt haben, dass das kausale Denken das einzige Schema darstellt, dass zu Religion führt. Ich halte es jedoch nach wie vor für das Wesentliche. Sie führen die bevorzugte Aufmerksamkeit bereits der Tiere für bewegte …. Akteure an. Dies ist bestimmt korrekt, aber die Frage ist für andersherum, was den Mensch vom Tier unterscheidet. Und hier sehe ich nach wie vor die extrem verstärkte Hinwendung zur Kausalität. Auch die Tiere nehmen diese bereits wahr und bauen sie in ihr jeweiliges Weltbild ein – das zeigt nicht zuletzt die Möglichkeit, Tiere zu konditionieren.

    Was sie aber (gegenüber dem Menschen) stark unterscheidet, ist die im tierischen Fall nicht vorhandene Verselbständigung dieses Denkschemas. Zumindest habe ich in den populärwissenschaftlichen Publikationen zum Verhalten von Primaten noch nie eine Erwähnung gefunden, dass selbst unsere schlaueren Verwandten die Ursache-Wirkungsketten über das unmittelbar praktisch anzuwendende Maß hinaus weiter treiben würden. Insofern halte ich diesen Punkt weiterhin für zentral im Verständnis einerseits des Menschenbegriffs, andererseits aber auch im Zusammenhang mit der Entwicklung von Religionen, wie weiter oben ausgeführt.

    Bezüglich der Interpretation des Zölibats hatte ich weiter oben in der Kommentarkette auch bereits einen Erklärungsansatz aufgezeigt, der nicht zuletzt auch den Effekt des “Propheten im eigenen Lande” mit berücksichtigt. Die von Ihnen angesprochene “Gruppenselektion” sehe ich als Fähigkeit zur Motivation ähnlich Denkender zu gruppendynamisch gewünschtem Verhalten und Überzeugung Andersdenkender an den geografischen wie auch soziologischen Gruppengrenzen. Keinesfalls möchte ich Gruppe als Black-Box interpretieren, sondern als ein aktives Interaktionsgeflecht, das sich durch eine gegenüber “Außenstehenden” durch abgeschwächte Interaktionen (zumindest der positiven, konservativen Art) auszeichnet.

    Die Unterscheidung von symbolischen und alltäglichen Erzählungen, die sie als mögliche Bremser der Kausalitätserklärung anführen, dürfte aber durchaus wiederum fließend zu beobachten sein. Selbst in unseren “fortschrittlichen” monotheistischen Religionen gibt es schließlich so was wie Heilige, Wallfahrtsorte, verehrte Märtyrer und dergleichen. Hier vermischen sich diese beiden Pole doch frappant, oder?

    Wie schon geschrieben: Wenn Menschen nicht anders als kausal denken können (und ich glaube, dass dies extrem lange so war, siehe meinen letzten Beitrag), *muss* Religion entstehen. Sonst hängen irgendwann Wirkungen ohne Ursachen in der Luft. Ich denke, das lässt sich auch in der historischen Entwicklung einzelner Religionen erkennen (und ich meine, es wäre weit vorne in diesem Thread auch schon mal angesprochen worden): Von den Naturreligionen zu den Gedankengebäuden der rezenten Religionen ist ein ganz klarer Weg zu immer mehr Komplexität erkennbar, die einzig dazu dient, kausale Beziehungen zwischen den verschiedenen Aspekten religiöser Aussagen zu flechten. Und zumindest in der katholischen Kirche führt dies letztlich zu geradezu absurden Stilblüten, die man eigentlich nur noch mit der alten Vortragenden-Weisheit kommentieren kann: “Wenn du dein Gegenüber nicht mit Argumenten überzeugen kannst, dann verwirre es so lange mit Unsinn, bis keine Gegenwehr mehr kommt.” 🙂

  74. genetische Fitness II @Dahl @Blume

    …herzlichen Dank für Ihre Antworten. Nur zur Ergänzung und Illustriation ein aktuelles Beispiel für den evolutionären Effekt, den ich zu beschreiben versucht habe, aus dem heutigen SPIEGEL ONLINE:

    http://www.spiegel.de/…sch/0,1518,526100,00.html

    Herr Dahl, ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass ich Sophia Loren ebenfalls verehre und wünschte, sie würde mit uns diskutieren!

  75. @ Herr Roosen, Kleinohrhase

    @ Herr Roosen:

    ” Die von Ihnen angesprochene “Gruppenselektion” sehe ich als Fähigkeit zur Motivation ähnlich Denkender zu gruppendynamisch gewünschtem Verhalten und Überzeugung Andersdenkender an den geografischen wie auch soziologischen Gruppengrenzen. Keinesfalls möchte ich Gruppe als Black-Box interpretieren, sondern als ein aktives Interaktionsgeflecht, das sich durch eine gegenüber “Außenstehenden” durch abgeschwächte Interaktionen (zumindest der positiven, konservativen Art) auszeichnet.”

    Sehr schön formuliert! Völlig d’accord!

    Zur Kausalität: ja, als ein treibendes Moment gerade auch der “Theologien” lässt sich das durchaus beobachten. Wobei ich noch einmal betonen möchte, dass das “symbolische” Wissen der Religionen gerade auch in den Weltreligionen neben dem “empirischen” Wissen steht. Vermischungen sind da eher schädlich, ein Dialog in gegenseitiger Unabhängigkeit scheint am erfolgreichsten – wie es wohl auch schon zwischen Jägern/Kriegern und Schamanen bzw. weisen Lehrer(inn)en der Fall war.

    Ein ganz aktuelles Beispiel, zu dem ich Ende kommender Woche in Leipzig sprechen werde, sind z.B. die UFO-Kulte. Gerade ihre Beanspruchung “wissenschaftlicher” Argumente bringt UFO-Gläubige schnell in Schwierigkeiten – wenn sich dann eben die Venus als unbewohnbar herausgestellt hat, die Wüstenbilder in Südamerika als Prozessionsstraßen, das Marsgesicht als Felsformation usw. ist gleich das ganze Glaubensgefüge bedroht. Daher entwickeln sich dort sehr viele Verschwörungstheorien – und die Raelianer haben es z.B. geschafft einen strikt “atheistischen Kreationismus” zu kreieren, der einerseits die Religionen als “abergläubisch und wissenschaftlich überholt” betrachtet, andererseits aber daran festhält, dass die Menschheit nicht evolvierte, sondern von einer anderen Spezies quasi “gepflanzt” wurde.

    Umgekehrt sind auch die Naturwissenschaften selten tiefer gesunken, als in den Jahrzehnten, in denen man die (vorläufigen) Erkenntnisse des Darwinismus in angeblich absolute Weltanschauungen transformierte und u.a. Eugenik, Rassismen und eine Verherrlichung von Kriegen gerade auch aus biologischen Instituten und Lehrstühlen strömte.

    Deswegen kann ich nur sagen: es scheint eine sehr gesunde Entwicklungen zu sein, dass sich empirische Beschreibung und letzte Deutungen auch in Europa wieder in unterschiedene und voneinander bei allem Dialog unabhängige Zuständigkeiten ausdifferenziert haben. Und als Religionswissenschaftler quasi von Haus aus “Wanderer zwischen diesen Welten” kann ich nur sagen: auf beiden Seiten gibt es helle Köpfe, aber auch ein gerüttelt Maß Ignoranz und Vorurteile über den je anderen…

  76. @ Kleinohrhase

    Danke für den Link!

    Für die Zwecke unserer Diskussion wäre es nun sehr interessant zu überlegen, ob sich das Wissen um diese vererbbare Krankheit nicht sogar auf Reproduktionsverhalten und ggf. Heiratschancen der Betroffenen auswirken dürfte. Denn die “reproduktive Vorausplanung” bildet einen gravierenden Unterschied, der m.E. zur treibenden Dynamik der Evolution von Religion gehört (Menschliche Fragen: Will ich Kinder? Kann ich mich auf das Wort des Partners verlassen? -> Pronatale Gebote, Gretchenfrage).

    Näher an Ihrem Thema sind z.B. die Dor Yeshorim, die orthodox-jüdischen Glauben mit Erkenntnissen der Gentechnik verknüpften – und damit die Anzahl von Kindern mit schweren, genetischen Behinderungen deutlich verringerten. Siehe hier: http://www.shidduchim.info/medical.html

    Mich überrascht übrigens, dass man dieses Thema in Deutschland kaum diskutiert hat, in den USA gab es gerade auch in Kirchen und Wissenschaft viel Pro und Contra. Aber bei uns glaubt man wohl immer noch zu oft, religionsbezogene Themen seien für “echte Wissenschaftler” uninteressant… Schade, eigentlich.

  77. @ohneohrhase

    “Herr Dahl, ich wollte nur zum Ausdruck bringen, dass ich Sophia Loren ebenfalls verehre und wünschte, sie würde mit uns diskutieren!”

    Die wird aber zu diesem Thema sicher nicht viel beitragen können. 😉

  78. @ – Martin Huhn: Sophia Loren

    Ja, ich fürchte, Sophia Loren ist katholisch – doch ihr kann ich das nachsehen…

  79. Loren – Clooney

    Ja, Sophia Loren…

    Katholisch, zeitlebens mit dem gleichen Mann verheiratet, zwei Kinder – passt wunderbar in die These!

    Ebenso wie der konfessions- und prompt kinderlose George Cloney (eine geschiedene Ehe), den bereits Herr Dahl als Kontrast zu den Amish in die Debatte einführte…

    Ich schätze beide sehr, aber als Religionswissenschaftler haben wir ja ohnehin immer für alles Verständnis…

    Und mir wird dank unserer Diskussion klar, dass ich nicht das harte Brot der Religionsdemografie in Deutschland und der Schweiz, sondern einfach der Hollywoodgrößen hätte korrelieren müssen – dann hätten sich sogar die deutsche Wissenschaftslandschaft und ihre Leitmedien längst ohne Vorurteile und empirisch mit der Frage der Evolution der Religion befasst! (-;

  80. @ – Blume: Vielleicht noch ein Tick präziser

    1: Sind Sie nun ein Adaptionist oder ein Epiphänomenalist?

    “Natürlich beides. Die Nabelschnur ist eine Adaption, der Bauchnabel ein Epiphänomen dazu.”

    Tut mir leid, doch diese Antwort verstehe nicht. Wie kann man beides zugleich sein?
    Entweder ist man davon überzeugt, dass der Glaube an übernatürliche Wesenheiten eine biologische Anpassung ist oder man ist es nicht!

    Die Religion ist ja nicht das einzige Thema, bei dem sich Darwinisten uneins sind. Auch beim Thema der Vergewaltigung haben wir ja zwei Lager; eines, das annimmt, dass die Vergewaltigung lediglich ein Nebenprodukt des opportunistischen Sexualverhaltens der Männer ist, und eines, das annimmt, dass die Vergewaltigung eine spezielle von der natürlichen Selektion geformte biologische Anpassung darstellt. Auch in dieser Debatte gibt es nur ein “entweder-oder”, nicht aber ein “sowohl-als-auch”.

  81. Epiphänomen oder Adaption?

    “Religiöse Veranlagungen könnten also als Epiphänomene kognitiver Gehirnfunktionen enstanden sein – heute erweisen sie sich als biologisch hoch adaptiv.”

    Wenn das Ihre Meinung ist, dann sind Sie ganz klar ein Epiphänomenalist und mit Herrn Roosen und mir einer Meinung. Der Glaube an übernatürliche Wesenheiten ist ein bloßes Nebenprodukt unseres Gehirns und seines kausalen sowie teleologischen Denkens. Dass sich religiöse Normen, wie etwa das erwähnte post-partum Koitus-Tabu als adaptiv erweisen können, leugnet kein Mensch – auch Dawkins nicht. Was haben Sie, wenn ich fragen darf, eigentlich gegen Dawkins?

    “Der Unwille diverser Forscher wie z.B. Dawkins, die Faktenlage anzuerkennen, weist m.E. erstaunliche und vielsagende Parallelen zu Abwehrstrategien von Kreationisten auf: man möchte gerne das eigene Weltbild vor unliebsamen Erkenntnissen der Wissenschaft schützen.”

  82. @ Hr. Dahl – Entoder weder? 🙂

    Lieber Herr Dahl,

    auch wenn ich mich hinsichtlich der *Entstehung* der Religion eher als Epiphänomenalisten sehe, kann ich schon recht gut Hr. Blumes Antworten des “sowohl als auch” nachvollziehen. Ich meinte eigentlich, in meinem Beiträgen auch die mögliche Symbiose der beiden Sichten von meiner Seite aus dargestellt zu haben.

    Der Gag evolvierender Systeme ist ja gerade, dass ab einer gewissen Komplexität Epiphänomene dermaßen komplex sind, dass sie in ihren Einzelauswirkungen nicht mehr sauber logisch von adaptiven Veränderungen getrennt werden können. Adaptive Veränderungen bedeuten (zumindest in meinem Verständnis) ja, dass eine unmittelbare Auswirkung auf die Fitness zu beobachten ist. Das heißt aber letztlich, es sind Epiphänomene mit Selektionswirkung. Da letztere aber in beliebigen Stärkegraden, und dann auch noch unterschiedlich stark je nach vorherrschender lokaler Randbedingung, vorliegen kann, sehe ich ein Kontinuum zwischen den idealisierten polaren Modellen von “Epiphänomen” und “Adaption”.

    Daher nach wie vor meine Sichtweise: Was als Epiphänomen einer besonders starken Kausalitätsorientierung begann, wird – wahrscheinlich schon sehr früh – einen gruppenstärkenden Effekt im Blume’schen Sinne und damit zunehmend die Qualität einer Adaption entwickelt haben, deren objektiv messbare Auswirkungen (nach Blume) nicht zu verleugnen sind.

  83. Noch einmal: Animismus

    3: Worin soll die Adaptivität des Glaubens an eine Beseeltheit aller Dinge bestehen?

    “Aus evolutiv gut nachvollziehbaren Gründen behandeln wir unbelebte Dinge anders als belebte. Nur von belebten Akteuren akzeptieren wir z.B. direkte Gebote.”

    Ich fürchte, das ist keine Antwort auf meine Frage, da wir bereits zwischen verschiedenen Stufen des Animismus unterschieden haben:

    Angenommen, wir müssen zwischen zwei verschiedenen Stufen des Animismus unterscheiden. Die erste besteht lediglich in dem Glauben an die Beseeltheit, die zweite schließt auch sittliche Forderungen ein. Insofern die zweite Stufe auf der ersten basiert, genügt es nicht, die Adaptivität der zweiten Stufe aufzuzeigen – man muss auch die Adaptivität der ersten erweisen!

    Noch einmal pointierter: Zu glauben, dass ein Baum oder ein Felsen eine Seele haben, ist das eine, zu glauben, dass sie mir die Zehn Gebote auferlegen, etwas anderes.

  84. Epiphänomen – Adaption -> Exaptation

    Ich bitte einfach zwei Aspekte klar zu unterscheiden: heute wirkt Religiosität durchschnittlich deutlich reproduktiv erfolgreich (evolviert also weiter) und die zunehmende Emergenz des Verhaltensmerkmals in der Geschichte von Homo Sapiens und Homo Neanderthalensis spricht m.E. ebenfalls ganz klar dafür, dass es sich bei Religion um eine biologische Anpassung handelt. Und zwar um eine erfolgreiche Anpassung v.a. an die Fähigkeit zu biografischer und dann auch reproduktiver Vorausplanung, die z.B. die Entscheidung für oder gegen (weitere) Kinder, für oder gegen Ehepartner (bzw. logisch erst den Ehekontrakte an sich) mit sich bringt. Diesen Übergang von retrospektiver zu prospektiver Reproduktionsplanung kann man spieltheoretisch übrigens wunderbar modellieren und aufzeigen, wie erfolgreich dabei geglaubte, übernatürliche Akteure werden – das wäre aber wohl eher Thema eines eigenen Wissenslogbeitrags.

    Also, klare Antwort: Das Verhaltensmerkmal Religion ist längst eine erfolgreiche Adaption, kein Epiphänomen mehr. Zur “Entstehung” der religiösen Veranlagung schließe ich dagegen epiphänomenologische Erklärungen ausdrücklich nicht aus und sehe die kognitionspsychologische Forschung nach Boyer und vor allem Bering, aber auch z.B. Palmer dabei auf sehr gutem Weg. Die kognitiven Fähigkeiten und “intuitiven Ontologien” unserer Vorfahren, aber auch z.B. die schon bei anderen Säugetieren beobachtbare Trauer halte ich für wichtige Kandidaten, aus denen heraus sich das neue Fähigkeitenbündel und Verhaltensmerkmal bildete (und bildet).

    Wenn Sie von mir also gerne ein einziges Label haben wollen, dann wäre ich nach S.J. Gould wohl (insofern wir von der Evolution der Religion sprechen) ein klarer “Exaptationist”.

    In der Exaptation erschließen sich biologische Merkmale eine neuartige Funktion – und genau diesen Effekt sehe ich im evolvierten und evolvierenden “Fähigkeitenbündel” Religion gegeben.

    Und meines Erachtens verdichten sich die interdisziplinären Erkenntnisse zur Evolution der Religion derzeit so schnell, dass gemeinsame, empirisch fundierte Modelle nicht mehr unmöglich scheinen.

    M.E. außerordentlich spannend (aber wohl wieder den Rahmen unserer hiesigen Diskussion sprengend): da die Exaptation “Religion” schon beim Frühen Menschen mindestens zweimal konvergent evolvierte, könnten wir darüber spekulieren, ob auch andere Spezies bei Erreichen der biografischen und reproduktiven Vorausplanung religiös adaptieren würden. Elefanten und Affen haben Sie ja als weitere “Kandidaten” bereits ins Spiel gebracht – und ich würde sogar so weit gehen, bald einmal mit Kosmobiologen über die Religiosität von intelligenten Extraterrestriern zu spekulieren! (-;

  85. @ Animismus

    Lieber Herr Dahl,

    Sie verlangen ja schon eine fast geschlossene Fossilkette! Sind Sie zu Kollegen eigentlich genauso streng, die z.B. die Adaptivität von Flügeln behaupten, ohne bisher den Nutzen von Stummeln eindeutig und lückenlos belegen zu können? Oder halten Sie Flügel eher nur für ein Epiphänomen statt einer Anpassung? (-;

    Jetzt aber im Ernst: ich empfinde Ihre Fragen als außerordentlich präzise und hilfreich, so muss interdisziplinärer Dialog -wenn auch anstrengend und zeitintensiv- funktionieren! Danke dafür.

    Zur Frage: Zunächst einmal möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass ich von einer Erstrelevanz von Ahnenverehrung ausgehe, weder von kosmologischem Staunen noch von einem Ur-Animismus. Dass auch schon nahe, tierische Verwandte z.B. Trauer und also Ansätze von Erinnerung und ggf. Vergegenwärtigung zeigten, führten Sie ja freundlich ein. Und über diese Schiene wäre sowohl der soziale Bezug zu den übernatürlichen Akteuren wie auch eine gewisse Gerichtetheit der tradierten “descendant leaving strategies” naheliegend: wenige Ahnen werden ihren Kindern und Enkeln empfehlen, auf keinen Fall Kinder zu bekommen… (Und wenn, wird diese Überlieferung schnell wieder kulturell aussterben – vergleiche z.B. Shaker und Amish) Wir haben, wie bereits mehrfach geschrieben, als bislang älteste, paläoanthropologische Befunde zu religiösem Verhalten Bestattungen von Sapiens und Neandertalern, Tierfigürchen, Mischwesen (also Hinweise auf Animismus) wie auch Himmelsobservatorien (also Hinweise auf Kosmologien) erst deutlich später.

    Ich darf zu Ihren Animismus-Überlegungen(das entsprechende Kapitel aus meiner Diss ziehend) aber noch einmal auf Boyer verweisen, der ganze sieben prä-religiöse, kognitive Präferenzen zur Konstruktion religiöser Akteure benannte:

    1. Ein Ensemble intuitiver ontologischer Erwartungen
    2. Eine Neigung, die Aufmerksamkeit auf Kontraintuitives zu richten
    3. Eine Tendenz, Kontraintuitives im Gedächtnis zu behalten, insofern es
    eine Fülle von Schlussfolgerungen ermöglicht
    4. Ein System für Erkennung (und übermotivierte Erkennung) von
    Aktivität und Wirken
    5. Ein Ensemble von Systemen des sozialen Bewussteins, die der
    Vorstellung von gut informierten Akteuren besondere Relevanz verleihen
    6. Ein Ensemble intuitiver moralischer Gewissheiten
    7. Ein Ensemble sozialer Kategorien, die Legitimierung bedürfen

    Interessanterweise konnte Boyer seine Schlussfolgerungen nicht nur ethnographisch, sondern auch experimentell unterfüttern. So können Menschen “intuitiv” angeben, dass “Gott ist allmächtig und allwissend. Aber Er ist nur mittwochs da.” eine Erfindung des Wissenschaftlers, “Ebenholzbäume belauschen die Gespräche, die in ihrem Schatten gehalten werden” dagegen echte, naturreligiöse Mythologie war. Der Grund (nach Boyer): die Nur-Mittwoch-Einschränkung reduziert irritierend Relevanz, während die lauschenden Ebenholzbäume den (ohnehin beliebten) Bäumen weitere Relevanz zuweisen.

    Sie erleben das gleiche Phänomen derzeit im Hinblick auf nicht oder umstritten identifizierte Flugobjekte bzw. Himmelserscheinungen, die in großen Teilen der Öffentlichkeit sehr bereitwillig als “Besucher von fremden Sternen” aufgefasst werden. Dies nicht, weil empirische Belege dies nahelegten, sondern weil an uns interessierte, ggf. mit guten oder bösen Absichten aufkreuzende Machtwesen einfach sehr viel “relevanter” und also “spannender” wirken, als nur z.B. Wetterbalone oder unbeseelte Naturphänomene anzunehmen. Und schon haben wir selbst unter ganz modernen und gebildeten Menschen eine tiefe Faszination für entsprechende Bücher, Filme und Dutzende von UFO-Mythen, sogar Kultgemeinschaften…

  86. @ Herr Blume: Lowlights der Historie

    Lieber Herr Blume,

    Ihr Beispiel der UFO-logen ist für mich eigentlich auch nur die Darstellung einer weiteren Religion – wobei deren Anhänger Ihrer Aussage nach (ich kenne mich da überhaupt nicht aus) zumindest ihrer Breduille bewusst sind und somit erste Anzeichen einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema zeigen. Ich vermute mal, dass ein größerer Teil von ihnen durchaus nachvollziehbaren wissenschaftlichen Belegen gegenüber offen ist, was man von den gängigen monotheistischen Weltreligionen eher nicht behaupten kann.

    Dass einzelne Schergen gewisser Weltsichten auch jeweils aktuelle naturwissenschaftliche, wenn auch meist eher vorläufige Erkenntnisse per Missinterpretation zu schlimmen Sachen missbrauchen, stelle ich nicht in Abrede. Genau wie dieses passiert ist und wohl auch immer wieder passieren kann, gibt es zahlreiche Beispiele besonders in der Kirchengeschichte, bestimmt aber auch im Islam oder sonstigen Religionen. Den Unterschied, den ich zwischen den wissenschaftlichen und den religiösen Gedankengebäuden jedoch sehe ist folgender: Während die Missbräuche wissenschaftlicher Aussagen, nicht zuletzt wegen objektiver, nachvollziehbarer Einwände anderer Wissenschaftler, in der Regel recht kurz andauern, dauern die religiös motivierten Verirrungen nicht selten Jahrhunderte lang an. Ich kann mich nicht erinnern, dass entsprechende Verirrungen jemals religionsintern kritisiert und letztlich abgestellt worden sind. Außerdem befleißigen selbst höchstrangige Vertreter der religiösen Gemeinschaften der Unterstützung entsprechender Rituale.

  87. (UFO-)Glauben und Wissenschaft

    Lieber Herr Roosen,

    die vergleichende Wahrnehmung wissenschaftlicher und religiöser Wahrheitsansprüche, ihre politische Missbräuche usw. wäre sicher ein eigenes Thema – und vielleicht (da sind wir uns wohl einig) auch kein ergiebiges. Ich persönlich schalte da inzwischen immer schon ab, wenn wieder Hexenverbrennungen gegen Kulturrevolutionen, Glaubensverfolgungen gegen Stalins “Säuberungen” und die Inquisition mit Nordkoreas Geheimdienst verglichen wird. Zur wirklich sachlichen Klärung trägt das in der Tat selten bei und ich genieße es sehr, dass Atheisten, Agnostiker und Religiöse im Rahmen der Evolutionsforschung über dieses polemische Stadium auch hinweggekommen sind.

    Interessanter scheint es tatsächlich, die oft fließenden Grenzen zwischen wissenschaftlichen und religiösen Wissensansprüchen empirisch zu betrachten. Wussten Sie z.B., dass sich bei den Raelianern längst auch aus einem vermeintlich “wissenschaftlichen Atheismus” ein UFO-Glaubenssystem samt eines “atheistischen Kreationismus” (ja, komplette Ablehnung der Evolutionstheorie!) entwickelt hat? Hier, mit Video:

    http://religionswissenschaft.twoday.net/…578340/

    Ohne dass hier jetzt weiter vertiefen zu wollen: auch die neuen UFO-Gemeinschaften entwickeln sich mit bemerkenswerten Parallelen zu früheren Religionen und die Entstehung und Verbreitung der UFO-Mythologien bietet hervorragendes, vergleichendes Material zur Religionsentstehung in jüngster Zeit. Zu ihrem großen Problem aber gehört, dass ihre Annahmen beständiger Falsifikation ausgesetzt sind – während die klassischen Religionen auch neue Erkenntnisse zu integrieren gelernt haben.

    Wäre aber wohl wieder eher ein eigenes Thema, freue mich schon auf die Debatte nächste Woche an der Uni Leipzig dazu, hier also nur angedeutet…

    Herzliche Grüße!

    Michael Blume

  88. God in the brain @Dahl @Blume

    …vielleicht bringt dieser aktuelle Artikel aus dem New England Journal of Medicine neues Wasser auf Ihre Mühlen!

    Soweit ich es beim kurzen Überfliegen erfasst habe, kann man aus den Daten der funktionelle Bildgebung offenbar eher darauf schließen, dass religiöse Gefühle ein Epiphenom sind…

    free full text at:
    http://content.nejm.org/cgi/content/full/358/1/6

  89. Exaptation

    Lieber Herr Blume,

    entschuldigen Sie bitte, wenn ich dann und wann etwas schroff klinge. Diese Schroffheit ist nur ein “Nebenprodukt” meiner Bemühung, auf den Punkt genau zu fragen. Ganz im Ernst, ich bin außerordentlich dankbar für unsere kontroverse Diskussion, die mir als die fruchtbarste auf diesem Blog erscheint – und das haben wir ausschließlich Ihnen zu verdanken!

    Mit dem Label “Exaptionist” bin ich einverstanden, auch wenn ich mich selbst damit nicht identifizieren kann und mich – zumindest fürs erste – noch weiter als Epiphänomenalist bezeichne.

    To be continued…

  90. Die Adaptivität der Religion

    Ich will versuchen, meine Position noch einmal zu präzisieren: Religiosität besteht im Glauben an übernatürliche Wesenheiten. Der bloße Glaube an übernatürliche Wesenheiten selbst kann noch nicht adaptiv sein. Adaptiv kann er erst werden, wenn er mit der Verehrung und vor allem mit dem Gehorsam gegenüber übernatürlichen Wesenheiten einhergeht. Sind wir uns soweit einig?

    Inwieweit die Verehrung und der Gehorsam gegenüber einem übernatürlichen Wesen adaptiv ist, hängt nun ausschließlich von den Forderungen dieser “Gottheit” ab. Wenn sie ihren Anhängern befiehlt “Seid und fruchtbar und mehret euch”, dann kann sich der Glaube an diese Gottheit reproduktiv bezahlt machen. Wenn sie dagegen ein Leben in Einsamkeit und Enthaltsamkeit fordert, geht sie auf Kosten unserer Reproduktion und ist insofern maladaptiv. Sind wir uns darin auch einig?

    To be continued…

  91. Maladaptivität des Christentums

    Interessanterweise war das Christentum, zunächst sogar maladaptiv. Wenn die Anhänger der “Sekte Jesu” ihren Herrn beim Worte genommen und ihre Familien verlassen hätten, um ihm nachzufolgen, wären sie nämlich schon nach einer Generation ausgestorben: “Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein.”

    Auch hier zeigt sich also wieder, dass es nicht der religiöse Glaube per se, sondern die Befolgung von sitlichen Forderungen ist, die adaptiv oder maladaptiv sein kann.

    Ich habe gleich noch einmal eine Frage zum Ahnenkult. Bis gleich!

  92. Noch einmal: Religion und Adaption

    Was ich gerade gesagt habe, ist im Prinzip identisch mit dem, was ich schon zu Beginn unserer Diskussion angemerkt hatte, als ich schrieb:

    “Es kann also nicht der Glaube an irgendwelche beliebigen übernatürlichen Wesenheiten sein, der adaptiv ist, sondern nur der Glaube an Wesenheiten, die mit mir in Verbindung treten und mir ein bestimmtes Handeln auferlegen. Dieses Handeln kann mir dann zu meinem Vorteil oder zu meinem Nachteil gereichen. Wenn mir dieses Wesen sagt: ‘Alles ist eitel’, mag ich mich (und meine Gene) in die nächste Schlucht stürzen; sagt es mir dagegen: ‘Sei fruchtbar und mehre dich’, mag ich mich auf Brautschau begeben und mich (und meine Gene) fortpflanzen.

    Wenn es aber letztlich die Befolgung von bestimmten Handlungsanweisungen ist, die mir biologische Vor- oder Nachteile verschafft, dann scheint es mehr die Ethik als die Religion zu sein, die adaptiv oder maladaptiv ist.”

    Das einzige, was ich eventuell zugestehen müsste, ist, dass eine auf göttlicher Autorität basierende Ethik eine größere Verbindlichkeit entfalten mag. Ich sage bewusst “mag”, weil ich immer wieder erstaunt darüber bin, wie Menschen, die an einen Gott, an ein Jüngstes Gericht und an eine ewige Verdammnis in der Hölle glauben, trotzdem so viele Verbrechen begehen können.

  93. Ahnenverehrung

    “Zunächst einmal möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass ich von einer Erstrelevanz von Ahnenverehrung ausgehe, weder von kosmologischem Staunen noch von einem Ur-Animismus. Dass auch schon nahe, tierische Verwandte z.B. Trauer und also Ansätze von Erinnerung und ggf. Vergegenwärtigung zeigten, führten Sie ja freundlich ein. Und über diese Schiene wäre sowohl der soziale Bezug zu den übernatürlichen Akteuren wie auch eine gewisse Gerichtetheit der tradierten “descendant leaving strategies” naheliegend: wenige Ahnen werden ihren Kindern und Enkeln empfehlen, auf keinen Fall Kinder zu bekommen…”

    Dieser Gedankengang erscheint mir durchaus plausibel. Dennoch würde ich gerne wissen, wie der Übergang von der Trauer um unsere Vorfahren über den Glauben an eine unsterbliche Seele unserer Vorfahren bis hin zur Befolgung sittlicher Gebote unserer Vorfahren genau aussehen könnte.

    In jedem Fall scheinen wir mit der Trauer beginnen zu müssen. Doch welchen Überlebens- oder Fortpflanzungsvorteil sollte uns das Trauern um unsere Verstorbenen bescheren? Insofern die Trauer einer zeitlich begrenzten Depression entspricht, ist es sogar denkbar, dass die Trauer maladaptiv ist, weil sie uns verletzbar macht.

  94. @ Keinohrhase

    Danke, starker Artikel! Und, ja, auch der deutet in die Richtung, dass verschiedenste Gehirnregionen epiphänomenologische Ansätze beispielsweise zu Musik, Kunst oder eben Religion hervorgebracht haben!

    Und jetzt ist es unsere empirisch-beobachtende Aufgabe, herauszufinden, ob diese Merkmale je weiterhin nur Epiphänomene sind, oder sich zu Exaptationen entwickelt haben. Und für die Religion halte ich es, wie gesagt, für religionsdemografisch eindeutig: es bestehen enorme, reproduktive Vorteile!

    Also: Epiphänomen -> Exaptation! (-:

  95. @ Dahl: Trauer, Frage

    Über Beobachtungen trauernder Verhaltensweisen schon bei Tieren (Elefanten, Affen) waren wir uns einig. Ich sehe in ihr ein Epiphänomen der Verwandtenselektion, die damit einen wesentlichen Startpunkt zur Exaptation von Homo Sapiens und Homo Neanderthalensis geleistet hat.

    Da ich nun aber schon eine ganze Batterie von Fragen (gerne) beantwortet habe, erlauben Sie mir, Ihnen nun auch eine Frage zu stellen. Wie sonst als durch Exaptationen sollen neue Adaptionen entstehen?

    Konkret und ernsthaft gefragt:
    1. Halten Sie Vogelflügel für eine Adaption oder ein Epiphänomen?

    2. Wie erklären Sie sich die Evolution der Flügel? Hatten z.B. schon Stummel die gleiche Funktion?

  96. God in the Brain II @Blume @Dahl

    …lassen Sie mich bitte kurz versuchen, in Ihre nachwievor hochinteressante Diskussion vermittelnd einzutreten:

    Ich denke, Herr Dahl würde sofort zugestehen, dass heutige Religionen (die ja mehr oder weniger komplexe, hochentwickelte Systeme sind) so ausgestaltet sind, dass sie reproduktive Vorteile mitsichbringen – dass Ihre empirischen Daten also stimmen. Wenn religiöse Gefühle eine genetische Grundlage haben, wird sich diese also gerade in unserer Population weiter verbreiten – die Evolution geht schließlich immer weiter.

    Aber was Herr Dahl zu bezweifeln scheint, ist, dass religiöse Gefühle evolutionär VON ANFANG AN reproduktiv von Vorteil waren. Ihr “Heraufdämmern” in unseren Vorfahren – ich vermute, es geschah lange bevor man aus genetischer oder anthropologischer Sicht von Homo sapiens sapiens sprechen konnte – war für ihn ein Epiphänomen.

    Ab wann sich ggf. ein solches, anfangs selektionsneutrales Epiphänomen durch Ausgestaltung von Religionen oder Kulten o.ä. zu einem eigenständigen Reproduktionsvorteil entwickelt hat und die entsprechende genetische Grundlage positiv selektiert wurde, dürfte für alle Zeiten unlösbar sein…

    Herr Dahl, habe ich Sie richtig verstanden? Sie wissen schon, meine Ohren…

  97. Annäherung

    Lieber Herr Dahl,

    ich habe tatsächlich das Gefühl, dass sich unsere Positionen im Verlauf dieser Diskussionen sukzessive annähern! Spannend!

    Sie schreiben:
    “Religiosität besteht im Glauben an übernatürliche Wesenheiten. Der bloße Glaube an übernatürliche Wesenheiten selbst kann noch nicht adaptiv sein. Adaptiv kann er erst werden, wenn er mit der Verehrung und vor allem mit dem Gehorsam gegenüber übernatürlichen Wesenheiten einhergeht. Sind wir uns soweit einig?”

    Mit einer Einschränkung: ich sehe Religiosität von Anfang an in der Kombination von Erfahrung, Verhalten und kognitiver Überzeugung. Wenn wir vom Startpunkt Trauer ausgehen, gehen ja (z.B. beobachtbar bei Affen und Elefanten) die soziale Erfahrung und vor allem die Verhaltensäußerungen (Beschützen, Tragen, Aufrichten, Anstupfen etc.) der kognitiven Überzeugung z.B. an ein Weiterleben nach dem Tod sogar “voran”.
    “Dennoch würde ich gerne wissen, wie der Übergang von der Trauer um unsere Vorfahren über den Glauben an eine unsterbliche Seele unserer Vorfahren bis hin zur Befolgung sittlicher Gebote unserer Vorfahren genau aussehen könnte.”

    Das scheint mir recht einfach. Schon das Verhalten trauernder Tiere gegenüber den Toten knüpft an normales, reziprokes Verhalten an. Bei der Tagung in Delmenhorst war es ein eigenes Gesprächsthema, als ein (streng atheistischer) Psychologe darüber sprach, dass auch er selbst sich den Wünschen seiner verstorbenen Mutter weiter verpflichtet fühle – obwohl er doch als Extinktionist “wisse”, dass sie nicht mehr existiere. (Und denken wir z.B. an die rituellen Bestattungen auch in säkular-atheistischen Populationen!)Schon dieser ganz “natürliche”, reziproke Instinkt löst also weiterwirkende Verhaltensimpulse aus, die durch Glaubensüberzeugungen nur noch verstärkt werden müssen.

    “Inwieweit die Verehrung und der Gehorsam gegenüber einem übernatürlichen Wesen adaptiv ist, hängt nun ausschließlich von den Forderungen dieser “Gottheit” ab. Wenn sie ihren Anhängern befiehlt “Seid und fruchtbar und mehret euch”, dann kann sich der Glaube an diese Gottheit reproduktiv bezahlt machen. Wenn sie dagegen ein Leben in Einsamkeit und Enthaltsamkeit fordert, geht sie auf Kosten unserer Reproduktion und ist insofern maladaptiv. Sind wir uns darin auch einig?”

    Ja, völlig! Und wieder können wir hier ganz klassisch bei der Biologie starten: Wir finden es völlig natürlich, dass Eltern dazu tendieren, den Reproduktionserfolg ihrer Nachkommen zu maximieren – denn schließlich sind es die eigenen Gene. Schon intuitiv werden also Vorfahren ihren Nachkommen eher “Seid fruchtbar und mehret euch!” (etc. pp.) auf den Weg geben als “Aber pflanzt Euch auf keinen Fall fort!”. Das ist ja der Witz an Palmers “descendant leaving strategies”: sterbende Vorfahren pflegen der versammelten Familie Weisungen wie “Seid gut zueinander.”, “Du, Franz, bleib immer Deiner Resi treu.” und “Vertragt euch und sorgt mir gut für die Martha, wenn ich nicht mehr bin.” mit auf den Weg zu geben.

    “Das einzige, was ich eventuell zugestehen müsste, ist, dass eine auf göttlicher Autorität basierende Ethik eine größere Verbindlichkeit entfalten mag.” – Genau das tritt jetzt ein! Nachkomme A befolgt nun Großvaters Weisungen nur aus Anhänglichkeit, Nachkomme B aber “zusätzlich” aus dem Glauben, dass Großvater aus dem Jenseits zuschaut und gebrochene Worte ggf. zu rächen vermag. Das macht B nicht zu einem besseren Menschen – nur zu einem durchschnittlich reproduktiv erfolgreicheren.

    Und falls es doch zu maladaptiven, religiösen Überlieferungen kommt?

    “Interessanterweise war das Christentum, zunächst sogar maladaptiv. Wenn die Anhänger der “Sekte Jesu” ihren Herrn beim Worte genommen und ihre Familien verlassen hätten, um ihm nachzufolgen, wären sie nämlich schon nach einer Generation ausgestorben: “Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein.””

    Exakt! Deswegen wird diese Stelle heute in den Kirchen fast ebenso ungerne gepredigt wie z.B. die Todesstrafe für Ehebruch, 3.Mose 20,10 (nach dem Koran droht dafür übrigens nur das Auspeitschen, die Steinigung hat die Orthodoxie aus der Bibel übernommen.). Denn was passiert denn faktisch? Es entstehen ständig Dutzende Religionen und innerhalb auch nur einigermaßen erfolgreicher Gründungen praktisch sofort verschiedene Auslegungen und Flügel. Die allermeisten UFO-Religionen sind beispielsweise schon längst wieder eingegangen und die größte Gruppe (Raelianer) träumt vom Klonen…

    Und wer wird sich in diesem inter- und innerreligiösen Wettbewerb immer wieder durchsetzen? Natürlich jene Gemeinschaften, die auch reproduktiv erfolgreich sind – also z.B. die christlichen Amish statt der (ebenfalls christlichen) Shaker. Nicht nur das frühe Christentum, sondern auch der Buddhismus sind so sehr schnell aus einer asketischen Spur in eine religiöse Arbeitsteilung zwischen zölibatären Funktionären und reproduktiv dafür besonders geforderten Laien evolviert. Und aus beiden Religionen haben dann wiederum sogar ehemalige Mönche durch die Heirat mit ehemaligen Nonnen Reformbewegungen ohne Zölibat geschaffen (so Martin Luther in Deutschland und Shinran in Japan). Und dieser reproduktive Wettbewerb geht weiter und kann als (bio-)kulturelle Evolution viel schneller neue Reproduktionsstrategien etablieren, als es ein nur biologischer Prozess je könnte. Wenn Eva Herman z.B. predigt, die Alleinverdienerehe sei schon immer biblisches Gebot gewesen, kennt sie die Bibel nicht (u.a. Polygamie, Leviratsehe etc.) und vor allem nicht die Geschichte, in der bis vor wenigen Jahrhunderten das oikos-Modell mit dem Arbeitseinsatz aller (Väter, Mütter, Kinder) die religiöse Norm bildete. Erst in der frühen Industrialisierung entwickelten protestantische Freikirchen die Alleinverdienerehe, die sich dann erfolgreich ausbreitete (u.a. niedrigere Sterblichkeit von Müttern und Kindern, höhere Bildungs- und Wirtschaftserfolge etc.) und später auch von den katholischen Christen übernommen wurde. Und derzeit können wir anhand der Schweizer Daten den reproduktiven Erfolg beispielsweise der Pfingstkirchen mit Rekordraten Teilzeit-arbeitender Mütter sehen, während die Neuapostolische Kirche und die Zeugen Jehovas mit sturem Traditionalismus und ohne eigene Kinderbetreuung unterjüngen und verfallen (dabei aber immer noch mehr Kinder als Konfessionslose haben).

    Und würden wir 1.000 Menschen auf einer einsamen Insel aussetzen, so würden sie binnen weniger Generationen religiöse Überlieferungen entwickelt haben, die historisch auf Fragmenten erinnerter Herkunftsreligionen basierte, aber wiederum reproduktiv an ihre neue Umwelt angepasst wäre.

    Von Hayek formulierte dies m.E. genial so, dass der Religion-Demografie “nicht intrinsisch, sondern historisch” sei – sich also im Wettbewerb immer wieder bilde. Ein schönes Beispiel hatten wir ja übrigens schon diskutiert : den Verfall des Hellenismus gegenüber den verbindlichen Monotheismen!

    “Ich sage bewusst “mag”, weil ich immer wieder erstaunt darüber bin, wie Menschen, die an einen Gott, an ein Jüngstes Gericht und an eine ewige Verdammnis in der Hölle glauben, trotzdem so viele Verbrechen begehen können.”

    Nun ja, der Evolutionsprozess fragt ja erst einmal nicht nach Gut oder Schlecht, er findet statt. Auch Aggressivität etc. gehört zu unserem evolutionären Erbe, weil sie in der Vergangenheit adaptiv waren.

    Meine These und Intention wäre völlig falsch verstanden, wenn Sie den Eindruck hätten, ich würde behaupten, dass religiöse Menschen grundsätzlich moralisch besser oder immer erfolgreich wären. Das behaupte ich nicht (und die wirklich Weisen der Religionen übrigens auch nicht…). Ich sage nur: wir haben inzwischen überwältigend starke, auch empirische Belege dafür, dass vergemeinschaftete Religiosität als biokulturelle Fähigkeit genetisch-neurobiologisch veranlagt und biologisch adaptiv (meinetwegen: exaptiert) ist – also mit durchschnittlich höherem Reproduktionserfolg einherging und -geht.

    Auch die Religion wird damit als Exaptation und als Teil der menschlichen Natur naturwissenschaftlich beschreib- und besser verstehbar, wie es im Grundsatz auch schon C. Darwin in der “Abstammung des Menschen” vermutet hatte.

  98. Na, ich weiß nicht so recht

    “Interessanterweise war das Christentum, zunächst sogar maladaptiv. Wenn die Anhänger der “Sekte Jesu” ihren Herrn beim Worte genommen und ihre Familien verlassen hätten, um ihm nachzufolgen, wären sie nämlich schon nach einer Generation ausgestorben: “Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater, Mutter, Frau, Kinder, Brüder, Schwestern und dazu sich selbst, der kann nicht mein Jünger sein.”

    So ist die Stelle aber nicht gemeint. Zum einen hat Jesus viele wieder nach Hause geschickt, die mit ihm gehen wollten. Zum anderen hat sich Jesus an andere Stelle über die Ehe geäußert. Da hob er das Scheidungsrecht – bis auf eine Ausnahme – auf (was einige Christen heutzutage wieder einführen 😉 ) und mahnte absolute Treue an, bezeichnete begehrliche Gedanken schon als Ehebruch (Bergpredigt). Ehelosigkeit kommt nach seinen Worten eh nur für sehr wenige in Betracht. Petrus war verheiratet und Jesus hat nicht die Auflösung seiner Ehe gefordert. Petrus war halt nur eine zeitlang auf “Geschäftsreise”.
    Den Haß darf man auch nicht wörtlich verstehen, weil er sich mit den anderen Worten Jesus widerspräche. Man soll ja noch nichtmal seine Feinde hassen. Es ist besser als ein ganz starker Ausdruck für die Liebe zu Jesus zu verstehen. Die Liebe zu Jesus soll so groß sein, daß man in Vergleich dazu seine engen Familienangehörigen haßt.
    Das ist nicht die einzige Bibelstelle mit sehr starken Ausdrücken, die man nicht wörtlich zu verstehen hat. Beispielsweise, wenn dich dein rechtes Auge zur Sünde verführt, dann reiß es aus. Wenn man dem folgen würde, dürfte man in den Kirchen nur Menschen mit rechter Augenklappe antreffen.

    Mal ein plastisches Beispiel zur oben genannten Bibelstelle. Nehmen wir an, da ist ein atheistischer Vater mit einer Tochter im Teeniealter. Das Mädchen ist klug und begabt, begeistert sich für die Wissenschaften und Papas ganzer Stolz. Plötzlich sieht er die undankbare Göre in einer Bibel lesend und es scheint ihr sogar zu gefallen. Der Vater ist alles andere als begeistert, ballt drohend die Faust zum Himmel und beschwert sich beim allmächtigen Zufall, wieso gerade ihm das widerfahre. Danach verbietet er seiner Tochter die Bibellese und auch sonstigen Kontakt zu Christen. Laut Bibel sollen Kinder den Eltern folgen. In diesem Falle muß die Tochter es aber nicht tun, soll sie sogar nicht, sondern soll sich weiter um ihren Glauben mühen. Sie muß es ja nicht offen tun und den Vater provozieren, aber in diesem Falle hat der Vater kein Weisungsrecht.

    Die starke Ausbreitung des Christentums hatte auch weniger mit der “Reproduktion” zu tun, sondern viel mehr mit dem missionarischem Eifer. Nachdem es allen langsam dämmerte, daß Jesus nicht nur für die Sünden der Juden, sondern für alle Menschen gestorben war, wurde das Evangelium den Heiden verkündet. Hinzu kam die Christenverfolgung in Jerusalem, so daß die Judenchristen in andere Länder flüchten mußten. Das begünstige die Verbreitung der Botschaft. Eine weitere Begünstigung war Rom. Zu der Zeit war ja quasi alles Rom und Paulus konnte sehr gut durch die verschiedenen römischen Provinzen reisen, zumal die Straßen sehr gut ausgebaut waren.

    Ich finde es generell schwierig die Ausbreitung des Christentums so eng an die Kinderzahl zu koppeln. Es heißt so schön, es gibt Kinder Gottes, aber Enkel hat Gott keine. Soll heißen, der Glaube wird nicht vererbt, der kann auch nicht anerzogen werden. Die Wahrscheinlichkeit, daß man mit einer christlichen Erziehung zum Glauben findet ist natürlich höher als ohne (logisch, wenn man sich nicht damit beschäftigt geht das auch schlecht), aber längst keine Garantie. Da gibt es so einige, die sich davon abwenden. Nehmen wir nur mal die Pfarrerstocher Gudrun Ensslin. Und das ist kein Einzelfall. Ich kenne so einige Kinder fromme Eltern, die man nicht mehr sieht.
    Wie das Ganze bei den Amish aussieht, weiß ich nicht. Würde mich aber interessieren. Wissen Sie etwas über die Fluktuation bei den Amish Herr Blume?

  99. Ja zu @keinohrhases Vermittlung (-:

    “Aber was Herr Dahl zu bezweifeln scheint, ist, dass religiöse Gefühle evolutionär VON ANFANG AN reproduktiv von Vorteil waren. Ihr “Heraufdämmern” in unseren Vorfahren – ich vermute, es geschah lange bevor man aus genetischer oder anthropologischer Sicht von Homo sapiens sapiens sprechen konnte – war für ihn ein Epiphänomen.”

    Das sehe ich zunächst genauso wie Herr Dahl. Religiosität entstand auf der Basis von Epiphänomenen (wie Trauer), die ganz klassisch zu einer Anpassung exaptierten. Mit Wilson & Gould: “Byproducts can become exaptations, which in turn can become adaptations.”

    “Ab wann sich ggf. ein solches, anfangs selektionsneutrales Epiphänomen durch Ausgestaltung von Religionen oder Kulten o.ä. zu einem eigenständigen Reproduktionsvorteil entwickelt hat und die entsprechende genetische Grundlage positiv selektiert wurde, dürfte für alle Zeiten unlösbar sein…”

    Warum so schnell aufgeben? Im Gegensatz zu den Dinosauriern, über deren Brutverhalten wir forschen, haben wir einige Milliarden zeitgenössische Vertreter der Gattung Homo Sapiens zum Erforschen. Wir können Verhaltens- und Zwillingstudien, Genanalysen, Experimente und Gehirnscans durchführen, psychpharmakologischen und medizinische Befunde integrieren und uns außerdem auf einen Reichtum historischer und prähistorischer Befunde stützen. Und Ansätze religioiden Verhaltens können wir sogar bei einigen Säugetieren beobachten und dazu noch die Gattung der Neandertaler einbeziehen, die unsere (auch religiöse) Evolution bis vor wenigen Jahrzehntausenden konvergent begleitet hat.

    Es mag sein, dass wir irgendwann an absolute Erkenntnisgrenzen stoßen – aber für die kommenden Jahre und Jahrzehnte sehe ich erst einmal riesengroße Chancen! Und hoffe, dass wir sie nutzen!

  100. @ Blume

    “Über Beobachtungen trauernder Verhaltensweisen schon bei Tieren (Elefanten, Affen) waren wir uns einig. Ich sehe in ihr ein Epiphänomen der Verwandtenselektion, die damit einen wesentlichen Startpunkt zur Exaptation von Homo Sapiens und Homo Neanderthalensis geleistet hat.”

    Daran störe ich mich die ganze Zeit. Trauern ist doch “nur” eine Gefühlsregung und ich habe kein Problem damit Tieren Gefühle zuzugestehen. Die bilden sich die Scherzen ja auch nicht ein und fangen an zu jaulen, weil es gut klingt. Eine Jenseiterwartung hingegen setzt ein Selbstbewußtsein voraus. Trauern kann man auch ohne Selbstbewußtsein.

    Mir kommt das so schwach vor wie die Millerschen Versuche die Entstehung der Zelle klären wollen. So ein paar Aminosäuren machen noch längst keine lebende Zelle und Gefühlsregungen sind nicht die Vorstufe eines Selbstbewußtseins.

  101. @ Theophil Isegrim

    Zunächst: natürlich ist die Zuspitzung von Jesu Lehre auf den einen Satz verkürzt, Jesus erfand schließlich nichts komplett neues, sondern stand bereits auf der Basis des weit evolvierten Judentums.

    “Die starke Ausbreitung des Christentums hatte auch weniger mit der “Reproduktion” zu tun, sondern viel mehr mit dem missionarischem Eifer.”

    Drei Einwände: 1. Zum einen gab es Dutzende Kulte mit missionarischem Eifer in der antiken Welt, u.a. Manichäismus, Mithraskulte und zahlreiche Synkretismen.

    2. Der schon im NT vermerkte, besondere Erfolg der monotheistischen (auch jüdischen) Missionen ging wesentlich auch auf die Bereitschaft von Frauen zurück – die (ebenso wie empirisch nachweisbar heute!) ethisch und sozial verbindliche Gemeinschaften libertären Entwürfen vorzogen. (Die Klassik wusste, warum sie “Weisheit” weiblich beschreibt… (-; )

    3. Dauerhafter Missionserfolg ist ohne reproduktiven Erfolg unmöglich. Die Shaker haben es versucht, die Zeugen Jehovas tun es noch (und schrumpfen in Europa bereits wieder). Denn eine Gemeinschaft ohne junge Leute wird zum einen für Anschlusssuchende zunehmend unattraktiv und hat zum zweiten immer weniger Missionare zur Verfügung. Deswegen blühen heute die Mormonen und die Amish können es sich sogar leisten, Konversionswillige abzuweisen – während z.B. die missionarisch sehr erfolgreichen Manichäer (zunächst eine ernsthafte Konkurrenz zum Christentum) nach wenigen Jahrhunderten wieder implodierten. Will sagen: Der reproduktive Erfolg ist ein wichtiger Gradmesser für die missionarische Ausstrahlung, die ohne genug eigene Nachkommen nicht aufrecht erhalten werden kann.

    “Ich finde es generell schwierig die Ausbreitung des Christentums so eng an die Kinderzahl zu koppeln. Es heißt so schön, es gibt Kinder Gottes, aber Enkel hat Gott keine. Soll heißen, der Glaube wird nicht vererbt, der kann auch nicht anerzogen werden. Die Wahrscheinlichkeit, daß man mit einer christlichen Erziehung zum Glauben findet ist natürlich höher als ohne (logisch, wenn man sich nicht damit beschäftigt geht das auch schlecht), aber längst keine Garantie.”

    Auch das haben wir (damals noch ganz ohne evolutionstheoretische Perspektive) natürlich mit als erstes empirisch erforscht, z.B. im Rahmen der ALLBUS-Studie, hier:
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/…6.pdf

    Die Religiosität wird stark (ca. 60-70%, vor allem mütterlicherseits) aber nicht absolut vererbt. Würde sie “nur” parental fixiert vererbt, würde sie auch ihre kulturelle Plastizität (und damit einen zentralen Teil ihrer Adaptivität!) verlieren – neue Entwürfe können ja nur entstehen, wenn es Devianz gibt. Gäbe es “keine” parentale Vererbung, hätte Religiosität (da haben Sie völlig Recht!) auch kaum biologischen Vorteil. Die mittlere bis hohe Vererbbarkeit, die wir beobachten, passt also ganz hervorragend zu einer adaptiven, biokulturellen Fähigkeit: sie kombiniert biologischen Erfolg mit einer beständig “suchenden” Variabilität.

    Nachtrag: Wir haben jetzt nur über das Christentum diskutiert. Lassen Sie mich auf das Judentum verweisen. Es überlebte zwei Jahrtausende sowohl in der christlichen wie islamischen Welt trotz Konversions- und Assimilationsdrucks und trotz des Verbotes, christliche oder islamische Konvertiten aufzunehmen oder gar zu missionieren. Es überlebte allein durch biologische und gemeinschaftliche Reproduktion und erfolgreiche Sozialisierung der Kinder – und wer auch heute noch erfolgreiche, reproduktive Strategien und für Schulen & Kinderbetreuung aktive Gemeinschaften besuchen möchte, dem empfehle ich einen Lernbesuch bei der örtlichen, jüdischen Gemeinde. Laut den Schweizer Daten sind sie mit Abstand die gebildetste und beruflich erfolgreichste Kategorie (deutlich vor den Konfessionslosen) – und haben zugleich auch heute noch die meisten Geburten aller mehrheitlich inländischen Religionsgemeinschaften.

  102. Nicht nur Trauern

    “Trauern ist doch “nur” eine Gefühlsregung und ich habe kein Problem damit Tieren Gefühle zuzugestehen. Die bilden sich die Scherzen ja auch nicht ein und fangen an zu jaulen, weil es gut klingt. Eine Jenseiterwartung hingegen setzt ein Selbstbewußtsein voraus. Trauern kann man auch ohne Selbstbewußtsein.”

    Genau! Deswegen dürfen wir schon bei sehr frühen Menschenarten Trauerbekundungen wie bei Affen oder Elefanten annehmen. Bestattungen hatten wir jedoch erst ein paar Millionen Jahre später, belegt seit ca. 120.000 Jahren, also der mittleren Altsteinzeit – als sowohl Homo Sapiens wie Homo Neanderthalensis bereits einen entwickelten präfrontalen Cortex und damit auf jeden Fall biografisch und ggf. reproduktiv wirksame Vorausplanung sowie entwickelte, kognitive Fähigkeiten und wahrscheinlich Sprache hatten.

    Und seitdem zündet die exataptive Rakete, in kaum 6.000 Generationen haben wir es bis zum heutigen Reichtum religiösen Verhaltens beim Menschen gebracht! Und die evolutive Entwicklung geht (zumindest derzeit) offensichtlich weiter.

  103. “Zunächst: natürlich ist die Zuspitzung von Jesu Lehre auf den einen Satz verkürzt, Jesus erfand schließlich nichts komplett neues, sondern stand bereits auf der Basis des weit evolvierten Judentums.”

    Da gebe ich Ihnen Recht..

    “Meint nicht, dass ich gekommen sei, das Gesetz oder die Propheten aufzuloesen; ich bin nicht gekommen, aufzuloesen, sondern zu erfuellen.”

    Die Lehre Jesu ist eigentlich nur eine Interpretation des AT, denn er hat ja immer aus dem AT zitiert und gepredigt und sich darauf berufen, ganz besonders bei der Ethik der Ehe.

    “Jesus aber sprach zu ihnen: Um eures Herzens Härte willen hat er euch dieses Gebot geschrieben; aber von Beginn der Schöpfung an hat Gott sie geschaffen als Mann und Frau … Was nun Gott zusammengefügt hat, soll der Mensch nicht scheiden.”

    So gesehen hat er die Evolution des Judentums – zumindest in diesem Punkt – zurückgedreht.

    “1. Zum einen gab es Dutzende Kulte mit missionarischem Eifer in der antiken Welt, u.a. Manichäismus, Mithraskulte und zahlreiche Synkretismen.”

    Darüber weiß ich nicht viel und muß passen.

    “2. Der schon im NT vermerkte, besondere Erfolg der monotheistischen (auch jüdischen) Missionen ging wesentlich auch auf die Bereitschaft von Frauen zurück – die (ebenso wie empirisch nachweisbar heute!) ethisch und sozial verbindliche Gemeinschaften libertären Entwürfen vorzogen.”

    Das ist mir nicht ganz klar, was sie sagen wollen. Meinen Sie, die Frauen ließen sich leichter missionieren oder Frauen durften auch missionieren und deshalb gab es die rasche Verbreitung oder beides?

    “3. … Will sagen: Der reproduktive Erfolg ist ein wichtiger Gradmesser für die missionarische Ausstrahlung, die ohne genug eigene Nachkommen nicht aufrecht erhalten werden kann.”

    Hm, ich bin nichtchristlich erzogen und recht spät zum Glauben gekommen. Ich bin ganz gewiß nicht, wegen der Sonntagsschule mit den vielen Kindern zum Christ geworden. – Mal’ne kleine Aulockerung zwischendurch. 😉
    Das überzeugt mich nicht ganz. Im Christentum ist das sicherlich ein “Erfolgs”faktor, doch mir sind da die Inhalte zu wenig berücksichtigt.

    Die Juden sind für mich nicht unbedingt eine Religionsgemeinschaft. Es gibt viele, die bezeichnen sich als Juden, aber haben mit dem Glauben fast gar nichts zu tun. Da kann man meinetwegen von einem evolutionären Vorteil sprechen, weil die Gemeinschaft stark ist (feste Bindungen, gute Erziehungen usw. was sie aufgezählt haben).
    Ähnliches gilt für mich auch für diese, ich nenne sie mal “Kulturchristen”. Damit meine ich so “Dorf”gemeinschaften – davon gibt es nicht mehr viele, wo man Sonntags in die Kirche ging, weil es jeder tat, ohne eine lebendigen Glauben zu haben. Und weil es normal war viele Kinder zu haben, hatten die auch viele Kinder, so wie es heute erstrebenswert ist viele Statussymbole zu haben. Die wußten nicht, was sie taten, aber weil es Usus war, machte man es. Zumal die Kinder durch die Taufen auch automatisch Mitglied der Kirche sind. Da muß man nicht mehr missionieren.
    Ähnlich wird es wohl im Islam sein. Ich habe einige Menschen getroffen, die sich als Moslems bezeichneten und auch einige Vorschriften beachteten und dabei sehr streng waren, doch das schien mir eher Aberglaube anstatt Glaube zu sein, denn erklären konnten sie mir ihren Glauben nicht nur was sie zu tun und zu lassen hatten.

    Verstehen Sie, was ich damit sagen will? Man kann eine Gemeinschaft durch äußeren Zwang zusammenhalten und das kann auch sehr erfolgreich sein.

    Wahrschlich kommt dann der Einwand von Ihnen, sie haben die “Frömmigkeit” des Glaubens berücksichtigt und als Gradmesser das regelmäßige Gebet genommen. Die regelmäßigen Beter, wo man also auf einen lebendigen Glauben schließen kann, die hatten mehr Kinder. Das bereitet mir auch keine Probleme. Aber, wieviele Kinder bleiben dem Glauben treu? Wie ich schon schrieb gibt es auch einige die gehen.
    Auf der anderen Seite kommen auch viele rein. Ein christliches Kind, bringt ein nichtchristliches zum Jugendtreff und es kommt zum Glauben. Eine christliche Mutter lernt auf dem Spielplatz, eine nichtchristliche Kennen und weil die Kinder so schön zusamen spielen, kommen sie ins Gespräch usw. Meines Erachtens reicht die Reproduktion nicht aus, um volle Gemeinde zu haben. Dafür ist die Kinderzahl zu gering und die Fluktuation zu hoch. Das mag bei den Amish funktionieren, denn die haben wohl mehr Kinder pro Ehepaar und wenn dann ein paar die Gemeinschaft verlassen ist immer noch Wachstum vorhanden. Bei so einer evangelikalen Gemeinde wird das aber sicher nicht hinhauen. Da ist Mission nötig.

    Ich breche hier mal ab, ist schon spät.

  104. @ – Blume : Annäherung

    Oje, das ist ein recht langer Text mit einer Vielzahl interessanter Punkte. Da es bereits recht spät ist (und ich morgen zur Abwechslung mal früh aufstehen muss), lassen Sie mich vorerst nur erst einmal einen einzigen Punkt herausgreifen:

    “”Ich sage bewusst “mag”, weil ich immer wieder erstaunt darüber bin, wie Menschen, die an einen Gott, an ein Jüngstes Gericht und an eine ewige Verdammnis in der Hölle glauben, trotzdem so viele Verbrechen begehen können.””

    “Nun ja, der Evolutionsprozess fragt ja erst einmal nicht nach Gut oder Schlecht, er findet statt. Auch Aggressivität etc. gehört zu unserem evolutionären Erbe, weil sie in der Vergangenheit adaptiv waren.

    Meine These und Intention wäre völlig falsch verstanden, wenn Sie den Eindruck hätten, ich würde behaupten, dass religiöse Menschen grundsätzlich moralisch besser oder immer erfolgreich wären. Das behaupte ich nicht (und die wirklich Weisen der Religionen übrigens auch nicht…). Ich sage nur: wir haben inzwischen überwältigend starke, auch empirische Belege dafür, dass vergemeinschaftete Religiosität als biokulturelle Fähigkeit genetisch-neurobiologisch veranlagt und biologisch adaptiv (meinetwegen: exaptiert) ist – also mit durchschnittlich höherem Reproduktionserfolg einherging und -geht.”

    Ihre These IMPLIZIERT durchaus die Annahme, dass religiöse Menschen bessere Menschen seien. Wie könnten sie sonst wohl bessere Kooperationspartner sein?

  105. Sie sind bessere Kooperationspartner…

    …weil sie sich sozial observiert glauben: durch allwissende, übernatürliche Akteure und durch die Gemeinschaft, der sie angehören.

    So dürften religiöse Menschen die gleichen Impulse in Richtung Ehebruch haben wie andere auch: nur fürchten sie Gottes Zorn, die soziale Verachtung ihrer Gemeinde – und sie haben die Aussicht, für die Überwindung ihrer eigensüchtigen Motive dann auch Anerkennung und ggf. Belohnung im Dies- oder Jenseits zu finden.

    So beten Christen z.B. zum Vater “und erlöse mich von dem Bösen” – und nicht: “Danke, dass Du aus mir so einen guten Menschen gemacht hast.” Dieser Impuls wird von Jesus im Gleichnis von Pharisäer und Zöllner sogar ausdrücklich verworfen. Ähnlich ist es in den anderen (Welt-)Religionen.

    PS: Wenn Sie mir eine persönlich-introspektive Beobachtung gestatten – ich erinnere mich selbst noch, wie ich mich als junger Erwachsener vor und nach der Glaubensentscheidung gefühlt hatte. Rückblickend würde ich sagen: es ändert das spieltheoretische Setting, schränkt einerseits Optionen ein, “befreit” aber auch zu anderen Entscheidungen (z.B. einer jungen Ehe). Für einen “besseren Menschen” konnte und kann ich mich jedoch weder davor noch danach ernsthaft halten und habe -ich gebe es zu- Schwierigkeiten sowohl mit Religiösen wie mit Atheisten, die mit diesem Anspruch triumphierend auftreten…

  106. Ohne Gruppenselektion geht es nicht

    Das ist eine unglaubliche spannende Diskussion hier – danke Michael und Lars!

    Herr Dahl, Sie sprechen ganz richtig (mit Dawkins, Einstein etc.) vom menschlichen Staunen, von der menschlichen Ehrfurcht, dem menschlichen Schönheitserleben, dem kausalen Denken als dem (oder einem) Ursprung aller Religion.

    Es tritt aber nun etwas hinzu, was Religiöse und Atheisten zumindest oft graduell unterscheidet: Dem Religiösen (auch etwa einem Hans Jonas) ist das Staunenswerte dieser Welt Verpflichtung, Verantwortung. Er leitet AUS diesem Staunen Normen des Handelns ab. Auch der Mitmensch ist ihm eine staunenswerte, einzigartige Erscheinung. Und der Religiöse möchte, daß die mitmenschlichen Beziehungen human gestaltet sind. Zumal auch die familiären. Auch dazu leitet er Handelsnormen ab, die er als im Einklang stehend glaubt mit seinem Gefühl des Staunens und der Ehrfurcht vor der Schöpfung (der Evolution) und allen einzigartigen Erscheinungen, die sie hervorgebracht hat – mitsamt der von mir geliebten Mitmenschen.

    Nun gehen Religiöse und fundamentalistisch Religiöse in diesen Dingen halt schrittweise immer weiter. Und da fängt bei uns Modernen oft erst das Zaudern an: Kann, DARF man so handeln, als ob es nur EINEN “alleinseligmachenden” Gott gäbe? Wir sagen zumeist: nein. Usw..

    Der fundamentaltistische Atheist befürwortet heute meistens einen “verantwortungsvollen Hedonismus”. Ist das eine Moral, die der Ehrfurcht vor diesem Universum und allen Werten, die in ihm enthalten sind, allen Werten, die in unserer abendlänlischen Kultur enthalten sind, schon vollständig gerecht wird? Vielleicht hat der moderne Mensch über all diese Fragen einfach noch nicht genügend nachgedacht, philosophiert?

    Vielleicht fehlt uns heute einfach in solchen Fragen der gesellschaftliche Konsens, den die traditionell überkommenen Religionsgemeinschaften auch erst in langwierigen schwierigen “Gruppenselektions-Prozessen” herausgebildet haben, wie Michael ja auch gut darstellt (29.12.2007 | 09:04)? Vielleicht stehen wir heute in einem ähnlichen Gruppenselektion-Prozess wie die ersten Christen, wie die ersten Moslems, die ersten Juden? (Und noch einmal jeweils geographisch unterschieden etc..) Und viele von uns werden – wie damals – vergleichsweise wenige Nachkommen haben, andere mehr?

    Vielleicht wird heute wie damals dieser Selektionsprozess AUCH durch die jeweiligen Kinderzahlen der jeweiligen “Weltanschauungs-Anhänger” entschieden?

    Ich glaube tatsächlich, daß es so ist. Evolution ist nicht etwas, was einmal geschehen ist, wie wir immer mehr aus der derzeitigen Humangenom-Forschung lernen. Evolution findet statt. Hier und heute. Unsere Kontroversen gerade auch über solche Themen sind ein Teil derselben. Sie beeinflussen Reproduktions-Entscheidungen oder auch (familien-)politische Entscheidungen. Weltbilder entscheiden solchen Entscheidungen.

    Ohne Berücksichtigung von Gruppenselektion wird man die Evolution der Religiosität nicht verstehen können. Der Mensch ist nicht nur ein atomisiertes Wesen, er ist – auch heute merken wir das ja wieder immer mehr – ein tief sozial strukturiertes, verankertes Wesen, er ist ein Gemeinschaftswesen – von Geburt an. Glück findet der Mensch in Gemeinschaft mit anderen Menschen wie fast nirgends sonst.

    Viele ganz entscheidende Dinge werden letztlich auf der Ebene von Gruppen (oder Nationen) entschieden, nicht auf der Ebene des Individuums. Das merken wir heute auf dem Gebiet der Familienpolitik fast jeder selbst an der persönlichen Lebenssituation während der Familiengründung oder in den Altersjahren.

    Natürlich steht übrigens auch die in der griechischen Antike, Herr Dahl (01.01.2008 | 11:07), gelebte gesellschaftliche Moral im Einklang mit den vorherrschenden religiösen und philosophischen Vorstellungen. Sokrates, Platon usw. waren AUCH – oder sogar vor allem – Ethiker. Hätte man diesen Zusammenhang nicht gesehen, hätte man Sokrates nicht gezwungen, den Schierlingsbecher zu trinken. Und auch Sokrates hätte ihn nicht getrunken, wenn ihm dieser Zusammenhang nicht wichtig gewesen wäre. (Er hätte ja fliehen können, sich der Verantwortung entziehen können …)

  107. @ Herr Isegrim

    Lieber Herr Isegrim,

    danke für Ihren Beitrag – wir liegen da wirklich nicht mehr weit auseinander! (-:

    Zu Inhalten: selbstverständlich zählen diese – über die auch intuitive, unterschiedliche Relevanz verschiedener Glaubensinhalte und ihrer Vermittlung hatten wir ja bereits gesprochen. Ein liebender Gott, der unter die Menschen geht, hat z.B. recht hohe Relevanz! Und natürlich ist Reproduktion nur sehr selten (Amish, orthodoxe Juden, Aleviten etc.) der einzige Vermehrungsweg. Wie Sie aber sehr schön geschrieben haben “Ein christliches Kind, bringt ein nichtchristliches zum Jugendtreff und es kommt zum Glauben. Eine christliche Mutter lernt auf dem Spielplatz, eine nichtchristliche Kennen und weil die Kinder so schön zusamen spielen, kommen sie ins Gespräch usw.” verlieren Gemeinschaften mit weniger Kinder und Müttern nicht nur missionarisches Potential, sondern auch Anknüpfungspunkte im Alltag. Während es also sogar einige religionsgeschichtliche Erfolgsfälle “ohne” Mission gegeben hat, kennt die Religionsgeschichte trotz mehrerer Versuche (z.B. einige Gnostiker, Manichäer, Shaker, derzeit Raelianer etc.) “keine” Gemeinschaft, die dauerhaft ohne große Familien ausgekommen wäre.

    Will also (mit von Hayek) nur sagen: eine hohe Kinderzahl bietet einer Gemeinschaft bei ansonsten gleichen Bedingungen einen klaren Wettbewerbsvorteil. Damit tendieren biologische und kulturelle Evolution in die gleiche Richtung – auf Dauer entscheidet der Reproduktionserfolg. Dass heute beispielsweise der Religion-Demografie-Zusammenhang weltweit und interreligiös besteht (also bei den abrahamischen Religionen ebenso wie bei Hindus, Sikhs, Parsen etc.) ist ein empirischer Beleg nicht für inhaltliche Gleichförmigkeit, sondern für vergleichbare (auch je innerkonfessionelle) Wettbewerbsprozesse.

    Mit herzlichen Grüßen

    Michael Blume

    PS: Die Konversionserfahrung haben wir übrigens biografisch gemeinsam, bin also regelmäßig “teilnehmender Beobachter” auf Feldforschung in der evangelischen Landeskirche… Macht die Gottesdienste für mich persönlich eher noch interessanter! (-;

  108. @ Ingo, Gruppenselektion

    Herzlich willkommen, Ingo, in unserer buchstäblich erschöpfenden Runde! Danke auch für Deinen nachdenklichen Beitrag!

    Mit dem Begriff “Gruppenselektion” habe ich nach wie vor Schwierigkeiten. Zwar begrüße ich es, dass v.a. Wilson ihn neu in die Forschungsdebatte gebracht hat (vielleicht wird er da geklärt). Sein lesenswerter Beitrag dazu (und zur Abgrenzung von der Memetik) gerne nochmal hier:
    http://www.skeptic.com/eskeptic/07-07-04.html

    Aber soweit ich ihm sonst auch zustimme – auch in den Arbeiten zu Religionsgemeinschaften habe ich bisher keine Befunde finden können, die sich nicht auf klassische Fitnessvorteile der direkten und Verwandtenselektion zurückführen ließen. Zölibat ist ja Thema dieses Wissenslog-Beitrages und lässt sich m.E. als indirekte Verwandtenselektion wunderbar erklären. Will sagen: dass Menschen Gemeinschaften bilden, geht m.E. schon auf ihre je individuelle Veranlagung zurück und hat eher den Charakter einer Vernetzung (die durch Mythen, Rituale und Signale ggf. nach außen abgesichert wird), nicht aber einer unveränderlichen “Gruppe” im biologischen Sinn. Auch Gemeinschaften, denen in der Geschichte oft strengste Endogamie abverlangt war, wie Aleviten und Juden, tendieren in freiheitlichen Umständen unmittelbar zu einer steigenden Quote von Mischehen, also einer Öffnung auch der Gemeinschaftsstrukturen.

    Wegen seiner Undefiniertheit und mangels empirischer Belege verwende bzw. brauche ich also das Konzept der Gruppenselektion bisher nicht. Dies nur als Hinweis.

    Eine Frage, Ingo, zu Deiner spannenden, philosophischen Reflexion: Hältst Du es denn für möglich, dass aus einer allein prinzipiellen, philosophischen Reflexion Handlungsnormen gleicher Verbindlichkeit wie auf der Basis personaler, übernatürlicher (und überwachender) Akteure?

    Denn genau das würde ich nicht so sehen, da wir kognitiv auf Sozialbeziehungen angelegt sind und “unbelebte Dinge” als Manipulationsobjekte betrachten, uns von ihnen aber keine Vorschriften machen lassen. Nur ein personaler Akteur, Ahne, Geist oder Gott, scheint mir evolutionsgeschichtlich geeignet zu sein, ein “Du sollst…” verbindlich zu machen, zu versprechen, drohen, trösten etc.

  109. Sind Christen wirklich die besseren Menschen?

    “Ihre These IMPLIZIERT durchaus die Annahme, dass religiöse Menschen bessere Menschen seien. Wie könnten sie sonst wohl bessere Kooperationspartner sein?”

    “…weil sie sich sozial observiert glauben: durch allwissende, übernatürliche Akteure und durch die Gemeinschaft, der sie angehören.”

    Nun, wenn Sie glauben, dass religiöse Menschen die Versprechen, die sie gegeben haben, eher einhalten, weil sie sich “von übernatürlichen Akteuren observiert” wähnen, dann unterstellen Sie doch eine moralische Superiorität religiöser Menschen: Wenn ein Christ Treue oder Gehorsam gelobt, dann fühlt er sich nicht nur der Person verpflichtet, vor der er dieses Gelöbnis abgelegt hat, sondern zudem noch seinem Gott, vor dem er sich eines Tages rechtfertigen muss. Diese doppelte Verpflichtung bewirkt, dass Christen seltener ihr Wort brechen oder Meineid leisten. Wenn Christen aber seltener ihr Wort brechen als Nichtchristen, sind sie zweifellos bessere Menschen, oder nicht?

    Die Realität sieht freilich anders aus. Ich will die Korrelation zwischen Religiosität und Kriminalität nicht dazu missbrauchen, um gläubige Menschen als schlechtere Menschen hinzustellen. Doch die bestehende Korrelation rechtfertigt zumindest die Annahme, dass gläubige Menschen keineswegs bessere Menschen sind.

    Natürlich kann man, wie Sie es ja auch bereits getan haben, die Korrelation zwischen Religiosität und Kriminalität anders interpretieren. (Ich finde Ihre Annahme, dass die besagten Verbrechen überproportional zu Lasten von Immigranten gehen dürften, jedoch nicht sonderlich überzeugend. Die Immigranten gehen vor allem nach Kalifornien, New York und Illinois, nicht aber nach Alabama, Missisippi und Texas, und doch sind es letztere Staaten, in denen weit mehr Verbrechen begangen werden.)

    Allein ein Blick auf die Geschichte genügt, um zu sehen, dass der Glaube nicht vor Verbrechen schützt. Ich will jetzt gar nicht auf der hinreichend bekannten “Kriminalgeschichte des Christentums” herumreiten. Doch nehmen wir nur etwa die NS-Zeit: Zur Zeit der Machtergreifung Hitlers waren 90 Prozent der Deutschen konfessionell gebunden. Allein 25 Prozent der SS-Offiziere waren Katholiken. Ihre Religion hat die braven Christenmenschen aber nicht davon abgehalten, in den Krieg zu ziehen und namenloses Leid über die Menschen anderer Völker zu bringen.

  110. @ – Bading und Blume: Gruppenselektion

    Ich schließe mich da ganz Herrn Blume an: gruppenselektionistisch ließe sich die Adaptivität der Religion natürlich problemlos erweisen; doch das Konzept der Gruppenselektion ist schlicht zu kontrovers, als dass man seine Theorie darauf stützen sollte.

  111. @ – Bading: Hellenismus

    Diesen Absatz verstehe ich leider nicht:

    “Natürlich steht übrigens auch die in der griechischen Antike, Herr Dahl (01.01.2008 | 11:07), gelebte gesellschaftliche Moral im Einklang mit den vorherrschenden religiösen und philosophischen Vorstellungen. Sokrates, Platon usw. waren AUCH – oder sogar vor allem – Ethiker. Hätte man diesen Zusammenhang nicht gesehen, hätte man Sokrates nicht gezwungen, den Schierlingsbecher zu trinken. Und auch Sokrates hätte ihn nicht getrunken, wenn ihm dieser Zusammenhang nicht wichtig gewesen wäre. (Er hätte ja fliehen können, sich der Verantwortung entziehen können …)”

    Griechen und Römer hatten eine andere Ethik als Juden und Christen. Erstere forderten ein tugendhaftes Leben ein, letztere forderten ein gottgefälliges Leben ein. Nach den Juden und Christen leiten sich alle moralischen Forderungen aus den Geboten Gottes ab; nach den Griechen und Römern leiten sich alle moralischen Forderungen aus der menschlichen Natur und seinem Streben nach Glück – nur ein tugendhaftes Leben führt zu einem glücklichen Leben.

  112. Monotheismus ist eine “religiöse Sonderform”

    Michael,

    Gruppenselektion an sich ist ein langes Thema. Ich will nur kurz auf Deine letzte Frage eingehen.

    Ich betrachte den Monotheismus als eine religiöse Sonderform. Er ist dadurch ausgezeichnet, daß er sehr definitive, abschließende, “dogmatische” Aussagen zu einem Bereich macht, zu dem alle nicht-monotheistisch denkenden Menschen und Völker nur ungefähre “Ahnungen” und “Vermutungen” haben. Darin liegt seine geschichtliche Stärke und – natürlich – seine heutige Schwäche.

    Ich finde nicht, daß man den Monotheismus zum Maßstab aller Dinge wählen sollte, wenn man die Evolution der Religiosität des Menschen erforscht. Vielleicht sollte man sie als eine “Spätform” betrachten, im Grunde entstanden in Auseinandersetzung mit wesensmäßig ganz anderen Welthaltungen der griechischen Antike (- und – wohl – als “Gegenbild” zu ihnen).

    Christen und Juden haben dem zweifelnden “Heiden” (ob Philosoph oder Naturgläubiger) ein “So ist es” zu Themen gelehrt, über die sich der zuvor nicht monotheistisch Gläubige eine solche Sicherheit gar nicht zugetraut hatte.

    Diese Sicherheit des “So ist es” trauen wir uns heute (nur) in der Naturwissenschaft zu und nicht im metaphysischen Bereich. Allerdings lebten frühere “Heiden” eben nicht in unserer heutigen “Wissensgesellschaft” und waren deshalb eher geneigt als wir Heutigen, einem “So ist es” auf dem Bereich der Metaphyisk “Glauben” entgegen zu bringen.

    Natürlich würde ein Hinweis etwa auf die chinesische Philosophie und den Konfuzianismus genügen, um aufzuzeigen, daß es noch gänzlich andere Welthaltungen gibt außer dem Monotheismus. Und daß weltgeschichtlich bedeutsamste Völker und Kulturen Jahrtausende lang mit einer solchen Welthaltung leben und prosperieren konnten.

    Bspw. berichtet Tacitus auch von den Germanen, daß sie sich die Götter nicht in Menschengestalt vorstellen. Man müßte sich mal einen Überblick verschaffen darüber, welche Formen von Religiosität eigentlich menschheitsgeschichtlich alle möglich gewesen sind und in welcher Beziehung sie zu gesellschaftlichen Werten und Normen jeweils standen.

    Ich denke, daß eine wesensmäßig ähnliche ethische Haltung wie der Konfuzianismus auch aus dem Wissen der heutigen Naturwissenschaft abgeleitet werden kann. Dazu besitzen wir Philosophen. Doch die wühlen seit mehreren Jahrzehnten so sehr im “Existentialismus” herum, daß sie zu den großen Fragen unserer Zeit und unseres Weltbildes oft nur noch erstaunlich wenig zu sagen haben.

  113. @ – Bading: Ethik

    “Der fundamentaltistische Atheist befürwortet heute meistens einen “verantwortungsvollen Hedonismus”. Ist das eine Moral, die der Ehrfurcht vor diesem Universum und allen Werten, die in ihm enthalten sind, allen Werten, die in unserer abendlänlischen Kultur enthalten sind, schon vollständig gerecht wird? Vielleicht hat der moderne Mensch über all diese Fragen einfach noch nicht genügend nachgedacht, philosophiert?”

    Inhaltlich besteht zwischen religiösen und säkularen Ethiken letztlich kein sonderlich großer Unterschied. Kantianer, Utilitaristen oder Kontraktualisten würden 7 der 10 Gebote unterschreiben. Meinungsverschiedenheiten gibt es ja im Prinzip nur bei Fragen wie der Abtreibung, der Sterbehilfe, der Verhütung, der Homosexualität oder der Todesstrafe.

  114. ???

    Lieber Herr Dahl,

    Sie schrieben:

    “Nun, wenn Sie glauben, dass religiöse Menschen die Versprechen, die sie gegeben haben, eher einhalten, weil sie sich “von übernatürlichen Akteuren observiert” wähnen, dann unterstellen Sie doch eine moralische Superiorität religiöser Menschen.”

    Nein, wieso? Zum einen ist “moralische Superiorität” eine wertende Kategorie, mit der ich empirisch nichts anfangen kann. Wie schon Darwin schrieb: wären wir Bienen, würden wir es moralisch gerechtfertigt finden, dass Königinnen ihre Schwestern töten. Ich bitte einfach darum, insbesondere bei Evolutionsthemen klar zwischen Beschreibung und (ggf. auch emotionaler) Wertung zu unterscheiden.

    Entsprechend kann ich mit Ihrem Kriminalitätseinwurf hier nichts anfangen. Abgesehen davon, dass schon “kriminell” wieder ein soziales, kein biologisches Kriterium ist (oder sind Elstern “kriminell”?) – wir diskutieren hier, so dachte ich, über biologischen Erfolg eines Merkmals, den darwinschen Fitneßindikator, also die differentielle Reproduktivität.

    Außerdem “glaube” ich nicht, dass religiöse Menschen Kontrakte eher einhalten, sondern vergleiche bspw. empirisch das Beziehungs- und Familienverhalten, wie wir das auch bei jedem anderen Wesen machen könnten, beziehe außerdem experimentelle Ergebnisse bspw. von Bering und Norenzayan ein. Und die Eherate unter Religiösen erweist sich im Vergleich zu Konfessionslosen je der gleichen Nationalität, Bildungs- und Einkommensschicht als deutlich höher, die Scheidungs- und Alleinerziehendenrate als deutlich niedriger und die Kinderzahl (mithin also: der biologische Erfolg) sehr viel stärker ausgeprägt. Das sind die Fakten – weitere empirische Ansatzpunkte wären z.B. die Netzwerke besonderen Vertrauens, die religiöse Minderheiten wie Quäker, Sikhs, Parsen, christliche Minderheiten im osmanischen Reich, Juden etc. gerade unter dem Eindruck sonstiger Diskriminierung oft zu wirtschaftlichen Erfolg geführt haben. Und für diese historisch und empirisch beobachtbaren “Kontraktloyalität” bieten ich und inzwischen eine ganze Reihe anderer Wissenschaftler evolutionspsychologische Erklärungsmodelle an, die sich diskutieren und überprüfen lassen. Keiner von uns vertritt eine angebliche, moralische Superiorität irgendeiner Gruppe und wir sind auch immer für weitere, wissenschaftliche Befunde oder Thesen offen. Und wir haben deswegen soviel Gewinn auch an der Arbeit miteinander, weil wir zwischen Erkenntnissen und Affekten unterscheiden (und gerne auch mal miteinander lachen (-; ).

    Mit herzlichen Grüßen

    Michael Blume

  115. @ – Blume: Frage

    Habe gerade bemerkt, dass ich Ihre Frage noch nicht beantwortet hatte:

    “Da ich nun aber schon eine ganze Batterie von Fragen (gerne) beantwortet habe, erlauben Sie mir, Ihnen nun auch eine Frage zu stellen. Wie sonst als durch Exaptationen sollen neue Adaptionen entstehen?

    Konkret und ernsthaft gefragt:
    1. Halten Sie Vogelflügel für eine Adaption oder ein Epiphänomen?

    2. Wie erklären Sie sich die Evolution der Flügel? Hatten z.B. schon Stummel die gleiche Funktion?”

    Obgleich ich Anthropologie studiert habe, betrachte ich mich doch nicht als wirklichen Evolutionsbiologen. Ich fühle mich daher auch etwas überfragt. Aus dem Bauch heraus: Wie beim Auge, so würde ich auch beim Flügel eine Adaptivität von Beginn an unterstellen wollen (doch selbstverständlich mag es sein, dass die Stummel, aus denen die Flügel erwachsen sind, ursprünglich eine andere Funktion hatten. Tut mir leid, dass ich keine bessere Antwort geben kann.

  116. @ Ingo, Monotheismus

    Du schriebst zum Monotheismus einige Gedanken zur Dogmatik und dann:

    “Darin liegt seine geschichtliche Stärke und – natürlich – seine heutige Schwäche.”

    Wiederum: hier geht es doch nicht um Geschmacksfragen, sondern um Fakten. Und eine “Schwäche” des Monotheismus kann ich religionsdemografisch nicht erkennen.

    “Ich finde nicht, daß man den Monotheismus zum Maßstab aller Dinge wählen sollte, wenn man die Evolution der Religiosität des Menschen erforscht.”

    Wer tut denn das hier? Nach derzeitigem Stand deuten die Befunde z.B. darauf hin, dass die menschliche Religiosität über den Ahnenkult entstanden sein könnte, abstraktere, übernatürliche Akteure erst viel später auftraten. Wenn Du schon ein “Maß aller Dinge” von mir hören magst – dann ist das (insofern wir über Evolutionsbiologie diskutieren) die Reproduktionsrate! Und da macht derzeit und seit einigen Jahrhunderten eben den Monotheisten weltweit insgesamt keiner was vor – was sich natürlich auch theoretisch wieder ändern könnte.

    “Vielleicht sollte man sie als eine “Spätform” betrachten, im Grunde entstanden in Auseinandersetzung mit wesensmäßig ganz anderen Welthaltungen der griechischen Antike (- und – wohl – als “Gegenbild” zu ihnen).”

    Und zwar als auch reproduktiv erfolgreiches Gegenbild! (-:

  117. Danke, Herr Dahl!

    “Wie beim Auge, so würde ich auch beim Flügel eine Adaptivität von Beginn an unterstellen wollen doch selbstverständlich mag es sein, dass die Stummel, aus denen die Flügel erwachsen sind, ursprünglich eine andere Funktion hatten.”

    Fast genau so würde ich es mit dem biologischen Merkmal Religion auch so formulieren! Da sind wir also wirklich nah beieinander!

    Mit exaptationistischen Grüßen (-:

    Michael Blume

  118. @ – Blume: Wer sind die besseren Kooperationspartner

    “Außerdem ‘glaube’ ich nicht, dass religiöse Menschen Kontrakte eher einhalten.”

    Diese Annahme widerspricht doch aber Ihrer zuvor aufgestellten Behauptung, dass religiöse Menschen bessere Kooperationspartner seien. Wie sollten sie denn BESSERE Kooperationspartner sein, wenn sie ihr Wort genauso leicht brechen wie alle anderen Kooperationspartner?

  119. @ – Blume: Normen und Werte

    Ich weiß durchaus zwischen normativen und deskriptiven Aussagen zu unterscheiden. Wörter wie “zuverlässig” und “unzuverlässig” kann man sowohl normativ als auch deskriptiv verstehen. Doch selbst wenn wir uns darauf einigen, sie rein deskriptiv zu verstehen, ändert dies nichts an der Schlussfolgerung, dass Menschen nun einmal zuverlässige gegenüber unzuverlässigen Kooperationspartnern bevorzugen werden.

    Übersetzt in die Sprache der Spieltheorie behaupten Sie doch, dass religiöse Menschen bevorzugte Kooperationspartner seien, weil sie seltener defektieren und häufiger kooperieren.

    Ihr Zugeständnis, dass religiöse Menschen Verträge genauso häufig brechen wie areligiöse Menschen, bedeutet doch aber, dass religiöse Menschen genauso häufig defektieren wie areligiöse Menschen. Und wenn dem so ist, können religiöse Menschen schwerlich bevorzugte Kooperationspartner sein.

  120. Noch einmal: Religiosität und Kriminalität

    “Entsprechend kann ich mit Ihrem Kriminalitätseinwurf hier nichts anfangen. Abgesehen davon, dass schon “kriminell” wieder ein soziales, kein biologisches Kriterium ist (oder sind Elstern “kriminell”?) – wir diskutieren hier, so dachte ich, über biologischen Erfolg eines Merkmals, den darwinschen Fitneßindikator, also die differentielle Reproduktivität.”

    Wie das Wort “unzuverlässig”, so kann man auch das Wort “kriminell” sowohl normativ als auch deskriptiv verstehen. Normativ ist ein Krimineller ein “Verbrecher”, deskriptiv ist ein Krimineller ein Mensch, der eine Tat begangen hat, die vom Gesetzgeber mit einer Kriminalstrafe bedroht worden ist.

    Um einen unnötigen Moralismus zu vermeiden, können wir den Begriff “kriminell” ebenfalls in die Sprache der Spieltheorie übersetzen und sagen: Empirische Befunde zeigen, dass religiöse Menschen offenbar nicht minder oft defektieren wie areligiöse Menschen.

    Die Schlussfolgerung ist dieselbe wie zuvor: Wenn religiöse und areligiöse Menschen gleichermaßen defektieren, können religiöse schwerlich BEVORZUGTE Kooperationspartner sein.

    Dies ist freilich nur eine Wiederholung dessen, was ich im letzten Kommentar bereits gesagt habe. Lassen Sie uns daher noch einen Schritt weitergehen und zwischen drei potenziellen Spielern unterscheiden. Der erste kooperiert mit allen, die kooperationsbereit sind und nicht defektieren. Der zweite kooperiert nur mit religiösen Partnern. Und der dritte schließlich kooperiert lediglich mit Partner seiner eigenen Konfession, also beispielsweise ein Christ nur mit Christen, möglicherweise sogar ein Baptist nur mit Baptisten. Wer wird wohl am erfolgreichsten sein? Sicher der, der sich keine profitablen Kooperationsmöglichkeiten entgehen lässt – der, der die Entscheidung zu kooperieren von der ZUVERLÄSSIGKEIT seines Gegenübers, nicht aber von dessen RELIGION oder KONFESSION abhängig macht.

  121. @ – keinohrhase

    Trotz Ihrer fehlenden Ohren haben Sie mich durchaus richtig verstanden. Die ersten religiösen Vorstellungen waren meines Erachtens ein Nebenprodukt unseres kausal und teleologisch orientierten Erkenntnisapparats. Die Enwicklung von simplen zu komplexen religiösen Vorstellungen erfolgte auf intellektueller und nicht auf genetischer Grundlage. Als die immer komlexer werdenden religösen Vorstellungen schließlich Verhaltensanweisungen einschlossen, hatten diejenigen Menschen reproduktive Vorteile, die adaptiven Normen zu folgen bereit waren – und diejenigen Menschen reproduktive Nachteile, die maladaptiven Normen zu folgen bereit waren.

  122. Intellektuelle Schwäche – reproduktive Stärke – aber was ist mit Japan, Indien etc. …?

    Lieber Michael,

    zur Verdeutlichung sage ich, daß ich (natürlich) von der “intellektuellen” “Schwäche” des Monotheismus gesprochen hatte, d.h. von seiner mangelnden Überzeugungskraft gegenüber heutigen, vornehmlich wissenschaftlich denkenden Menschen. Natürlich ist das *auch* Geschmackssache. Aber spätestens seit Immanuel Kant ist der monotheistische Gott – nach Heinrich Heine – genauso *geköpft* worden wie etwas später der französische König. Und zwar einzig und allein durch den menschlichen, philosophischen Intellekt. Und davon ist auch die Mehrheitsmeinung der heutigen Philosophen – sogar ziemlich selbstverständlich – überzeugt. Das meinte ich mit “Schwäche”.

    Mir fällt erst jetzt eine bemerkenswerte Äußerung von Herrn Kitttel hier (01.01.2008 | 00:02) in die Augen, nämlich,

    “dass Religiosität konkretem ‘Glauben’ historisch vorangegangen sein dürfte; denn ein religiöses System entwickelt nur, wem ein ‘religiöses’ Erleben schon zuvor von wie immer entstandener Bedeutung und Wichtigkeit ist.”

    Das ist in anderen Worten genau das, was ich auch hatte sagen wollen. Monotheismus gibt es erst 2.500 Jahre lang, Religiosität und kinderreiche (zumindest evolutionsstabil kinderreiche) religiöse Menschen aber vielleicht schon 100 mal so lang. Herr Kittel spricht ja auch sehr schön von den “historisch gesehen geradezu extrem jungen Hochreligionen”.

    Von den australischen Ureinwohnern oder den südafrikanischen Buschleuten ist mir nicht bekannt, daß sie EINE definitive Aussage über den metaphysischen Bereich machen würden und keine andere als möglich und wahr gelten lassen würden. (Als Prinzip, meine ich, ich weiß, daß DU es heute tust als moderner, einzelner Christ, der NACH G.E.Lessings Ringparabel lebt … Bei George Dabbelyu bin ich mir da schon nicht mehr so sicher. Frühere Päpste sagten, es sei zum Heile jeder einzelnen Menschenseele notwendig, der katholischen Kirche anzugehören. Und heutige denken da glaube ich nicht anders. In diesem Sinne meinte ich das.)

    Vielleicht sollte man so sagen: In fortgeschrittenen arbeitsteiligen, industrialisierten Gesellschaften haben bisher keine religiösen oder weltanschaulichen Gruppierungen höhere Kinderzahlen hervorgebracht als monotheistische. – Aber halt, was ist mit Japan? Und was ist mit Indien? Selbst bei Afrika bin ich mir nicht sicher.

    Auch zum konfuzianischen China hast Du nichts gesagt.

    – – – Die Literaturhinweise von Herrn Kittel machen nachdenklich, unter anderem auf Julian Jaynes und das “Erinnern” als Ursprung menschlicher Religiosität. Das *erinnert* an manches, was etwa Friedrich Hölderlin gesagt hat. (Dieter Henrich hat besonders auch dieses Thema aufgearbeitet.)

  123. Sind wir geborene Theisten?

    Ich hatte heute morgen endlich Gelegenheit, mir Deborah Kelemen’s Artikel “Are Children Intuitive Theists?” anzusehen. Danach werden wir mit einem teleologisch denkenden Gehirn geboren, das uns alles, was existiert, als eine Schöpfung betrachten lässt. Zumindest in den ersten fünf Lebensjahren würden wir allem einen Zweck zuschreiben, zu dem es geschaffen worden ist: “Wozu gibt es Wolken?”, “Damit es regnet.”; “Wozu gibt es Löwen?”, “Damit wir in den Zoo gehen können?”; “Wozu gibt es Felsen?” – “Damit die Tiere darauf sitzen oder sich daran reiben können, wenn es mal juckt.” Selbst wenn sie erwachsen sind, sollen Menschen Mühe damit haben, diese Art teleologischen Denkens abzulegen.

    Ein weiterer Befund, den ich interessant fand, war, dass Kinder bis zum dritten Lebensjahr offenbar allem und jedem eine Art von “Allwissenheit” zu unterstellen scheinen. Wenn man einem dreijährigen Kind eine Keksdose zeigt und es sehen lässt, dass sich darin keine Kekse, sondern Steine befinden, unterstellt es kuzerhand, dass alle anderen Kinder dies ebenfalls wissen, obwohl sie gar nicht gesehen haben, was sich in der Dose befindet. Auf die Frage: “Was mag wohl dein Bruder glauben, was in der Keksdose ist?”, antworten sie: “Steine”. Wenn man dieselbe Frage einem fünfjährigen Kind stellt, antwortet es: “Mein Bruder wird glauben, dass Kekse in der Dose sind.”

    Dummerweise klärt der Artikel nicht auf, wie dieses Denken wohl entstanden sein mag und inwiefern es adaptiv sein könnte.

  124. Autoritäre Gruppierungen vs. Religionen

    Ich habe diese ziemlich gewaltig große Diskussion nur in Teilen verfolgt, daher Entschuldigung erstmal, wenn dies bereits diskutiert wurde.

    Ich kann immer noch nicht erkennen, warum man hier gerade religiösen Gruppierungen spezielle reproduktive Vorteile zusprechen sollte.

    Sind Ihre Untersuchungen nicht allgemein gültig für alle Gruppierungen, die ein autoritäres Grundmuster haben, als absolute Autoritäten, die, wie Zeus oder Thor, strafen können bzw. Versprechungen für Belohnungen in der Zukunft machen können?

    Der einzige Unterschied scheint mir zu sein, dass irdische Belohnungen überprüft werden können und Belohnungen nach dem Tod eben nicht.
    Wo ist denn der prinzipielle Unterschied zwischen “Schenkt dem Führer einen Sohn” und “Gehet hin und mehret euch”?

    Welche nicht-religiös motivierten, autoritären Gruppierungen haben Sie als Gegenprobe untersucht?
    (z.B. Scientology, die ohne Götter auskommt)

  125. Missverstanden: Kontraktloyalität religiöse Menschen

    Lieber Herr Dahl,

    oh, da kam wohl nur der erste Teil meines Satzes an bzw. habe ich mich unklar ausgedrückt:

    “Außerdem “glaube” ich nicht, dass religiöse Menschen Kontrakte eher einhalten, sondern vergleiche bspw. empirisch das Beziehungs- und Familienverhalten, wie wir das auch bei jedem anderen Wesen machen könnten, beziehe außerdem experimentelle Ergebnisse bspw. von Bering und Norenzayan ein.”

    Kürzer und knackiger: Ich “glaube” nicht nur, dass religiös vergemeinschaftete Menschen sich kontraktloyaler verhalten als konfessionslose, sondern ich kann es mit harten Daten belegen.

    Und aus biologischer Sicht ist eben der Reproduktionserfolg das entscheidende Kriterium (d.h. Paarungsverhalten und daraus erfolgreiche Kinderzahl, die wiederum Nachkommen hervorbringen etc.). Deutlich formuliert: die Konfessionslosen bringen es rein empirisch gesehen auf durchschnittlich mehr Scheidungen, die religiös Vergemeinschafteten auf durchschnittlich mehr Kinder – jeweils auch innerhalb der gleichen Einkommens- und Bildungsschicht.

    Was damit GERADE NICHT behauptet wird, ist eine moralische Superiorität: ich habe zumindest bisher keinerlei empirische Hinweise, dass religiöse Menschen auch ohne die Effekte der religiösen Vergemeinschaftung (geglaubte Observanz durch übernatürliche Akteure, auch soziale Kontrolle in der Gemeinschaft) ihre (Ehe- et al.-)Verträge häufiger einhalten würden als andere.

    Insofern ist das biokulturelle Merkmal Religiosität als eine in der Neurobiologie des Menschen verankerte Fähigkeit zu verstehen, der -wenn ausgeprägt- zu durchschnittlich höherer darwinistischer Fitness beiträgt.

    Und in die gleiche Richtung weisen auch die kognitionspsychologischen Experimente von Bering und Norenzayan.

    Mit herzlichem Gruß

    Michael Blume

  126. Defektion, Kooperation

    Lieber Herr Dahl,

    sehr gut, hier können wir wieder empirisch argumentieren.

    Gerade die Ehe ist ein klassisches Gefangenendilemma: beide Seiten mögen sich treuherzig die Liebe versprechen (wie es Faust bei Goethe tut), gerade in den Jahrzehntausenden vor staatlicher Gesetzgebung kommt es aber auf Verbindlichkeit der Signale an.

    Und da haben wir wiederum die “empirischen Belege” (!!!), dass Frauen a) häufiger religiös orientiert sind als Männer, b) in den Religionsgemeinschaften überhäufig vertreten sind, in denen Ehe- und Geburtenraten hoch, Scheidungs- und Alleinerziehendenraten aber niedrig sind und sich damit c) die Bedingungen für sexuell selektierendes Verhalten zeigen.

    Natürlich könnte eine alternative Hypothese sein, dass religiös ungebundene Menschen “durch das Nutzen aller Chancen” mehr Reproduktionserfolg hätten. Die Daten (!!!) besagen jedoch das glatte Gegenteil.

    Wir hatten diese Diskussion übrigens bereits mit George Cloney versus den Amish. Sie verwiesen darauf, wie viele Frauen sich ersterem vor die Füße werfen. Und ich verwies darauf, wieviele Kinder eine Amish-Familie (ggü. dem weiter entschieden kinderlosen Cloney) im Durchschnitt geboren werden.

    Hypothesen werden durch empirische Thesen gestärkt oder geschwächt. Und alle religionsdemografischen Daten sowie auch eine Fülle vergleichender Beobachtungen sind hier einfach eindeutig. Religiöse Vergemeinschaftung fördert den reproduktiven Erfolg, ebenso wie es andere Exaptationen und Adaptionen leisten.

    Mit herzlichem Gruß

    Michael Blume

  127. @ Dahls Definition Richtung kleinohrhase

    Wow – in dieser Beschreibung des Evolutionsprozesses von Religiosität finde ich mich bereits völlig wieder! 100% Zustimmung!

    Wenn wir jetzt noch anerkennen, dass reproduktiv erfolgreiche Vergemeinschaftungen auch im kulturellen Wettbewerb im Vorteil sind (also Konkurrenten zu überflügeln tendieren, die weniger Kinder hervorbringen) haben wir alles, was wir brauchen, um zu erkennen, warum das menschliche Gehirn über Epiphänomene religiöse Fähigkeiten adaptierte und seitdem (gerade auch in der Jetztzeit) durch reproduktiven Erfolg weiter evolviert!

  128. Frage: Warum Teleologie?

    Kelemens Annahme, dass wir mit einem teleologisch denkenden Gehirn auf die Welt kommen, dass uns beständig einen Sinn in allem suchen lässt, scheint mir durchaus Erklärungskraft zu haben. Unsere Vorfahren könnten sich auf Grund ihres teleologischen Denkens sehr wohl gefragt haben: “Wozu lebe ich?, Wozu leide ich?, Wozu sterbe ich? und Wozu ist diese ganze Welt überhaupt da?” In dem Bemühen, diese Fragen zu beantworten, mussten sie mehr oder weniger zwangsläufig auf einen mit Absichten ausgestatteten Schöpfer und Sinngeber stoßen, ganz gleich, ob es sich dabei nun um einen Geist, Dämon oder Gott handelte. Und tatsächlich finden wir dieses teleologische Denken ja nach wie vor in unserem Alltag wieder, wenn etwa Menschen, die ein Kind verloren haben, gen Himmel blicken und fragen: “Wozu?”, oder wenn Menschen angesichts der Mühsal des Daseins galuben, dieses Leben müsse eine “Prüfung” sein.

    “Wenn das Leben eine Prüfung ist, kann ich sie dann nicht einfach schriftlich machen?” – Woody Allen

    Die Frage, auf die ich mir aber immer noch keine Antwort geben kann, ist: Wie ist dieses teleologische Denken entstanden? Wozu war es gut? Weiß irgend jemand eine Antwort?

  129. Intuitiver Theismus & Säkulare Gruppierungen

    Lieber Herr Dahl,

    danke, das ist ein toller Tip! Auch diesen Artikel werde ich mir schnell besorgen; und Sie sehen – wieder ist hier eine Forscherin ganu unabhängig auf genau die Schlussfolgerungen gestossen, die zu unserer Diskussion passt!!!

    Lieber Herr Bedersdorfer,

    danke für Ihre Frage. Selbstverständlich haben wir überprüft, ob z.B. starke politische Orientierungen ebenso mit hoher Geburtenrate korrelieren. Und die klare Antwort ist: nein, es gibt einen Effekt, der ist aber viel schwächer.

    Auch die historische Analyse hat bisher nichts anderes erbracht: trotz intensiver Suche haben wir bisher keine säkulare Gemeinschaft gefunden, die auch nur über zwei Generationen hinweg ähnlich hohe Reproduktionsraten erhalten hätte wie z.B. Amish oder orthodoxe Juden. Mit der Naziideologie sprechen Sie sogar einen ganz heißen Kandidaten an: Himmler hatte ja versucht, seine SS zum Kernpunkt einer rassischen Erneuerung zu machen. Aber trotz aller säkularen Anreize blieb es bei einer Geburtenrate von 1,4 – und er verfiel auf die wahnwitzige “Lebensborn”-Idee, über die Sie im Internet wagenweise Informationen finden. Ebenso scheitern z.B. die atheistischen Raelianer derzeit auch reproduktiv und erträumen sich eine alternative Reproduktionsstrategie: das Klonen. Weitere vergleichende Forschungen haben Sosis et al. am Vergleich sozialistischer und religiös-orthodoxer Kibbuze gemacht – bei denen die religiösen sowohl reproduktiv wie wirtschaftlich “deutlich” stärker abschnitten.

    Natürlich: Säkulare Staaten können durchaus durch günstige Rahmenbedingungen die allgemeine Geburtenrate steigern (z.B. Frankreich, Schweden). Aber auch dann bleibt “innerhalb” der Population die reproduktive Differenz (stark) bestehen; auch französische und schwedische Gläubige haben deutlich mehr Kinder als ihre konfessionslosen Nachbarn.

    “Der einzige Unterschied scheint mir zu sein, dass irdische Belohnungen überprüft werden können und Belohnungen nach dem Tod eben nicht.
    Wo ist denn der prinzipielle Unterschied zwischen “Schenkt dem Führer einen Sohn” und “Gehet hin und mehret euch”?”

    Einen Aspekt sehen wir gemeinsam: die ggf. auch jenseitige Belohnung für regelkonformes Verhalten in Religionen. Es fehlt nur ein zweiter: selbst der Führer kann nicht wirklich “allwissend” sein, während Ahnen, Geister, Götter als übernatürliche Akteure das gesamte Leben (bis in Speise-, Kleidungs- und eben auch Sexualfragen) erfassen können. Der “intuitive Theismus” wird also entsprechend eine höhere Observanz gerade auch an den Orten hervorrufen können, an die selbst die säkularste Ideologie nicht hinkommt…

    Mit herzlichem Gruß

  130. @ Ingo

    Danke für Deinen Beitrag! Wichtig ist mir, festzuhalten, dass keinesfalls erst der Monotheismus reproduktiv erfolgreich war/ist, sondern auch schon Ahnenglaube und Polytheismus! Er scheint nur im direkten Wettbewerb mit diesen noch stärkere Verbindlichkeit (mit dann auch reproduktivem Erfolg) herstellen zu können.

    Kurz zu Deinen Fragen:

    “In fortgeschrittenen arbeitsteiligen, industrialisierten Gesellschaften haben bisher keine religiösen oder weltanschaulichen Gruppierungen höhere Kinderzahlen hervorgebracht als monotheistische. – Aber halt, was ist mit Japan?”

    Seit einigen Jahrzehnten hat Japan eine der niedrigsten Geburtenraten aller Industrienationen. Gleichzeitig Anwachsen religiöser und v.a. auch christlicher Gemeinschaften.

    “Und was ist mit Indien? Selbst bei Afrika bin ich mir nicht sicher.”

    In Indien zeigen die Muslime konstant höhere Geburtenraten als Hindus – wobei der “Hinduismus” in realiter eine unglaublich hohe Vielfalt umfasst, von Ahnenkulten über Polytheismen bis zu Quasi-Monotheismen.

    In Afrika wachsen derzeit sowohl Christentum wie Islam exorbitant schnell – und zwar “sowohl” durch missionarischen wie reproduktiven Erfolg.

    “Auch zum konfuzianischen China hast Du nichts gesagt.”

    China ist sogar ein ganz tolles Beispiel! Während in den monotheistischen Regionen (Europa, islamische Welt, Israel) die Religionsgemeinschaften traditionell eine große, familienpolitische Rolle spielen und z.B. eine Ein-Kind-Politik nur gegen ihre erbitterten Widerstände etablieren ließe – war im konfuzianisch-taoistisch-buddhistischen China sehr viel weniger Widerstand gegen eine staatliche Demografiepolitik (schon im Mittelalter) zu verzeichnen. Erstaunlich, oder!?

    Übrigens verzeichnen die Religionen insgesamt, vor allem aber auch Islam und Christentum derzeit in China Wachstumsraten, dass den (ausdünnenden!) Kadern der KP bange wird. Ich hatte vor ein paar Jahren im Rahmen einer JU-Delegationsreise mal die Chance, darüber mit einem chinesische Vizeminister in Peking zu sprechen, war ein super-spannender Dialog… (-;

  131. @ Herr Dahl, Teleologie

    “Die Frage, auf die ich mir aber immer noch keine Antwort geben kann, ist: Wie ist dieses teleologische Denken entstanden? Wozu war es gut? Weiß irgend jemand eine Antwort?”

    Ja. Sie erinnern sich, dass wir bereits über beobachtbare Trauer bei anderen Säugetieren gesprochen hatten. Es braucht uns also nicht zu wundern, dass die “instinktive Teleologie” stärker an sozialen Funktionen unseres Gehirns anknüpfte. Hinzu kommt der Umstand, dass unsere Kognition aus evolutiv guten Gründen belebten Akteuren höhere Relevanz zuweist als unbelebten.

    Dass also das soziale Element (übernatürliche Akteure, zu Beginn sicher Ahnen, Tote) der inhaltlichen Ausprägung von Glaubensmythologien also vorausging, dürfen wir als sehr gesichert annehmen.

    Zumal, wie Sie sehen, auch ganz unabhängige, experimentelle Befunde dafür sprechen!

  132. Teleologie und Theologie – sorry: das ist wohl nicht dasselbe!

    Zweckgemäßes, also Zwecken gemäßes und an Zielen ausgerichtetes oder zielorientiertes Denken und Handeln ist schon etwas anderes als ein bloß “zielgerichtetes” natürliches – von “der Natur so eingerichtetes” oder “angeborenens”, biologisch präformiertes – Reagieren bzw. Verhalten, das allen Lebenwesen eigen ist. (Es “gleicht”, ist aber nicht dasselbe wie bewusstes, weil an Absichten gebundenes Denken und Handeln, zu dem wir als Menschen fähig sind: “Verhalten” von Lebeweses ist zwar menschlichem “Handeln” ähnlich oder diesem “gleich” beschreibbar, muss aber “natürlich” anders erklärt werden als selbstbestimmtes Tun, insb. zweckmäßig und umsichtig geplantes “Verhalten” von Menschen! – Wenn keine definitorischen Regeln den genauen Gebrauch von Worten festlegen, kann ja wegen bloßen Ähnlichkeiten alles sich Gleichende “beliebig” beschrieben werden – wobei dann nur noch der Kontext zur Bestimmung des Gemeinten herangezogen werden kann. Ich kann nur nachdrücklich das Studium von Dirk Hartmanns wissenschaftstheoretisch fundamental wichtiges Werk “Philosophische Grundlagen der Psychologie” empfehlen, das 1998 bereits in der WBG erschienen ist.)

    Teleologische Erklärungen in Biologie und Handlungstheorie hat “selbst”-verständlich auch “etwas” mit Theologie zu tun. Die Frage ist nur: Was?!

    Wegen der ähnlich klingenden Begriffe von Teleologie und Theologe stehen sie aber auf keinen Fall schon für dasselbe: Um es nochmals zu wiederholen: Theologie bezieht sich immer auf Vorstellungen!

    Ist die Nähe von griech. ‘theós’ bzw. (fem.) ‘theá’ Göttin zu Theater, theatralisch, Theater-Stück, Schau und Show von griech. ‘theáomai’ ansehen, zuschauen wirklich noch niemandem aufgefallen?!

  133. Langsam Ende der Diskussion?

    Liebe Mitdiskutanten,

    ich möchte mich auf diesem Wege noch einmal ganz, ganz herzlich bei Ihnen allen (besonders bei Herrn Dahl!) für die hervorragende Diskussion bedanken!

    Mir selbst hat sie sehr geholfen, über den Eingangstext hinausgehend auf Ihre Fragen und Einwände hin Formulierungen, Überlegungen und Begrifflichkeiten konkreter zu präzisieren.

    Insofern danke ich auch Dir, Lars, dass Du mich um diesen Wissenslog-Beitrag gebeten hast: ich habe weder die Zeit des Textverfassens noch der Diskussion bereut und werde den Wissenslogs (wie bisher schon Spektrum der Wissenschaft) loyal bleiben.

    Allerdings haben wir jetzt schon alle Rekorde hier geknackt und ich frage mich, ob neue Leser tatsächlich ernsthaft über 130 Beiträge lesen möchten. Deswegen möchte ich in die Runde fragen, ob Sie Verständnis hätten, wenn ich das knappe Zeitbudget jetzt wieder der drängenden “Schreiblast” widme, die gerade das Thema “Evolution der Religion” mit sich bringt.

    Ich wäre auch ausdrücklich bereit, per Wort oder Schrift bei anderer Gelegenheit mit Ihnen an dem Thema weiter zu arbeiten bzw. in ein paar Monaten mal wieder einen Wissenslog-Beitrag aus den Evolutionary Religious Studies beizusteuern.

    Mit wirklich herzlichem Dank für das insgesamt sehr hohe und faire Niveau dieser intensiven Diskussion!

    Michael Blume

  134. @ – Blume, Bedersdorfer & keinohrhase

    “Wow – in dieser Beschreibung des Evolutionsprozesses von Religiosität finde ich mich bereits völlig wieder! 100% Zustimmung!

    Wenn wir jetzt noch anerkennen, dass reproduktiv erfolgreiche Vergemeinschaftungen auch im kulturellen Wettbewerb im Vorteil sind (also Konkurrenten zu überflügeln tendieren, die weniger Kinder hervorbringen) haben wir alles, was wir brauchen, um zu erkennen, warum das menschliche Gehirn über Epiphänomene religiöse Fähigkeiten adaptierte und seitdem (gerade auch in der Jetztzeit) durch reproduktiven Erfolg weiter evolviert!”

    Dann sind wir uns, wie “keinohrhase” schon vor langer, langer Zeit vermutete, vollkommen einig, denn ich habe nie auch nur mit einem einzigen Wort den von Ihnen auch empirisch nachgewiesenen höheren Fortpflanzungserfolg religiöser Menschen in Frage gestellt.

    Wie Herr Bedersdorfer betrachte ich den größeren Fortpflanzungserfolg religiöser Menschen aber nicht als eine Konsequenz ihrer Religiosität oder ihres Glaubens an übernatürliche Wesenheiten, sondern ausschließlich als eine Konsequenz ihrer Bereitschaft, reproduktiv vorteilhaften Normen wie dem “Seid fruchtbar und mehret euch” zu folgen. Insofern stimme ich auch vollkommen mit Herrn Bedersdorfer überein, wenn er sagt, dass es letztlich keinen Unterschied macht, ob die Menschen sich auf Grund eines Befehls ihres Gottes oder auf Grund eines Befehls ihres Führers fortpflanzen. (Ich hoffe, ich habe Herrn Bedersdorfer diesbezüglich nicht missverstanden!?)

    Nachdem wir uns also in nahezu allem einig sind, ist es vielleicht an der Zeit, noch einmal nach Punkten zu suchen, in denen wir uns noch uneins sind.

    Der erste, gerade auch von Ihnen noch einmal erwähnte Punkt ist der der Korrelation von reproduktivem Erfolg und religiösem Glauben vs. sozialem Status. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass der soziale Status eine weit größere Bedeutung hat als der religiöse Glaube. Ein Mann mag so fromm sein, wie er will, ohne sozialen Status und finanzielle Ressourcen wird er auf dem Heiratsmarkt leer ausgehen.

  135. Klar, die Menge erschlägt mittlerweile . . .

    Der “Kern der Sache” scheint mir aber noch gar nicht klargelegt: was hat nicht alles biologische Folgen und das in unterschiedlichstem Ausmaß?! Das ist jeweils “festzustellen”…

    Was religiöser Glaube seiner Natur nach eigentlich ist und wie religiöse Vorstellungen, also bloßes Vorstellen real wirksam wird, ist damit noch nicht gesagt – auch hier nicht, wenn ich das recht sehe, also bei der Menge der Beiträge nicht überlesen oder gar nicht mitbekommen haben sollte.

    Vorstellungen können grundsätzlich nur über die soziale Schiene Folgen haben oder “Früchte tragen”. (Ich möchte darauf auch mal aufmerksam machen: in der Paradieserzählung ist auch von “Früchten“, nicht von Obst oder gar Äpfeln oder auch nur einem davon die Rede! Es geht dort nämlich um die guten und schlechten Folgen unseres Erkenntnisvermögens, wenn man auch dort endlich einmal genauer hinsehen würde.)

    Immer und damit “grundsätzlich” rein subjektive Vorstellungen müssen erst “kommuniziert”, geteilt, mitgeteilt werden, bevor ein anderer sie im inneren Nachvollzug überhaupt auch “machen” und damit mitmachen kann!

    Denn das kommt auch noch dazu: Vorstellungen “sind” nicht einfach; wir “machen” sie, wir machen sie “uns” und immer wieder: deswegen ist jede auf bloßen Vorstellungen beruhendes System, angefangen bei Religion bis hin zu unserem gesamten “Wissen” (Wissen ist psychologisch ein TUN!) bis zur Wissenschaft auf Wiederholungen in Schulen und Riten elementar angewiesen – und darauf, dass Menschen von klein(st) auf wenn nötig eingebleut wird und sie ggf. regelrecht gezwungen werden, dasselbe immer wieder ggf. endlos… zu wiederholen! –

    Und wenn man damit nicht aufhört, geht dasselbe immer weiter… (“Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute”: eine psychologisch hochsubtile undn höchst wichtige altbekannte Formel!)

    Es müssen nur genügend “immer wieder dasselbe MACHEN”. Dann überlebt auch so etwas “jenseitiges” wie religiöser Glaube – nicht umgekehrt!

    Etwas “darüber hinaus” gibt es nicht!

  136. @ – Blume

    Lieber Herr Blume, offenbar haben sich unsere letzten Kommentare überschnitten. Ich habe volles Verständnis dafür, dass Sie sich drängenderen Problemen widmen müssen und möchte mich meinerseits noch einmal bei Ihnen für die interessante und überaus fruchtbare Diskussion bedanken.

    Ich hoffe jedoch sehr, dass der Rest von uns noch ein wenig weiter diskutieren wird.

  137. Ende der Diskussion

    Ich finde es sowieso schon erstaunlich, Michael, mit wieviel Geduld, Verve und Einblenden von immer neuen Sichtweisen und Aspekten Du hier auf fast jeden Diskussionsbeitrag über Wochen hinweg eingegangen bist und eingehst. Alle Achtung und Danke dafür.

    In der Tat wird eine Diskussion nach 130 Kommentaren unübersichtlich, zumal für Neueinsteiger. Andererseits gibt es hier offensichtlich ein Publikum, das über Deinen eigenen Blog (noch) nicht erreicht worden ist.

    Insofern würde ich in der Tat regelmäßigere Beiträge auch in diesem Rahmen von Deiner Seite aus für sehr wünschenswert halten.

  138. @ – Kittel: Teleologie und Theologie

    Richtig! Teleologie ist noch nicht Theologie. Teleologisches Denken fördert aber theologisches Denken.

    Das Problem, das ich mit der Evolution teleologischen Denkens habe, ist, dass es in der Welt gar keine Teleologie, sondern nur Teleonomie gibt. Das heißt, das, was wir zunächst für teleologisch oder “für einen bestimmten Zweck gemacht” halten, erweist sich bei näherer Betrachtung stets als kausal verursacht: Die scharfen, krummen Krallen einer Katze sind “nicht zum Mäusefangen” entstanden, sondern sie haben sich, etwa durch Mutation verursacht, evolutiv durchgesetzt, weil sie den Katzen einen Überlebensvorteil verschafften.

    Insofern die Übersetzung teleologischen Denkens in kausales Denken schwer und zeitaufwendig ist, kann ich mir vorstellen, dass teleologisches Denken als bloße “Abkürzung” entstanden und als Intuition in unseren Erkenntnisapparat aufgenommen worden ist.

  139. Demographie und Religion außerhalb Europas

    – Bei Japan übrigens meinte ich nicht die heutige niedrige Geburtenrate, sondern jene, die die heutige zahlenmäßig große Industriegesellschaft erst hervorgebracht hat. Die kann doch eindeutig nicht durch Monotheismus hervorgerufen worden sein. Ähnliches mag für China gelten, das in seiner Geschichte mehrere Bevölkerungszusammenbrüche infolge Überbevölkerung und dadurch Hungersnöten erlebte (vgl. das lesenwerte Buch des französischen Kulturhistorikers Pierre Chaunu “Die verhütete Zukunft”). Daraus hat die heutige 1-Kind-Politik wohl zum Besten des langfristigen Bestehens der chinesischen Gesellschaft gelernt. Auch in Afrika und Indien dürften die heutigen Bevölkerungs-Explosionen nicht allein der Ausbreitung monotheistischer Religionen zuzuschreiben sein, bzw. schon vor ihrer Ausbreitung eingesetzt zu haben.

    Das alles gesagt unter dem Zugeständnis, daß monotheistische Gemeinschaften demographisch “unschlagbar” sein werden, WENN sie irgendwo historisch auftreten.

    Und übrigens setzt, soweit ich sehe, Missionierung neue “selektive Regime” in Gang, was zunächst Individual-Selektion wäre, nämlich dahingehend, daß unter neuen religiösen Verhältnissen Menschen anderer psychologischer Strukturierung kinderreich sein werden als zuvor.

    In China bspw. könnte es seit 2000 Jahren “Selektion gegen rebellische (ADHS-)Charaktere” gegeben haben, wie Humangenetiker Bruce Lahn vor einigen Monaten vermutete. Gegen die Träger von ADHS- oder MAOA-Genen dürfte auch andernorts durch neue kulturelle Rahmenbedigungen Selektion betrieben worden sein.

    Da werden die nächsten Jahre noch viele neue Erkenntnisse zur menschlichen Verhaltens- und Populationsgenetik bringen.

  140. Religionsgenetik

    Übrigens: Verhaltensgenetik IST “Religionsgenetik”. Die Art und Weise, wie ich mich dem religiösen, dem metaphysischen Bereich annähere wird durch meine angeborenen Persönlichkeits-Eigenschaften bestimmt sein. Der religiöse Bereich ist, wie ja hier schon mehrmals festgestellt worden ist, nicht einer, der “separat” von allen anderen menschlichen Verhaltens- und Erlebens-Bereichen angesiedelt wäre, sondern er ist tief mit ihnen verknüpft.

    So könnte es sein, daß ich als Träger von ADHS-Genen oder von neuerdings entdeckten Großzügigkeits-Genen mich auf andere Weise dem religiösen Bereich annähern könnte, als wenn ich nicht Träger solcher Gene sein werde. Ich werde mich auf andere Weise in einer religiös oder areligiös bestimmte menschliche Gemeinschaft einordenen usw. usf..

    X- und y-Chromosome selbst spielen ja da, wie Michael schon ausführte, eine große Rolle. Viele Aspekte von Religiosität sind hier auch noch nicht angesprochen worden. So geht die amerikanische Anthropologin Barbara King davon aus, daß “belonging”, als “sich zugehörig fühlen zu” Artgenossen, Familienmitgliedern, zur eigenen Gruppe der tiefste Ursprung aller menschlichen Religiosität sei.

    Insofern werden auch schon bei Wühlmäusen festgestellte Treue- und Monogamie-Gene, die man beim Menschen ähnlich vorhanden vermutet, eine Rolle für die Religionsgenetik spielen.

  141. Teleologie und Existenzphilosophie

    Teleologisches Denken führt uns in die Irre. Es lässt uns Zwecke vermuten, wo keine sind. Dieser Nachteil muss durch irgendeinen Vorteil aufgewogen werden, anderenfalls hätte sich das teleologische Denken nicht erhalten können. Meine Vermutung ist, dass es für unsere Vorfahren einfacher gewesen sein mag, sich in dieser Welt mit Hilfe von Wozu-Fragen als mit Warum-Fragen zu orientieren.

    Unser angeborenes teleologischen Denken könnte auch erklären, weshalb wir uns Fragen stellen, die – bei Lichte besehen – unsinnig sind. Fragen wie “Wozu leben wir?”, “Wozu leiden wir?” oder “Wozu sterben wir?” sind, streng genommen, inkohärent. Sie ergeben keinen Sinn! Wir leben nicht, leiden nicht und sterben nicht zu einem bestimmten “Zweck”. Dass wir leben, leiden und sterben, ist einfach ein Faktum, das wir hinnehmen müssen und hinter dem wir keine “tieferen Absichten” vermuten sollten. Doch um dies tun zu können, müssen wir quasi über unseren “teleologischen Schatten springen.” Da es schwer ist, das Leben einfach so zu akzeptieren, wie es ist, verlangen viele Menschen nach einer Religion, die ihr teleologisches Denken befriedigt und ihnen Trost spendet.

  142. Langsam Ende der Diskussion?

    Ein komplexes Thema hatte eine umfangreiche Diskussion zur Folge und wir könnten noch weiter von “Hölzchen auf Stöckchen” kommen. Ich denke aber auch, das eigentliche Thema ist genug vertieft worden. Herzlichen Dank an Mr. Blume und viel Erfolg im Neuen Jahr mit der Forschung und auch persönlich.

  143. Teleologie und Teleonomie

    Danke, Herr Dahl, für den Hinweis auf die wichtige Differenzierung von Teleologie und Teleonomie!

    Mit Teleologie ist lediglich die “Lehre” von Zwecken und Zielen gemeint. Deswegen gibt es hier zwei “Schulrichtungen” (hab’ mich in der Mittelstraß’schen “Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie” ein wenig schlau gemacht, d.h. abgesichert):

    – zum einen die, welche mir als einzige wissenschaftlich wirklich relevant erscheint, nämlich die methodologische “Lehre” von Zielen und Zwecken und allem was damit begrifflich und methodisch zusammenhängt, angefangen von der wissenschaftlichen Definition von Zwecken und beispielsweise dem, was dann unter einem “Mittel” zu verstehen ist, so dass Mittel-Zweck-Relationen methodisch identifiziert werden könne usw. usf.

    – zum anderen die ontologische (oder auch “metaphysische”) Richtung, die eigentlich durch bloße Setzung, also axiomatisch von der (eben) “Voraus”-Setzung oder “Unter”-Stellung ausgeht, dass “die Welt” als solche bereits “zielgerichtet” sei, ein Denken dessen Wurzel wohl auf theologisches Denken beruht. Denn allein in einer – nur vorstellbaren, nicht realen, pointiert gesagt: “total” unrealistischen – Totalperspektive von sozusagen außerhalb “der Welt” – traditionell interessanterweise “sub specie aeternitatis” genannt (man “sieht” regelrecht die Quelle dieses Ansatzes!) – können Annahmen über “die Welt als Ganze” getroffen werden. Teleonomie in derart unrealistischer Perspektive wäre dann die Ansicht, die dann “ganz” genannte, also “die ganze Welt” hätte einen Zweck (“Gott zur Freude” oder “zur Ehre” sind theologische Aussagen, die ich aus ferner Jugend dazu in Erinnerung habe.)

    Wenn ich mich nicht täusche, gibt es einen begrenzteren Gebrauch des Begriffes Teleonomie, und zwar in der Biologie. Ich kenne hier nicht die geläufigen insb. nicht die systemtheoretischen (gelernt habe ich im Studium noch kybernetische und regelungstechnische) Fachtermini, die hier wohl nahe liegen; deswegen will ich es als Frage ausdrücken: wird in biologischen Zusammenhängen mit Teleonomie nicht ihre naturgegebene “Gerichtetheit” von genuin “biologischen” Phänomenen gemeint?

    Leben muss sich immerhin eine Zeit lang selbst erhalten bis zur erfolgten Lebensweitergabe: das Individuum kann nach dem Zeugungsakt dann sterben wie die Eintagsfliege – überindividuell geht dann “das Leben” auch nach dem Tod der Erzeuger ja “weiter”: m.E. die reale Grundlange für jeden “Glauben” an ein Weiterleben auch noch nach dem Tode – allerdings unrealistischerweise des Individuums, das ist und bleibt, was es dann ist: tot; was dann noch “bleibt” sind allenfalls Erinnerungen an Tote: bei Lebewesen, die wie sicher wir Menschen sich “im Innern” etwas vorstellen können, selbst Tote…

  144. Danke…

    …für Ihr Verständnis! Sie merken, dass mir die Diskussion wirklich Freude gemacht hat und auch jetzt gäbe es wieder viele Anknüpfungspunkte.

    Z.B. würde mich die Erkenntnistheorie reizen.

    Mich wundert immer wieder, wie empirische Wissenschaftler einen letzten Zweck des Universums inkl. Evolutionsprozesses meinen absolut ausschließen zu können ; dies entschließt sich m.E. erkenntnistheoretisch ebenso der empirischen Wissenschaft wie jeder “Gottesbeweis”, da wir nur historisch arbeiten und also im Bezug auf die Zukunft (und das dort produzierte Wissen) bestenfalls Wahrscheinlichkeitsaussagen machen können. Hier würde ich uns allen einfach ein bissle mehr reflektierte Demut nahelegen, was absolute Aussagen zu Existenz-, Zukunfts- und Glaubensfragen ausmacht…

    Gerne verfolge ich also Ihre Diskussion weiter und freue mich, wenn wir einmal wieder (online oder real) zusammen treffen.

    Bis dann also!

    Michael Blume

  145. Spaß, Aberglaube und Religion

    Die Behauptung, Religion beruhe in einer Weise auf Vorstellungen, dass Vorstellungen aus psychologischer Sich für religiöses Tun geradezu als definierend anzusehen sind, will ich kurz am Beispiel “Tanzen” illustrieren:

    Tanzen kann man wie schon Kleinkinder aus Spaß an der Bewegung, aus Genuss beim rhythmischen Sich-Bewegen, aus Freude am gemeinsamen Tanz, aus erotischer Spannung beim Tanz umeinander im Tanz der Geschlechter oder aus welchem “Gefühl” und Empfinden sonst noch, wobei sich bei längerem Tanzen noch eine zusätzliche und eigenartige Entwicklung ergibt.

    Als erstes kann sich ein leichter Automatisierungseffekt entwickeln, der durch das spezifische Erleben charakterisiert ist, sich “wie getragen zu fühlen”. Bei noch längerem, evtl. stundenlangen Tanzen kann sich rhythmisches In-Bewegung-Sein so weit automatisieren und dabei “verselbständigen”, dass es nicht einmal mehr der bewussten Steuerung bedarf und “wie von selbst” geht oder “abläuft” mit schließlich diesem für viele staunenswerten Effekt: manchem Menschen kann dann in hochgradiger Konzentration auf dieses “schöne Gefühl” oder anderes seine Selbstwahrnehmung wie beim Einschlafen entgleiten, so dass sein Tanz irgendwann in die sozusagen vollautomatisierte und meist “seltsam” wirkende Bewegungsfolge des Trancetanzes übergeht.

    Tanzen kann soziales Tun werden und sich in gemeinsam akzeptieren und gepflegten (lat: kultivierten, also in kulturspezifischen oder einen “Kult” bestimmende) Sitten und Gebräuchen konkretisieren: bei gesellschaftlichen Anlässen wie Festen und Feiern bis hin zu ganzen Volksfesten, bei Vorführungen oder anderen Veranstaltungen einschließlich Sportveranstaltungen, zum Erhalt von Brauchtum oder umgekehrt zur Entwicklung neuer Bewegungsfolgen und -formen.

    Tanzen kann aus der “magisch” genannten Vorstellung heraus erfolgen, auch nach anderes bewirken zu können als damit lediglich imstande zu sein, nur sich selbst zu beeinflussen und in einen “anderen Bewusstseinszustand” zu versetzen oder andere Menschen “mitreißen” zu können. Bekannt ist, dass bei manchen Naturvölkern zumindest auch dazu getanzt wurde, um das Wetter zu beeinflussen. Wir sind geneigt, eine derartige uns absurd vorkommende Überzeugung abergläubisch zu nennen.

    Tanzen wurde und wird m.W. bei Naturvölkern nach wie vor auch dazu benutzt, sich ganz gezielt in Trance zu tanzen; es gibt bei ihnen sogar Spezialisten, bei denen dies besonders leicht vonstatten geht. (Ein Somnambulismus kann wie Schlaf nur “von selbst” eintreten, was nicht ausschließt, dann andere ihn “induzieren” können; dies geschieht in dem “Hypnose” genannten Verfahren…)

    Die dabei gemeinte somnambule oder “tiefe” Trance mit Ausschaltung der Selbstwahrnehmung und damit Wegfall der Möglichkeit der bewussten Selbststeuerung besteht darin, in einer gegenüber dem üblichen oder normalen Wachbewusstsein unvergleichlichen Weise auf inneres Empfinden oder innere Spontanvorstellungen konzentriert zu sein, auf innerlich sich wie beim Träumen im Schlaf einstellende, aber anders als dort – Trance ist wie gesagt eine Sonderform des Wachzustandes – intensiver als im Schlaf erlebte, spontan sich bildende Vorstellungen, insb. innere “Bilder”, wenn es sich um visuelle Vorstellungen handelt, also das, was man seit langem “Visionen” nennt. Sie können selbstverständlich oder wörtlich zu verstehen: “natürlich”, d.h. ihrer Natur nach auch nicht mehr selbst gesteuert werden, sondern ergeben und entwickeln sich in einer Art innerem Film oder Kino ganz von selbst, wie dies auch aus Drogenerfahrungen bekannt ist.

    Schon Naturvölker haben Möglichkeiten gefunden, dieses spontane “Innenleben” durch halluzinogen wirkende Pflanzen zu intensivieren, und außerdem – soweit ich als Nicht-Ethnologe informiert bin – vielfach die Überzeugung ausgebildet, dabei in ein eigenes “Reich” zu gelangen, ein Reich allerdings, das sie nicht als das “Reich” ihrer eigenen Imaginationen auffassen, sondern “anders”.

    Und hier kommen zusätzliche Vorstellungen ins Spiel, nämlich die Deutungsweisen und Interpretationen dieser inneren Erlebnisse, die heute als “innerpsychische” Vorgänge gedeutet werden, ohne genaue psychologische Analyse jedoch seit langem auch ganz andere, nämlich religiöse Deutungen erfahren haben und erfahren können: die menschliche Imaginationsfähigkeit ist ja auch im normalen Wachzustand schier unbegrenzt und kann sich beispeilsweise sogar ein überhaupt nur noch sprachlich formulierbares “Jenseits” bilden.

    Wer deswegen bereit und fähig ist, sich ein “Reich des Geistes” vorzustellen und anzunehmen – in der Einzahl als “Großer Geist” oder in der Mehrzahl als “Reich der Geister” und sich dabei dann vielleicht auch noch höchst unterschiedliche Geistwesen dabei vorstellt wie Gespenster, Teufel und Dämonen, Engel oder Götter oder auch nur als solche Geistwesen weiterexistierende Ahnen – wird Erlebnisse in sog. “veränderten Bewusstseinszuständen” aller möglichen Art bis hin zu Träumen anders deuten als sie heute in sachlicher psychologischer Perspektive erscheinen; denn sog. “verändere Bewusstseinszustände” sind mittlerweile recht gut untersucht und haben sich als lediglich unterschiedliche Konzentrationszustände und damit Wahrnehmungsweisen mit jeweils charakteristischen Eigenschaften herausgestellt, ein Wissen, das es interessanter Weise seit etwa zweieinhalbtausend Jahren bereits gibt, das aber – und das ich noch weit bemerkenswerter – nach wie vor selbst als religiös gilt: so wenig allgemein verbreitet ist leider das Wissen und Verständnis von den in Rede stehenden Zusammenhängen. (s.a. das “Postskriptum” auf S. 13 hier

  146. @ Dahl: Nachtrag zu Dawkins

    Sie schrieben (ganz am Anfang):

    > Was mir an Dawkins’ eigenem Ansatz missfällt, ist, dass die kindliche Leichtgläubigkeit (“Glaube allem, was Deine Eltern Dir sagen!”) lediglich die WEITERGABE, aber nicht die ENTSTEHUNG der Religion erklärt. <

    Dazu nur noch eine Anmerkung. Diese These erklärt nicht einmal die Weitergabe schlüssig. Denn wenn Eltern ihren Kindern mit Religion(en) schädliche Einflüsse weitergeben würden, müsste diese sogar doppelt so schnell evolutiv ausscheiden: denn es wäre ja der genetische Erfolg von Eltern UND Nachkommen (und dann wiederum deren Nachkommen etc.) beeinträchtigt.

    Die These ist (wie einige andere von Dawkins) also nicht evolutions-logisch und auch empirisch unhaltbar. M.E. wird sie fast nur aus polemischen Gründen weitergegeben – und zwar in Populationen fast ohne Kinder… (-;

  147. @ Blume und Dahl: Vererbung, Lernen und Statistik

    Lernpsychologische und evolutionäre Zusammenhänge in Beziehung zu setzen, scheint mir ausgesprochen gewagt. Die Unterschiede sind m.E. viel zu groß.

    Lernen findet im Moment des Erlebens statt und damit jeden Erlebens, also dauernd. Dem gegenüber findet genetisch Relevantes lediglich in erfolgreichen Sexualakten statt, pro Generation also gerade ein Mal. Lernen ist zudem stets individuell. Folgen individuellen Lernens betreffen deswegen auch immer nur das lernende Individuum und allenfalls noch die Einzelgruppe, -horde oder -herde, in die es hineingeboren ist. – Evolutionäre Betrachtungen sind dagegen prinzipiell überindividuell auf die Art gerichtet; Lernprozesse werden hier nur dann in Betracht gezogen, wenn ihr “Anteil” am Verhalten der Individuen einer Spezies gerade “abzuziehen” ist, wenn es um das typische und damit mindestens zum Teil genetisch präformierte oder verankerte Verhalten geht.

    Noch wichtiger: Folgen hat Lernen bereits in der nächsten gleichartigen Situation (weil individuelles Verhalten dabei lernpsychologisch ausgedrückt sogleich “verstärkt” oder “abgeschwächt” wird, Grundlage aller Gewohnheits-Bildung, die bei sozial aufwachsenden Lebewesen von besonderer Bedeutung ist; denn dieses soziale Lernen wird durch die ständigen Eindrücke vermittelt, die jedes einzelne Individuum von dem – insb. reaktiven – Verhalten derjenigen Individuen auf seins gewinnt, die es als Mutter, Eltern und ggf. auch in der Gruppe, Horde oder Herde “vor Augen” und damit zum “Vorbild” hat: dieses ständige Vorbild- und Gruppenlernen wird meinem Eindruck nach in seiner weitreichenden Bedeutung viel zu wenig beachtet). – Dagegen zeigen sich genetische Folgen frühestens in der nächsten Generation und dort zunächst auch nur individuell. Als generative Auswirkungen können diese Folgen unter evolutionären Gesichtspunkten nur dann Berücksichtigung finden, wenn sie irgendwann als Elemente einer generationenübergreifenden, für den Bestand oder die Weiterentwicklung der ganzen Art bedeutsamen Entwicklungslinie erweisen oder rekonstruktiv erwiesen haben.

    Eine methodisch bedingte Konsequenz besteht bekanntlich darin, dass bei evolutionären Zusammenhängen völlig andere Zeiträume in Betracht gezogen werden müssen als bei individuellen Lernprozessen und darüber vermittelten sozialen Zusammenhängen. Kulturentwicklungen unter “evolutionären” Gesichtspunkten zu betrachten liegt deswegen nicht eben nahe. Bei uns Menschen steht eine derartige Betrachtungsweise vor der großen Schwierigkeit, den Einfluss unseres enormen Lernvermögens gegenüber gleichzeitig ablaufenden, in ihren Folgen zu völlig anderer Zeit erst erkennbar werdenden genetisch relevanten Vorgängen methodisch sicher abzugrenzen.

    Auf die methodische Problematik statistischer Erhebungen will ich nur noch hinweisen: sie ergeben bekanntlich immer nur Korrelationen! Als solche sind sie völlig ungeeignet, kausale Zusammenhänge auch nur aufzuzeigen; als Beweismittel für Zusammenhangsbehauptungen kausaler Art taugen sie gleich gar nicht. Korrelationen bleiben auch unter der geläufig gewordenen und leicht irreführenden Bezeichnung “statistische Zusammenhänge” bloß Korrelationen. Im Glücksfall sind sie Hinweise auf kausale Zusammenhänge. Solche sind ganz anders als per Statistik nachzuweisen. (Bei physikalischen Experimenten, die sich dadurch auszeichnen, dass alle wesentlichen Variablen ausreichend kontrolliert werden, sind die Ausgangsvoraussetzung für die Anwendung statistischer Verrechnungen völlig anders als bei schlichten Häufigkeitserhebungen irgendwelcher sonstiger Art.)

    Im übrigen möchte ich auch auf das im Blog von Herrn Blume hier http://religionswissenschaft.twoday.net/…4589353 Ausgeführte verweisen, insbesondere auf das spezielle und für uns Menschen hochspezifische Imitationslernen, das in der Abrichtung von Soldaten sicher seit langem und außerhalb davon zu allgemeinen Bildungszwecken mindestens seit dem griechischen Altertum, besonders jedoch nach Einführung der allgemeinen Schulpflicht mehr oder weniger systematisch auch gezielt und bewusst genutzt wird.

  148. Wenn Sie erlauben…

    …das macht so einfach keinen Spaß mehr, Herr Kittel! Mit einer ernsthaften, wissenschaftlichen Diskussion haben diese Sprachnebel nichts mehr zu tun.

    Der differentielle Reproduktionserfolg religiös vergemeinschafteter Menschen, den wir hier ausführlich diskutiert haben, lässt sich eben längst nicht mehr einfach mit dem Hinweis auf “Statistik beweist nichts” wegerklären. Abgesehen davon, dass hier keine willkürliche Korrelation abstrakter Datensätze, sondern ein millionenfacher Abgleich menschlichen Reproduktionsverhaltens vorliegt – ganz unabhängig davon haben wir auch hier mehrfach beispielsweise den Kinderreichtum orthodoxer Juden oder Amish -also den religionskulturellen Vergleich- diskutiert. Wenn Sie schon aller Statistik mißtrauen, so bräuchte es wenigstens einer alternativen Erklärung auch dazu.

    Und dass Lernen evolutionsbiologisch natürlich immer in der Wechselwirkung biologischer und sozialkultureller Prägung erfolgt, ist eine Binsenweisheit – bzw. macht ja gerade den adaptiven Sinn des Lernens aus. Aber unsere Lern”fähigkeit” unterliegt selbstverständlich weiterhin der Selektion; zumindest kenne ich keinen einzigen Biologen, der anderes behaupten würde.

    Sie hätten auch einfach schreiben können: Ich will einfach nicht wahrhaben, dass religiöses Verhalten auch biologische Grundlagen hat und dass religiös vergemeinschaftete Menschen durchschnittlich deutlich mehr Kinder haben. Dann hätten wir Sie auch verstanden…

    Natürlich unterliegt jede wissenschaftliche Hypothese der ewigen Möglichkeit der Falsifikation bzw. Überbietung durch eine exaktere These. Aber die verzweifelten Versuche, vorliegende Daten zu leugnen, sind, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, nicht wirklich produktiv.

  149. Ernsthafte wissenschaftlich Diskussion

    Den Vorwurf nehme ich gern auf mich, Herr Blume, nicht zu Ihrem Spaß beizutragen; dafür ist mir das Thema und damit Ihr Anliegen zu ernst. Wenn Sie sich mit schlichteren eher plakativen Behauptungen zufrieden geben, kann ich Ihnen entgegenkommen und würde dann so formulieren:

    In der bisherigen Diskussion hier wird die Bedeutung, insbesondere die Wirksamkeit und Reichweite von Lernprozessen – vorsichtig formuliert – erheblich unterschätzt, soweit sie über Lippenbekenntnisse hinaus überhaupt in Betracht gezogen werden. Außerdem habe ich zu begründen versucht, weshalb eine evolutionäre Betrachtungsweise von derzeitigen Reproduktionsraten oder solchen in Zeiträumen von selbst einigen Jahrhunderten nicht adäquat ist, womit selbstredend – um den Sprachnebel ein wenig zu lichten – zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass ihr Entstehen und Ausmaß vielmehr anders zu “erklären” ist.

    Ich hatte gehofft, damit genügend begründet zu haben, dass zur Erklärung des Verhaltens von Menschen heute und in allen historisch von uns hinreichend genauer überblickbaren Zeiträumen zunächst und vor allem weit mehr als bisher Lernprozesse in Betracht zu ziehen sind; bei gelernten Verhaltensweisen wie dem Sprechen in einer Sprache (! – nicht die bloße Lautebildund bzw. die Fähigkeit dazu) oder der Ausübung gruppenspezifischer religiöser Rituale aller Art kommen zur Erklärung ihres Zustandekommens sogar ausschließlich Lernvorgänge in Frage. Bei uns Menschen sind seit langem selbst grundlegende biologische “Funktionen” wie Aktivität/Schlaf, Ernährung, Sicherungs-, Sozial- und Reproduktionsverhalten derart stark kulturell überformt und werden damit in einem Ausmaß in gelernten Verhaltensweisen ausgelebt, dass Lernprozesse schon lange von weit überwiegender kausaler Relevanz für die Erklärung faktischen Verhaltens von Menschen geworden sind. Vielleicht darf ich pauschal auf die Forschungen von Michael Tomasello verweisen.

    Es ist doch gar keine Frage und wird von mir selbstverständlich auch nicht bestritten – ganz im Gegenteil! -, dass individuelles und gruppenspezifisches Reproduktionsverhalten auf religiöse Gesichtspunkte, Werthaltungen und Überzeugungen zu beziehen sind, wenn und sofern Menschen sich real daran orientieren. Das kann man auf bloßen Entschluss hin oder aus anderen Gründen tun, eine Entscheidung, die gewöhnlich als Bekehrung bezeichnet wird; normalerweise werden religiöse Einstellungen der verschiedensten Art seit Jahrtausenden jedoch Kindern von klein auf mehr oder weniger “eindrücklich” vorgelebt oder mehr. Kinder aber “verinnerlichen” frühe Lernerfahrungen in ihrer weit offenen Empfind- und Empfänglichkeit und mehr als ein komplettes Jahrzehnt vor Entwicklung einigermaßen ausreichender Reflexionsfähigkeit in einer derart tiefgreifenden und weitreichenden Weise, dass psychologische Laien sich deren Ausmaß und Auswirkung trotz der Bekanntheit zumindest des Namens “Freud” nach wie vor kaum vorstellen können. (Welche “Macht” – unterbewusst, wie gewöhnlich gesagt wird, ohne dass dieser Ausdruck jedoch etwas erklären würde – selbst bloße “Bilder”, also visuelle Eindrücke gewinnen können, kann an dem psychosomatischen Phänomen der gelegentlichen Ausbildung von Stigmata bei Menschen mit Neigung zu Spontantrancen ersehen werden. – In Trancezuständen sind nebenbei bemerkt auch Phänomene möglich, über deren Art und Entstehung nach wie vor kaum etwas allgemein bekannt ist und dies trotz intensiver Forschungen in den USA zu “veränderten Bewusstseinszuständen” schon vor Jahrzehnten.)

    Während Sexualität und alle anderen sog. Grundbedürfnisse selbstverständlich biologisch fundiert ist, sind Überzeugungen als gelernte Einstellungen dies nie, auch keine religiösen Überzeugungen – außer in dem nun wirklich trivialen Sinn, dass sie “eine biologische Grundlage” haben, nämlich unser natürliches Lernvermögen. Nur habe ich nicht den Eindruck, dass Sie eine derart triviale Ansicht vertreten und verteidigen, sondern Religiosität selbst für eine biologisch fundierte menschliche Eigenheit halten. Dagegen habe ich in Ihrem Weblog “Religionswissenschaft” ausführlich argumentiert, der mir dafür der passendere Ort erschien. Eine Replik von Ihnen darauf steht dort noch aus.

    Die Tatsache des willkürlichen oder anders begründeten und beliebig möglichen Wechsels religiöser Ansichten wie auch der schon vom Eindruck her beliebig erscheinende historische Wandel, des Verschwindens oder Auftretens teilweise geradezu grotesker religiöser Vorstellungen und Riten sowie die ebenso willkürlich mögliche Aufgabe aller Religiosität allein schon zeigt und beweist meines Erachtens, dass religiöse Phänomene nicht biologisch präformiert oder gar verankert sein können. Gerne für religiös gehaltene psychische Phänomene wie Trancen, Stimmenhören, Visionen, OBE’s oder NDE’s werden zwar gerne für religiöse Zwecke vereinnahmt; ihre Eigenart zu erklären ist ohne einschlägige Vorkenntnisse schwierig, sie ernsthaft zu erörtern ohne Fachkenntnisse kaum sinnvoll, wenn überhaupt möglich.

  150. Ein weiterer Ansatz

    Ich bin erst kürzlich auf diese Diskussion gestoßen und habe festgestellt, dass einige Aspekte sehr ausführlich besprochen wurden. Andere sind mir beim quer Lesen nicht aufgefallen. Es mag aber sein, dass diese bereits hier oder an anderer Stelle behandelt und verworfen wurden.
    Totenkult und die Fähigkeit, kausale Zusammenhänge zwischen Ereignissen, herzustellen waren hier ja schon mehrfach als Elemente der Religionsentstehung genannt. Auch Altruismus, und die Bereitschaft sich für die Gruppe zu opfern können in diesem Zusammenhang gesehen werden.
    Allerdings war es früher viel wahrscheinlicher als heute, das man den Einsatz für die Gruppe mit dem Leben bezahlt. Auch wenn das der Gruppe Vorteile bringt, hat der einzelne nichts davon.
    Das Argument, dass dadurch die Gene der eigenen Sippe bessere Chancen haben, war damals gänzlich unbekannt und würde auch heute nicht ohne Widerspruch akzeptiert, wenn es um den eigenen Tod geht.

    Anders verhält es sich, wenn der Tote Körper durch Grabbeigaben reich beschenkt wird und/oder ein Leben nach dem Tod in Aussicht gestellt wird, welches um so prächtiger ausfällt je mehr man sich als zuverlässiges Mitglied der Gesellschaft erweißt.
    Die Religion, die hier am meisten bieten kann, sollte auch die mutigsten Kämpfer hervorbringen. Was sowohl bei der Verteidigung als auch bei der Eroberung von Ressourcen von Vorteil sein sollte.
    Allerdings sollte sich die Kampfbereitschaft nicht gegen die eigene Gruppe richten. Hier scheint die Religiosität mit strengen Normen und Ritualen aber klare Grenzen aufzuzeigen.
    So könnte es von Vorteil sein, das Priester zwar den Frieden predigen und nicht in den Kampf ziehen, aber die Krieger segnen.
    Vielleicht gilt das Zölibat ja auch als versprechen, dass die Priester die Abwesenheit der Krieger nicht als Gelegenheit zur eigenen Fortpflanzung nutzen.

  151. @ Cramer

    Lieber Herr Cramer,

    danke, starker Beitrag! Für Sie (und ggf. Herrn Kittel) könnte ggf. “Darwin’s Cathedral. Evolution, Religion and the Nature of Society” des Evolutionsbiologen D.S. Wilson von 2002 sehr interessant sein, der mit einer Vielzahl von Fallbeispielen genau in diese Richtung forscht. Zu meinen Befunden passt das natürlich wunderbar, wobei ich meine, dass das “Survival” in der Evolution der Religion sekundär hinter der Lösung von “Reproduction” bestand. Aber das sind Nuancen, die ggf. empirisch zu lösen sind. Und Wilson (der übrigens selber Atheist ist) ist ein echter Lesetip!

    Mit herzlichen Grüßen

    Michael Blume

  152. @ Herr Kittel: Mein Anliegen

    Lieber Herr Kittel,

    lassen Sie mich einfach auf Ihre Anspielung bezüglich “meines Anliegens” eingehen: Mein Anliegen besteht in naturwissenschaftlich fundierten und durch harte Daten belegten Theoriebildung zur Evolution der Religion. Und dieses Anliegen teilen Wissenschaftler über ganz verschiedene Fachgrenzen und Glaubenshaltungen hinweg.

    Für einen sinnvollen Dialog benötigt es jedoch zwingend die Bereitschaft, zuzuhören und Befunde auch erst einmal aufzunehmen. Und vielleicht ist Ihnen ja schon aufgefallen, dass eine ganze Reihe von Diskussionspartnern das Antworten auf Ihre Beiträge hier und im Blog inzwischen aufgegeben hat – denn Sie bringen keine eigenen Daten ein, sondern “zerpflücken” immer wieder nur die Begriffe und Arbeiten anderer, ohne auf Einwände zu hören. Und das bringt dann irgendwann einfach niemandem mehr was.

    Nur zum Vergleich: Herr Dahl und ich liegen religiös und weltanschaulich sicher weit auseinander – und dennoch diskutieren wir gerne, bringt uns der Austausch auch weiter, wägt jeder das Argument des anderen und gibt diesem auch hin und wieder Recht.

    So hat kein Mensch in dieser Diskussion behauptet, dass Religionszugehörigkeit genetisch fixiert wäre – sondern wir haben Religiosität als eine biokulturelle Fähigkeit analog zur Musikalität mindestens fünf Mal diskutiert. Schon im Eingangstext wird die religiöse Vielfalt, die ja Bedingung von Selektion und Anpassung auf unterschiedliche Umweltveränderungen ist, thematisiert. Und ganz unabhängig von den historischen Befunden weisen sowohl auch auf die Genetik bezogene Zwillingsstudien auf die auch biologische Veranlagung von Religiosität analog von Musikalität hin:

    http://religionswissenschaft.twoday.net/…347367/

    Ebenso zeigen psychologische Experimente eindeutig eine auch biologische Veranlagung religiöser Dispositionen auf, neben dem bereits mehrfach erwähnten Bering z.B. auch ein Spielexperiment von Norenzayan hier:

    http://religionswissenschaft.twoday.net/…501605/

    Alle diese Daten und Befunde waren in den letzten 150 Beiträgen schon mehrfach Thema. Wenn sie nicht in Ihr Anliegen des “Auflösens” des Phänomens Religion passen sollten, tut mir das Leid – aber wir alle erleben immer wieder empirische Befunde, die uns beschäftigen und zur Überprüfung liebgewonnener Hypothesen zwingen. Wenn wir das aber nicht können, sondern stattdessen einfach ignorieren, was uns nicht passt, entwickelt sich Wissenschaft nicht weiter.

    Bitte haben Sie deswegen einfach Verständnis, dass ich erhebliche Zweifel habe, ob das X-te Durchdiskutieren der Begriffe und Kapriolen noch Sinn macht. Ggf. finden sich dafür sicher andere Interessenten.

    Mit freundlichen Grüßen

    Michael Blume

  153. Verkorkster Satz (-;

    So hätte er heißen müssen:

    > Und ganz unabhängig von den historischen Befunden weisen auch auf die Genetik bezogene Zwillingsstudien auf die auch biologische Veranlagung von Religiosität analog zur Musikalität hin. <

    (-:

  154. Beobachtung zum Slog-Erfolg

    Interessanterweise haben sich unter die TOP 10 der ausdrücklich naturwissenschaftlich orientierten Wissenslogs-Beiträge inzwischen gleich mehrere Artikel etabliert, die sich ausdrücklich mit Religion beschäftigen!

    Ist das nicht auch ein interessanter Hinweis auf die bleibende Faszination des Themas? Auf gehts, Naturwissenschaftler, macht endlich mit!

    Hervorragendes Buch des (übrigens ebenfalls atheistischen) Evolutionsbiologen D.S. Wilson wäre zum Beispiel: “Darwin’s Cathedral: Evolution, Religion, and the Nature of Society”.

    http://www.amazon.com/…ion-Society/dp/0226901351

    Wissenschaftlich übrigens sehr viel ergiebiger als Dawkins, aber mangels Polemik natürlich auch viel unbekannter…

  155. Survival vs. Reproduction

    Liebe Herr Blume,

    danke für den Buchtipp, zumal ich wissenschaftliche Bücher den polemischen vorziehe und mich deshalb nicht für Dawkins begeistern konnte.
    Die Differenzierung zwischen „Survival“ und „Reproduction“ ist, wie Sie schreiben, eine weitere Feinheit, aber die Evolution nutzt ja bekanntlich jeden Vorteil und sei er noch so klein.
    So vermute ich, dass Religionen, die beide Aspekte abdecken, besonders erfolgreich sind. Allerdings nur, wenn die „Kosten“ dadurch nicht zu stark steigen. Dabei hängt die Priorität wahrscheinlich von den äußeren Umständen abhängt. Dort wo den Nachkommen keine gute Überlebenschance eingeräumt wird, z.B. weil Ressourcen fehlen, wird die Religion eher auf die allgemein Pflicht zu Reproduktion verweisen.
    Bei starkem Bevölkerungswachstum sind dagegen eher Verteilungskrämpfe zu erwarten, hier steht also eher die Bereitschaft im Vordergrund, sich für die Gemeinschaft zu opfern. Ob Religion in dieser Situation gleichzeitig auf Reproduktion drängt, was die Zahl der Mitstreiter vergrößert, aber den Expansionsdrang bestätigt?
    Empirische Untersuchungen können hier sicher Antworten liefern. Vielleicht sind aber auch historische Betrachtungen hilfreich. Über die Götterwelt früherer Zeiten herrschte oft der Kriegsgott mit der Göttin der Fruchtbarkeit. Dabei möchte ich aber nicht ausschließen, dass die Wertigkeit dem Patriarchat geschuldet ist. Vielleicht ist im Alten Testament auch nur aus diesem Grund mehr vom Krieg, als von Reproduktion die Rede.
    Interessant wäre auch, ob die Ausbreitung neuer Religionen von grundlegend geänderten Lebensbedingungen abhängt, oder eben nur die Religionen gewinnt, die beide Aspekte möglichst gut abdeckt und flexibel in den Vordergrund stellen kann.

    Viele Grüße

    H. Cramer

  156. Wow…

    Hallo Herr Cramer,

    ganz im Ernst: da sind Sie schon ziemlich weit vorne mit dabei beim konzeptionellen Denken! Arbeiten bzw. forschen Sie bereits auf dem Gebiet?

    Wilson wird Ihnen entlang Ihrer Überlegungen enorm zusagen und zum Zusammenhang Demografie – Gewalt hier auch ein pdf, das empirisch ebenfalls in die von Ihnen vermutete Richtung zeigt:

    http://www.berlin-institut.org/…tehen_Kriege.pdf

    Wegen der “Kosten” haben mich immer die orthodoxen Juden und Amish verblüfft, die extrem “teure” religiöse Lebenswege vertreten und gerade darin und deshald auch reproduktiv (und also biologisch letztlich entscheidend) außerordentlich erfolgreich sind. Im Vergleich zeigen sich meist die “teuren” Gemeinschaftsformen als erfolgreicher als die “liberalen” – ein Umstand, der einem nicht gefallen muss, der sich aber stabil so abzeichnet…

    Würde mich freuen, wenn Sie am Thema mit dranbleiben!!!

    Mit herzlichen Grüßen

    Michael Blume

  157. Ich wäre ja vorsichtig…

    …mit der pauschalen Aussage, dass die teuren, also restriktiven, Gemeinschaftsformen erfolgreicher seien als die liberalen.

    Ich hatte ja schon im Seminar angesprochen, dass der “offensichtliche” reproduktive Vorteil restriktiver Gemeinschaften sich möglicherweise nur wegen der historisch ungewöhnlich niedrigen Sterblichkeit so deutlich zeigt.

    Genauso ist es denkbar, dass die ultrakonservativen Gemeinschaften generell derzeit von der technisch erzeugten Stabilität der Lebensbedingungen profitieren (die ja die liberale Gesellschaft erst geschaffen hat).

    Die demographischen Daten sagen uns ja nur, wie das Bild unter den derzeitigen sehr speziellen Bedingungen aussieht. Wenn es tatsächlich einen konsistenten Selektionsdruck in Richtung erzkonservativer Religion gäbe – warum gibt es dann so überwältigend viele vergleichsweise liberale Gesellschaftsmodelle in der menschlichen Geschichte?

  158. Evolution der Religion

    Habe eben erst bemerkt, dass die Diskussion weitergeführt worden ist. Wie schön! Dann kann ich ja die Frage, die ich an Herrn Blume habe (und letztens andernorts aufgeworfen hatte), schnell hier unterbringen. Just a sec!

  159. @ – Blume: Adaptivität der Religiosität

    Lassen Sie uns noch einmal ganz kurz auf die Adaptivität der Religiosität zu sprechen kommen. Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, stützen Sie Ihre Behauptung, dass die Religiosität adaptiv sei, auf zwei unleugbare empirische Befunde: 1. Zwillingsstudien zeigen, dass Religiosität hereditär und daher offenbar genetisch fixiert ist. Und 2: Demographische Studien zeigen, dass Religiosität mit einem größeren Fortpflanzungserfolg einhergeht. Ist das richtig?

    Ich will zunächst einmal nur die erste Frage berühren: Mir will scheinen, dass man aus der bloßen Heredität der Religiosität nicht automatisch auf ihre Adaptivität schließen kann. Viele Eigenschaften sind hereditär: Neurotizität, Depressivität und Suizidalität sind offenbar erblich, doch niemand würde behaupten, dass sie deshalb adaptiv sein müssen. Was meinen Sie?

  160. Zur Vorsicht besteht kein Anlass (-:

    Lieber Lars,

    Dir zunächst auch hier noch einmal “Danke!” für Deine Teilnahme an meinem Seminar in Heidelberg zur Evolution der Religion! Die Studierenden haben sich, wie Du gemerkt hast, sehr gefreut, Dich dabei zu haben – und ich als Dozent auch!!!

    Das Ganze hat mich auch optimistisch gestimmt, dass auch Naturwissenschaftler uns Religionswissenschaftlern eines Tages eine durchdachte Sprache zugestehen. (-; So schrieb ich: “Im Vergleich zeigen sich meist die “teuren” Gemeinschaftsformen als erfolgreicher als die “liberalen” – und Du mahntest, Du wärest “vorsichtig mit der pauschalen Aussage, dass die teuren, also restriktiven, Gemeinschaftsformen erfolgreicher seien als die liberalen.”

    Diese Aussage habe ich auch gar nicht gemacht – sondern nur vorsichtig auf eine empirische Verteilung (meist, und “teuer” und “liberal” auch in Gänsefüsschen) hingewiesen! (-:

    Religionshistorisch an Gemeindschaften des 19. Jahrhunderts haben den Zusammenhang von “kostspieligen Ritualen” und Langlebigkeit Sosis & Bressler untersucht, hier:

    http://www.anth.uconn.edu/…ndBresslerCCR2003.pdf

    Meine religionsdemografischen Befunde kommen zu dazu entsprechenden Ergebnissen: so werden die demografischen Spitzenplätze praktisch ausnahmslos von zugewanderten oder “sehr verbindlichen” Religionsgemeinschaften (wie Judentum, Pfingstkirchen etc.) eingenommen. Liberalere Gemeinschaften (Buddhismus, Großkirchen, Altkatholiken etc.) schneiden je unterdurchschnittlich ab. Aber auch die Zeugen Jehovas und die Neuapostolische Kirchen liegen weit hinten; hier zeigt sich, dass religiöse Verbindlichkeit in Familienfragen nicht reicht, wenn es an Unterstützung (z.B. Betreuungseinrichtungen) mangelt.

    Ich stimme mit Dir völlig überein, dass man je den historischen Zusammenhang sehen muss! So fragst Du:
    “Wenn es tatsächlich einen konsistenten Selektionsdruck in Richtung erzkonservativer Religion gäbe – warum gibt es dann so überwältigend viele vergleichsweise liberale Gesellschaftsmodelle in der menschlichen Geschichte?”

    Darauf fällt die religionswissenschaftliche Antwort recht leicht: “erzkonservativ” und “liberal” sind zeitlich bedingte Begriffe. So war das frühe, rabbinische Judentum in Opposition auch zum etablierten Tempelkult seinerzeit ebensowenig “erzkonservativ” wie die amischen Wiedertäufer im Gegensatz zu den evangelischen und katholischen Staatskirchen. Und aus beiden Strömungen entwickelten sich mit dem Wachstum unweigerlich zahlreiche Varianten, so dass wir heute liberale von orthodoxen Juden oder liberalere Amish von Swartzenhuber-Gemeinden unterscheiden können.

    Will sagen: selbstverständlich läuft die kulturelle Evolution der Religionen nicht stur in eine Richtung, sondern funktioniert ja gerade durch das Ausbreiten und Liberalisieren alter sowie das Entstehen neuer Gemeinschaftsformen. Die Verbindlichkeit der religiösen Praxis scheint für den evolutiven Erfolg eine notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung zu sein.

    Dir nochmal Danke und herzliche Grüße!

    Michael

  161. @ Dahl: Adaptivität von Religiosität

    Lieber Herr Dahl,

    danke für Ihren Beitrag und Ihre Frage!

    “Mir will scheinen, dass man aus der bloßen Heredität der Religiosität nicht automatisch auf ihre Adaptivität schließen kann. Viele Eigenschaften sind hereditär: Neurotizität, Depressivität und Suizidalität sind offenbar erblich, doch niemand würde behaupten, dass sie deshalb adaptiv sein müssen. Was meinen Sie?”

    Das sehe ich selbstverständlich ganz genauso! Der Nachweis der Heredität konnte lediglich ein entscheidender Baustein für die Grundfrage sein, ob Religiosität überhaupt auch (!) genetisch weitergegeben wird. Und das gehört, wie Sie dankenswerterweise anerkennen, ebenso wie der Zusammenhang Religion – Reproduktion zu den “zwei unleugbaren empirische Befunden”, die wir haben.

    Mein Gesamtargument ruht inzwischen aber sogar auf sechs (!) Säulen und lautet wie folgt:

    1. Wir haben zahlreiche empirische Befunde zur auch genetischen Heredität von Religiosität, vergleichbar z.B. zur Musikalität. (Abgesehen von neurowissenschaftlichen Befunden, die m.E. ebenfalls die schlichte Erkenntnis bestätigen, dass sich auch Religiosität in der Biologie unserer Hirne abspielt…)

    2. Wir haben sehr starke Befunde zu einem auch unabhängigen Zusammenhang von religiöser Vergemeinschaftung und Reproduktionserfolg.

    3. Wir haben eine Fülle religionssoziologischer Fallstudien sowohl historischer wie rezenter Art zu reproduktiven und damit mittelbar auch kulturellen Wettbewerbserfolgen von Religionsgemeinschaften wie Juden, Christen, Muslime, Amish etc.

    4. Wir haben eine ganze Reihe psychologischer Experimente an Erwachsenen und Kindern, die ebenfalls auf eine biologische Grundlage von Religiosität von Kindesbeinen an und auch unterhalb der bewussten Handlungen verweisen.

    5. Wir haben eine klare, paläoanthropologische Fundlage, wonach religiöses Verhalten (Bestattungen) von Homo Sapiens etwa ab der mittleren Altsteinzeit nachgewiesen ist und von dort eine dynamische Zunahme zur heutigen Formenvielfalt und Vertretung in ausnahmslos allen Menschengesellschaften erfährt.

    6. Neben Homo Sapiens kennen wir religiöse Befunde nur noch von einer weiteren Spezies: Homo Neanderthalensis. Andere Tiere (v.a. Säugetiere) weisen ggf. religionsaffines Verhalten auf (z.B. Trauer um Tote), jedoch noch keine beobachtbaren Bestattungen oder Rituale.

    Nimmt man diese sechs Argumentpfeiler jetzt zusammen, ist m.E. kaum ein anderer logischer Schluss mehr möglich, als dass Religiosität adaptiv war und ist. Und ich möchte behaupten, dass eine vergleichbar starke Befundlage für jedes andere Merkmal auch anerkannt würde – nur im Bezug auf die Religiosität fällt dies manchen aus weltanschaulichen Gründen schwer.

    Am Anfang habe ich entsprechende Ausweichmanöver durchaus noch amüsiert betrachtet, inzwischen fehlt mir teilweise das Verständnis. Denn natürlich kann jede These hinterfragt und überboten werden – dann aber bitte durch eine überprüfbare Gegenthese, die die vorliegenden, empirischen Befunde auch in ihrer Gesamtheit alternativ erklärt!

    Es fällt mir einfach schwer, bemühte Alternativerklärungen a la “Vielleicht ist der Religion-Reproduktion- Zusammenhang heute ja doch irgendwie zufällig, der Aufstieg religiösen Verhaltens irgendwie ein Epiphänomen, das dann auch aus irgendwelchen Gründen konvergent bei Sapiens und Neandertalern auftrat, die psychologischen Experimente besagen vielleicht zufällig etwas anderes und die Fallstudien (Judentum, Amish etc.) sind nur Einzelbeobachtungen” noch ernst zu nehmen – sie ähneln m.E. längst verblüffend mehr fundamentalistischen Abwehrstrategien als seriöser, wissenschaftlicher Argumentation.

    Wie war das doch gleich mit Ockhams Rasiermesser? Wer den ernsthaft anlegt, müßte m.E. doch hier anerkennen, dass die Befundlage hier klar in Richtung Adaptivität weist.

    Natürlich ist noch unendlich viel Detailarbeit zu leisten – und auch durch die Diskussion mit Ihnen erscheint mir z.B. die Annahme einer (typischen) Entwicklung von Epiphänomen zur Exaptation und schließlich Adaption doch recht wahrscheinlich. Weitere empirische Befunde sind zu sammeln, vor allem aber zahlreiche Begriffe vertieft zu klären, bevor wir die Wirkwege religiöser Veranlagungen werden besser beschreiben können. Und genau das wird wohl nur interdisziplinär zu leisten sein!

    Mit herzlichem Dank und Grüßen

    Michael Blume

  162. @ – Michael Blume: Beobachtung zum Slog-Erfolg

    Welche Blogs gehören denn zu den “TOP 10”? Ich würde mir die anderen Diskussionen zur Evolution der Religion bei Gelegenheit gerne einmal ansehen.

  163. @ – Blume: Richard Dawkins

    “Sie schrieben (ganz am Anfang):

    > Was mir an Dawkins’ eigenem Ansatz missfällt, ist, dass die kindliche Leichtgläubigkeit (“Glaube allem, was Deine Eltern Dir sagen!”) lediglich die WEITERGABE, aber nicht die ENTSTEHUNG der Religion erklärt. <

    Dazu nur noch eine Anmerkung. Diese These erklärt nicht einmal die Weitergabe schlüssig. Denn wenn Eltern ihren Kindern mit Religion(en) schädliche Einflüsse weitergeben würden, müsste diese sogar doppelt so schnell evolutiv ausscheiden: denn es wäre ja der genetische Erfolg von Eltern UND Nachkommen (und dann wiederum deren Nachkommen etc.) beeinträchtigt.

    Die These ist (wie einige andere von Dawkins) also nicht evolutions-logisch und auch empirisch unhaltbar. M.E. wird sie fast nur aus polemischen Gründen weitergegeben – und zwar in Populationen fast ohne Kinder…”

    Ich kann Ihnen hier, ehrlich gesagt, nicht ganz folgen. Dawkins meint, es ist adaptiv, dass Kinder ihren Eltern vertrauen und ihnen glauben. Für ein drei-, vier- oder fünfjähriges Kind ist es schließlich überlebenswichtig, dem Rat seiner Eltern zu folgen und sich etwa von einem Fluss, an dem Krokodile lauern, fernzuhalten. Die Aussagen seiner Eltern unhinterfragt anzunehmen, hat aber zur Folge, dass Kinder nicht nur die vernünftigen, sondern auch die unvernünftigen Ansichten ihrer Eltern übernehmen. Wenn Papa sagt, der Mond besteht aus grünem Käse, dann ist der Mond aus grünem Käse. Kurz, ob Religion, Astrologie oder Homöopathie, kleine Kinder kaufen ihren Eltern jeden Käse ab. Solange die Vorteile der kindlichen Leichtgläubigkeit die Nachteile überwiegen, wird sie sich erhalten und auch in Zukunft dazu beitragen, dass Kinder neben vernünftigen Ansichten auch unvernünftige übernehmen werden.

    Da Dawkins die Religion nicht für eine evolutionäre Anpassung, sondern lediglich für ein Nebenprodukt der kindlichen Leichtgläubigkeit hält (deren Inhalte kulturell und nicht genetisch tradiert werden), trifft ihn Ihr Einwand also gar nicht.

  164. @ – Blume: Zur Vorsicht besteht kein Anlass

    Entschuldigen Sie, wenn ich mich hier ungefragt einmische, doch ich denke, was Lars vor Augen hatte, waren nicht konservative vs. liberale Religionsgemeinschaften, sondern konservative vs. liberale Gesellschaftsordnungen. Während sich liberale Demokratien über den gesamten Globus ausbreiten, bleiben restriktive Theokratien auf wenige Regionen beschränkt.

  165. Gesellschaftsordnungen

    Wenn so gemeint, hat Lars natürlich völlig Recht! Denn gerade wenn wir religiöse Vergemeinschaftung als (potentiell) adaptiv erkennen, wird eine Gesellschaft, die Religionsfreiheit (und also Vielfalt und Wettbewerb, auf Dauer sogar einen “religiösen Markt”) fördert, erfolgreicher sein als eine Gesellschaft, in der eine Monopolreligion oder ein Kartell den Wettbewerb erdrücken – und damit auch unweigerlich selbst ihre Adaptivität verlieren und verfallen.

    Historische Beispiele sind z.B. Frankreich und Italien und (derzeit) Griechenland, vor allem aber der Iran, der nach wenigen Jahrzehnten Theokratie als “Land der leeren Moscheen” gilt. Auf der religiös-freiheitlicheren Seite stehen v.a. die USA, teilweise Indien, Großbritannien u.a.

    Entsprechend gehen Gesellschaften mit religiösen Monopolen meist erst durch eine Phase der Säkularisierung und Bevölkerungsimplosion, bevor sie (inkl. religiöser Vielfalt) wieder an auch demografischer Dynamik gewinnen.

  166. Dawkins-Widerspruch

    Sie schrieben:

    “Dawkins meint, es ist adaptiv, dass Kinder ihren Eltern vertrauen und ihnen glauben. Für ein drei-, vier- oder fünfjähriges Kind ist es schließlich überlebenswichtig, dem Rat seiner Eltern zu folgen und sich etwa von einem Fluss, an dem Krokodile lauern, fernzuhalten. Die Aussagen seiner Eltern unhinterfragt anzunehmen, hat aber zur Folge, dass Kinder nicht nur die vernünftigen, sondern auch die unvernünftigen Ansichten ihrer Eltern übernehmen. Wenn Papa sagt, der Mond besteht aus grünem Käse, dann ist der Mond aus grünem Käse. Kurz, ob Religion, Astrologie oder Homöopathie, kleine Kinder kaufen ihren Eltern jeden Käse ab. Solange die Vorteile der kindlichen Leichtgläubigkeit die Nachteile überwiegen, wird sie sich erhalten und auch in Zukunft dazu beitragen, dass Kinder neben vernünftigen Ansichten auch unvernünftige übernehmen werden.”

    Genau das scheint mir nicht schlüssig – denn ausgerechnet Dawkins greift hier zu einem Taschenspielertrick, indem er “Eltern” und “Kinder” als Gruppen (!) einander gegenüberstellt.

    Evolution aber erfolgt über differentiellen Reproduktionserfolg innerhalb der Populationen.

    Um in Ihrem Beispiel zu glauben: die Eltern A, die an “grünen Käse glauben” müssten bereits Ressourcen vergeuden und also weniger Reproduktionserfolg haben als die Eltern B, die sich diesen unnützen Glauben ersparen. Und erfolge dann auch noch jeweils eine Weitergabe der Glaubensinhalte, so würde sich die Wirkung sogar potenzieren: die (wenigeren) Kinder A wären gleich wieder belastet, wogegen die (mehr) Kinder B unbelastet von Glaubensballast gleich noch mehr Kinder hätten.

    Paläoanthropologisch betrachtet müsste nach Dawkins Szenario Religiosität anfangs als maladaptives Epiphänomen auftreten und dann ausgemendelt werden. Das krasse Gegenteil ist aber der Fall: von einfachen Anfängen evolviert religiöses Verhalten in seine heutige Komplexität und Verbreitung. Und geht, da sind wir uns einig, mit deutlich höherem Reproduktionserfolg der religiös vergemeinschafteten Elterngenerationen einher.

    Dawkins Hypothesen sind also m.E. längst religionsdemografisch, religionshistorisch und evolutionslogisch klar falsifiziert und werden nicht wegen ihres empirischen Gehaltes, sondern wegen ihrer weltanschaulichen Aspekte geschätzt. Anders wäre auch die quasi-religiöse Begeisterung vieler “Naturalisten” für die “Memetik” kaum zu erklären, die nun schon seit 30 (!) Jahren definiert ist – aber nie auch nur eine einzige empirische Studie, klare Definition oder Experiment hervorbrachte… Jeden religiösen Fundamentalisten hätte man dafür (zu Recht!) zerpflückt, Dawkins aber spricht eben die Sehnsüchte von Religionskritikern an.

  167. @ – Blume: Noch einmal Richard Dawkins

    Lieber Herr Blume, ich verstehe leider immer noch nicht ganz. Sie würden doch sicher zugeben, dass eine Bereitschaft der Kinder, elterlichen Rat anzunehmen, adaptiv ist, und dies um so mehr, als Eltern für gewöhnlich im Interesse ihrer Kinder handeln. Sie geben ihren Kindern praktische Hinweise, die es ihnen erlauben, zu überleben und sich erfolgreich fortzupflanzen. Neben wertvollen Hinweisen wie “Halte dich von Schlangen fern!” geben sie ihnen jedoch mitunter auch wertlose Ansichten wie “Der Mond besteht aus grünem Käse” weiter. Da die irrige Ansicht, dass der Mond aus grünem Käse bestehe, die Kinder nicht daran hindert, zu überleben und sich erfolgreich fortzuzpflanzen, unterliegt die kindliche Leichtgläubigkeit keiner Kontraselektion. Dies ist doch eine konsistente evolutionsbiologische Überlegung, oder nicht? Oder wollen Sie behaupten, dass Kinder, die glauben, dass der Mond aus grünem Käse bestehe, weniger Kinder zeugen werden, und dass es maladaptiv sei, falsche Ansichten über das Universum zu haben?

  168. Knackpunkt

    > Da die irrige Ansicht, dass der Mond aus grünem Käse bestehe, die Kinder nicht daran hindert, zu überleben und sich erfolgreich fortzuzpflanzen, unterliegt die kindliche Leichtgläubigkeit keiner Kontraselektion. <

    Genau das ist m.E. der Knackpunkt. Wenn es nur um letztlich kostenneutrale Mythologien geht, können wir das natürlich problemlos als Epiphänomen betrachten.

    Aber Dawkins spricht ja von Religion per se, also auch von das Verhalten beeinflußenden und sehr kostspieligen Mythen, Geboten etc. Es wäre mir zumindest neu, dass sich Dawkins nur auf die “harmlosen” Mythologien beziehen würde…

    Und da gilt natürlich ganz klar: wer sich selbst (nur) Schädliches auferlegt und es auch noch seinen Kindern weitergibt, wird zugunsten derer ausgemendelt werden, die das nicht tun. Was sehr genau den historischen und empirischen Befunden widerspricht! (-:

  169. Hedonisten legen sich keine Steine in den Weg

    Ich habe für mich selbst immer solche Gemeinschaften wie die Amish als solche charakterisiert, die sich bewußt Steine in den Weg legen im alltäglichen Leben oder es bewußt vermeiden, solche Steine wegzulegen.

    Warum könnte das adaptiv sein?

    Interessanterweise hatten auch die ungeheuer schwer arbeitenden deutschen Rodungsbauern in den wolhynischen Sümpfen des 19. Jahrhunderts – vom russischen Zaren gerufen – eine auch zu jenen Zeiten ungewöhnlich hohe Kinderzahl. Zudem waren sie zumeist betont religiös.

    Altruismus per se erfordert meistens, den inneren “alten Adam” zu überwinden. Der Mensch möchte von Natur her es lieber bequem haben. Und wenn er sich psychologisch darauf einstellt, daß er es bequem hat (wir hedonistischen, verwöhnten Wohlstands-Kinder eben), dann fällt ihm der ganze Streß mit den Kindern von morgens bis abends WIRKLICH schwer. Er ist nicht mehr selbstverständlich. In welchen Lebensbereichen tut man sich denn heutzutage sonst noch solch einen Streß an? (Ich glaube, ich weiß so ein bischen, wovon ich rede … Und hoffentlich auch so mancher Leser.)

    Mir kommt es geradezu selbstverständlich vor, daß Kulturen und Gesellschaften, die es ganz bewußt pflegen, sich “Steine in den Weg zu legen” (und natürlich dennoch von Kindheit an darüber zu steigen), daß es denen viel leichter fällt, diesen Altruismus zu leben, der kinderreiche Familie nun mal bedeutet.

    Und STABILISIERT und GERECHTFERTIGT wird eben dieses “sich Steine in den Weg Legen” durch entsprechende religiöse oder weltanschauliche “Gerüste”, “Begründungen”. Ich meine, daß man auch von einem rein atheistischen Standpunkt her begründen könnte, warum man sich Steine in den Weg legen sollte. Der Marxismus hat genau das auch getan. Allerdings hat der Marxismus vieles tief Menschliche falsch gedeutet (z.B. das Streben nach Privateigentum und freier Wirtschaft etc. pp.). Hätte er das NICHT getan und zugleich ein solches glorreiches Menschheitsziel aufgestellt, wie er es eben getan hat, ich glaube Menschen wären auch jetzt noch so opferfreudig wie vor vielen Jahrzehnten für den Marxismus. Sie würden sich ihm gegenüber wie gegenüber einer Religion verhalten.

    Dazu müßte aber dann tatsächlich Familie im Mittelpunkt dieser Ideologie stehen und die Hochwertung derselben. Das war beim Marxismus in der Weise auch nicht der Fall.

  170. Lebensfreude = Religiosität

    … Und ich glaube, es ist dann in einer solchen quasi “gut-marxistischen” Gesellschaft die Lebensfreude, die sich einstellt, wenn ein ideologisches Gerüst die evolutionär-emotional vorhandenen Grundbedürfnisse des Menschen RICHTIG deutet, die dann bewirkt, daß die Menschen, die von einer solchen erfüllt sind, dieselbe dann sogleich auch als “quasi-religiös” empfinden.

    Ein Mensch, der begeistert ist von dem Leben hier auf dieser Erde und in dieser seiner Gesellschaft, für den kann sehr vieles sehr schnell und plötzlich sehr, sehr wertvoll werden und damit quasi-religiöse Bedeutung bekommen. Er freut sich der Blumen, der Sonne und des Meeres und ist von einem tiefen Gefühl dessen erfüllt, das er als nicht so ganz “von dieser Welt” kommend empfindet.

    So wird die menschliche Religiosität vor 200.000 Jahren auch das erste mal entstanden sein. Und erst später hat man ihr Namen gegeben und Geschichten um sie herum erfunden, als Menschen immer seltener von tiefer Lebensfreude erfüllt waren und sie sie wieder suchten, indem sie sich eben an diese gegenseitig erinnerten über das Geschichten-Erzählen, das Ausüben von Ritualen, das Schaffen von Kunst etc. pp..

  171. @ – Blume: Und noch einmal Dawkins

    Sie schrieben: “Wer sich selbst Schädliches auferlegt und es auch noch seinen Kindern weitergibt, wird zugunsten derer ausgemendelt werden, die das nicht tun.”

    Das ist richtig. Und auch Dawkins würde dem selbstverständlich zustimmen. Doch wir sprechen ja nicht davon, dass Eltern ihren Kindern Schaden zufügen, sondern dass Eltern ihren Kindern mitunter Unsinn beibringen. Das Beispiel, das er selbst benutzt, ist von Pascal Boyer entlehnt, und zwar die Geschichte von den Fang, die behaupten, Zauberer auf Bananenblättern über ihr Dorf fliegen gesehen zu haben, die mit vergifteten Pfeilen auf ahnungslose Opfer schießen. An Zauberer, Hexen oder Feen zu glauben, ist nicht schädlich, es ist lediglich unsinnig.
    Und solange der Unsinn, den etwa die Religion, die Astrologie oder die Homöopathie lehren, nicht zu fitnessminimierendem Verhalten führen, kann er nicht “ausgemendelt” werden.

  172. @ – Blume: Und noch einmal Dawkins

    Ich will natürlich auch noch etwas zu Ihren “Sechs Säulen” sagen, möchte aber vorher zunächst noch gern die Diskussion zu Dawkins zu Ende bringen.

    Wie erwähnt, halte ich Dawkins’ Hypothese, dass die Religion ein Nebenprodukt der kindlichen Leichtgläubigkeit ist, für durchaus plausibel. Wenn Kinder einem genetischen Programm wie “Hör’ auf deine Eltern!” folgen, werden sie vernünftige Ratschläge, mitunter aber auch vollkommen unvernünftige Ansichten übernehmen.

    Mein einziger Einwand gegen Dawkins ist, dass seine Hypothese zwar erklärt, wie sich Nonsens am Leben halten kann und von einer Generation zur nächsten gelangt, nicht aber, wie der Nonsens selbst in die Welt gekommen ist. Um zu erklären, wie der Nonsens selbst entstanden ist, sind wir meines Erachtens darauf angewiesen, auf unser kausales, teleologisches und empathischen Denken zu rekurrieren.

    Dass Sie Dawkins’ Hypothese gar nichts abgewinnen können, liegt womöglich daran, dass Sie ihn missverstehen. Dawkins ist nicht der Ansicht, dass Religionen schädlich sind. Er ist lediglich der Ansicht, dass Religionen unsinnig sind. In seinen Augen haben Menschen, die an den lieben Gott, die Seelenwanderung, die Macht der Sterne oder den heilenden Einfluss von Bachblüten glauben, keinerlei Nachteile. Sie vertreten nur Ansichten, die sich nicht vernünftig rechtfertigen lassen. Wie etwa seine neue Dokumentation “The Enemies of Reason” zeigt, hat er sich ja nicht nur dem Kampf gegen den Glauben, sondern auch dem Kampf gegen den Aberglauben verschrieben. Ihn interessiert nicht, was nützlich oder schädlich ist, sondern einzig und allein, was wahr und was falsch ist.

  173. Naja…

    > > Dawkins ist nicht der Ansicht, dass Religionen schädlich sind. Er (Dawkins) ist lediglich der Ansicht, dass Religionen unsinnig sind. In seinen Augen haben Menschen, die an den lieben Gott, die Seelenwanderung, die Macht der Sterne oder den heilenden Einfluss von Bachblüten glauben, keinerlei Nachteile. Sie (die Religiösen) vertreten nur Ansichten, die sich nicht vernünftig rechtfertigen lassen. Wie etwa seine neue Dokumentation “The Enemies of Reason” zeigt, hat er sich ja nicht nur dem Kampf gegen den Glauben, sondern auch dem Kampf gegen den Aberglauben verschrieben. Ihn interessiert nicht, was nützlich oder schädlich ist, sondern einzig und allein, was wahr und was falsch ist. <

    Dann lesen Sie Dawkins also nicht primär als Naturwissenschaftler, sondern als Philosophen, der nicht empirische Sachverhalte klären, sondern letzte “Wahrheiten” klären will. Gerade aus evolutionsbiologischer Sicht wenig überzeugend finde ich z.B. schon die Annahme, dass Vernunft (Definition!?) der Standard sein soll, an dem sich Lebensäußerungen messen lassen müssen. Ist z.B. Liebe “vernünftig”? Kunst, Musik? Da halte ich es doch lieber z.B. mit E.O. Wilson:

    “Das Gehirn existiert, weil es Überleben und Vervielfältigung der Gene fördert, die seine Zusammensetzung bestimmen. Der menschliche Geist ist ein Mittel für Überleben und Reproduktion, und Vernunft ist nur eine seiner vielfältigen Techniken.” (On human nature, 1978)

    Damit wir uns aber nicht mißverstehen: ich halte Dawkins für eine sehr anregende und lohnende Lektüre und habe auch sein neuestes Buch ausdrücklich empfohlen: http://religionswissenschaft.twoday.net/…224726/

    Dort rühme ich übrigens auch ausdrücklich das geniale Fang-Beispiel von Boyer, den ich sehr schätze und ja auch hier in die Debatte eingeführt habe. Und dass Religiosität als Epiphänomen gestartet sein könnte (und nicht wenige Mythologien auch heute noch kostenneutral dahinrauschen) – darüber sind wir uns m.E. auch einig.

    Also: Dawkins hat sowohl für die Biologie wie für die Philosophie anregende Debatten angestossen und ist immer wieder ein Lesegenuss. Nur vermischt er die naturwissenschaftliche Beschreibungs- und metaphysische Wertungsebene bewusst und teilweise irreführend. Empirisch sind seine Thesen schlichtweg gescheitert, kaum ein Evolutionsbiologe arbeitet noch ernsthaft mit “Memen”. Die “Brights”-Anhängerschaft wird hier im Glauben (!) gehalten, Naturwissenschaft zu betreiben, wo letztlich nur Metaphysik geboten wird. Abgesehen von grenzwertigen Äußerungen etwa zu Menschenzucht, jüdischer Lobby etc. finde ich das an Dawkins besonders schade.

  174. @ – Blume: Naja

    “Das Gehirn existiert, weil es Überleben und Vervielfältigung der Gene fördert, die seine Zusammensetzung bestimmen. Der menschliche Geist ist ein Mittel für Überleben und Reproduktion, und Vernunft ist nur eine seiner vielfältigen Techniken.” (On human nature, 1978)

    In diesem Punkt sind sich alle Evolutionsbiologen – einschließlich Dawkins! – vollkommen einig. Doch ganz gleich, zu welchem Zweck unser Gehirn entstanden sein mag, wenn wir es in der Wissenschaft verwenden, dann um die Wahrheit zu entdecken (oder ihr doch wenigstens so nah wie möglich zu kommen). Und um dies zu tun, bedarf es selbstverständlich bestimmter Kriterien wie der inneren und äußeren Widerspruchsfreiheit. Wenn nicht die Vernunft, welches Kriterium wollen Sie dann anlegen?

    Der Verweis auf die “Liebe” ist ein sehr beliebter theologischer Taschenspielertrick. Da man nicht beweisen könne, geliebt zu werden, seien wir letztlich alle auf “Glaube” und “Vertrauen” angewiesen. Das ist jedoch schlichtweg Nonsens!

    Wie auch immer, all das geht am eigentlichen Punkt vorbei. Der Punkt war: Warum ist Dawkins’ Hypothese, dass die Weitergabe religiöser und anderer obskurer Annahmen ein Beiprodukt der kindlichen Leichtgläubigkeit ist, falsch? Falsche Ansichten zu haben, ist nicht maladaptiv. Solange sich Menschen mit falschen Ansichten ebenso erfolgreich fortpflanzen wie andere, werden sie nicht ausgemendelt, selbst wenn ihre falschen Ansichten zu einem Höchtsmaß an Verschwendung von Zeit und Energie führen.

  175. Wahrheit

    > Doch ganz gleich, zu welchem Zweck unser Gehirn entstanden sein mag, wenn wir es in der Wissenschaft verwenden, dann um die Wahrheit zu entdecken (oder ihr doch wenigstens so nah wie möglich zu kommen). Und um dies zu tun, bedarf es selbstverständlich bestimmter Kriterien wie der inneren und äußeren Widerspruchsfreiheit. Wenn nicht die Vernunft, welches Kriterium wollen Sie dann anlegen? Der Verweis auf die “Liebe” ist ein sehr beliebter theologischer Taschenspielertrick. Da man nicht beweisen könne, geliebt zu werden, seien wir letztlich alle auf “Glaube” und “Vertrauen” angewiesen. Falsche Ansichten zu haben, ist nicht maladaptiv. Solange sich Menschen mit falschen Ansichten ebenso erfolgreich fortpflanzen wie andere, werden sie nicht ausgemendelt, selbst wenn ihre falschen Ansichten zu einem Höchtsmaß an Verschwendung von Zeit und Energie führen. <

    Da bin ich völlig Ihrer Meinung!

    Allerdings kann man eine evolutiv insgesamt erfolgreiche Veranlagung (wie die Religiosität) wohl kaum generell als “Geisteskrankheit” abwerten. Genau das aber tut Dawkins und erweckt damit mindestens den Anschein der Maladaptivität. Und argumentiert damit als Wissenschaftler weder rational noch widerspruchsfrei…

  176. Ärgerlich…

    Beim letzten Posting wurde ein Großteil ausgeschnitten, wahrscheinlich wegen der Klammern…

    Naja, also wenigstens nochmal die Hauptargumente:

    Wissenschaft zeichnet sich durch ihre Offenheit für Falsifizierungen aus, kann also keine absoluten Wahrheiten verkünden.

    Vernunft ist das Kriterium von Wissenschaft, aber nicht allen Seins. Wenn Sie mich nach dem absoluten Kriterium befragen, sage ich mit Friedrich August von Hayek: Leben!

    Und mit der Evolutionstheorie des Lebens wissen wir, dass dieses Leben zur Entfaltung Freiheit benötigt.

    Rationalismen landen dagegen immer wieder im Totalitären, da sie ja behaupten, besser als das (andere) Leben zu wissen, wie zu handeln wäre. Die “Anmaßung von Wissen” (Nobelpreisrede des großen Liberalen von Hayek) ist daher die Gefahr eines verabsolutierten Rationalismus.

    Und zur Liebe: Wir haben weder über Beweisbarkeit noch über Theologie gesprochen, sondern über biologischen Erfolg.

    Und “Liebe” war biologisch erfolgreich, lange bevor “Vernunft” definiert war – wobei eigentlich noch nicht einmal das abschließend gelungen ist – oder kennen Sie eine unangefochtene Definition von Vernunft? Und “Liebe” ist ebenso wie “Glaube” auch heute noch durchschnittlich biologisch erfolgreicher (d.h. lebensförderlicher!) als nur reine, kalte Ratio.

    Im Idealfall durchdringen sich Liebe, Glaube usw. mit Vernunft. Aber für totalitäre Experimente, in denen eine Kaste unter einem der o.g. Begriffe absolute Wahrheitsansprüche erhebt, hatten wir m.E. doch schon wirklich genug!

  177. @ – Blume

    Lieber Herr Blume, ich wollte eigentlich nur wissen, was an Dawkins’ Hypothese, dass religiöse wie auch andere obskure Annahmen ein Nebenprodukt der kindlichen Leichtgläubigkeit sind, falsch sein soll. Möglicherweise ist dies nicht die ganze Wahrheit, doch ich sehe nicht, dass seine Hypothese evolutionsbiologisch unplausibel, geschweige denn inkonsistent ist.

  178. Nicht falsch…

    “Möglicherweise ist dies nicht die ganze Wahrheit, doch ich sehe nicht, dass seine Hypothese evolutionsbiologisch unplausibel, geschweige denn inkonsistent ist.”

    Die Hypothese eines “maladaptiven” Epiphänomens ist evolutionsbiologisch unplausibel und inkonsistent. Und die Behauptung von Maladaptivität wird durch Begriffe wie “Geisteskrankheit” klar nahegelegt.

    Zumindest sind “Brights” immer wieder ganz verstört, wenn sie mit den reproduktiven Daten konfrontiert sind. Denn dass Religion auch adaptiv sein könnte, legt der dawkinsche Sprachgebrauch zumindest nicht nahe. Und seine “Meme” erscheinen mir komplett falsifiziert.

    Aber vielleicht können wir uns ja einigen: Religiosität dürfte, wie wir schon diskutiert haben, durchaus (auch) als Epiphänomen von Eltern-Kind-Beziehungen entstanden sein. Während aber maladaptive Mythologien immer wieder ausgesiebt werden und fitnessneutrale Überlieferungen mitrauschen, haben adaptive Mythologien auch heute noch empirisch beobachtbaren, biologischen Erfolg.

  179. @ – Blume: Religion als Geisteskrankheit

    Sie schrieben:

    “Allerdings kann man eine evolutiv insgesamt erfolgreiche Veranlagung (wie die Religiosität) wohl kaum generell als “Geisteskrankheit” abwerten. Genau das aber tut Dawkins und erweckt damit mindestens den Anschein der Maladaptivität.”

    Die Religion als eine “Geisteskrankheit” zu bezeichen, mag polemisch erscheinen, da sie die Gefühle vieler Menschen verletzt. Dennoch ist es nicht ungerechtfertigt, den Glauben an nicht-existente Wesen wie Geister, Hexen oder Zauberer auf diese Weise zu definieren. Selbst religiöse Menschen betrachten ja die Mitglieder anderer Religionen als “delusional”, wie Pascal Boyer in seinem Beispiel von den Fang sehr schön illustriert hat: Ein britischer Geistlicher, dem er von der Religion der Fang berichtete, betrachtete sie buchstäblich als “Blödsinn”.

  180. @ Michael – Religion und Gesellschaftsform

    Das ist ein guter Punkt, den du da aufbringst. Wir haben ja im Seminar gesehen (im Indianer-Vortrag), dass Religion und Gesellschaftsform oft sehr stark verflochten sind, was ja durchaus dem biologischen “Sinn” (flapsig gesprochen) von Religion entspricht.

    Du hattest aber ausgeführt, dass du von der Idee der Gruppenselektion im Religionskontext nicht viel hältst.

    Um jetzt einfach mal ein sehr simples Erklärungsmodell in den Ring zu werfen: Kann das nicht einfach eine Frage der Bevölkerungsdichte sein?

    Das würde bedeuten, dass die Funktion (bzw. Wirkung) von Religion heutzutage eine andere ist als die, weswegen sie ursprünglich entstanden ist.

    Das würde zum Beispiel auch ein paar Probleme und Widersprüche bei der Sache mit der Gretchenfrage auflösen. Ich hab mir darüber nochmal ein paar Gedanken gemacht, das ist alles nicht ganz so einfach wie ich zuerst vermutet hatte.

  181. @ – Blume: Vielleicht ein letztes Mal Dawkins

    Sie schrieben: “Die Hypothese eines ‘maladaptiven’ Epiphänomens ist evolutionsbiologisch unplausibel und inkonsistent. Und die Behauptung von Maladaptivität wird durch Begriffe wie ‘Geisteskrankheit’ klar nahegelegt.”

    Dawkins hält die Religion nicht für ein “maladaptives Epiphänomen”. Auch wenn er religiöse Vorstellungen als einen “Wahn” (delusion) bezeichnet, will er damit keineswegs nahelegen, dass Religionen “krankhaft” seien, in irgendeiner Weise “krank machen”, geschweige denn, Menschen daran hindern, sich erfolgreich fortzupflanzen.

    Wie er bereits im Vorwort seines Buches sagt, meint er mit einem “Wahn” lediglich einen “falschen Glauben” oder eine “Vorstellung, die trotz starker entgegengesetzter Belege aufrechterhalten wird” (S. 17f).

    So verstanden, werden selbst Sie sagen müssen, dass die meisten Religionen auf einem “Wahn” beruhen, denn als Christ gehen Sie impizit davon aus, dass alle Religionen, die dem Christentum widersprechen, auf “falschen Vorstellungen” beruhen.

  182. @ – Blume: Liebe & Vernunft

    Sie schrieben: “Und zur Liebe: Wir haben weder über Beweisbarkeit noch über Theologie gesprochen, sondern über biologischen Erfolg.”

    Nun, die Wahrheit ist, dass Sie die Liebe in die Diskussion brachten, als Sie fragten: “Ist z.B. Liebe ‘vernünftig’?”, womit Sie offenbar zum Ausdruck bringen wollten, dass wir keineswegs immer nur “vernünftig” handeln.

    Wenn wir von “Vernunft” sprechen, müssen wir zwischen “theoretischer Vernunft” und “praktischer Vernunft” unterscheiden. Die Frage, ob es vernünftig oder unvernünftig ist, jemanden zu lieben, ist eine Frage der praktischen Vernunft. Die Frage, ob es vernünftig oder unvernünftig ist, anzunehmen, dass man von jemandem geliebt wird, ist dagegen eine Frage der theoretischen Vernunft.

    Praktische Vernunft wird gewöhnlich instrumentell verstanden. Wer x will, sollte vernünftigerweise y tun: “Wenn Du Dir wünschst, auch weiterhin gesunde Zähne zu haben, solltest Du regelmäßig zur zahnärztlichen Kontrolle gehen.”

    Wenn sich Theologen des besagten Taschenspielertricks mit der Liebe bedienen, beziehen sie sich auf die theoretische Vernunft. So erklärte Bischof Huber unlängst etwa Dawkins, dass es neben Fragen des Wissens auch Fragen des Glaubens gebe. Da er nicht beweisen könne, dass seine Frau ihn wirklich liebe, habe er keine andere Wahl, als zu “glauben”. Aber dies ist natürlich unsinnig, schließlich gründet sich seine Überzeugung, von seiner Frau geliebt zu werden, auf Indizien, die es durchaus plausibel erscheinen lassen, dass sie ihn liebt.

  183. @ Dahl – Beispiel

    “Ein britischer Geistlicher, dem er von der Religion der Fang berichtete, betrachtete sie buchstäblich als “Blödsinn”.”

    Ich hoffe, Sie verlangen jetzt nicht von mir, das Niveau dieses Geistlichen gut zu heißen – selbst wenn sich Dawkins letztlich auf die gleiche Stufe wie dieser Theologe begeben hat. (-;

    Polemik mag eine Stilfrage sein. Aber die Begriffe “Krankheit” oder “Wahn” implizieren eine Maladaptivität (oder sehe ich das falsch, @Herr Kittel?) – und genau die ist eben falsifiziert.

    Einigungsvorschlag: Lassen wir britische Geistliche und Zoologen über je andere oder alle Glaubensweisen polemisieren – wir brauchen das ja nicht nachzumachen, oder!?

  184. @ Fischer: Bevölkerungsdichte

    “Um jetzt einfach mal ein sehr simples Erklärungsmodell in den Ring zu werfen: Kann das nicht einfach eine Frage der Bevölkerungsdichte sein?”

    Ja, dahin deuten die Daten! So kommen Hochgottvorstellungen in dichten Populationen häufiger auf und gewinnen an Verbindlichkeit.

    Für Kleingruppen mag der Bezug auf gemeinsame Ahnen ausreichen, mit zunehmender Verflechtung scheinen die übernatürlichen Akteure abstrakter zu werden (auch in den Indianermythen erkennbar – erinnere Dich an die beiden männlichen Urahnen, die von der noch mysteriöseren “Schlangenfrau” gelehrt (bzw. in einem Fall bestraft) wurden!).

    Zur Gretchenfrage ein Angebot: sobald das Buch abgegeben ist, machen wir dazu einfach einen eigenen Abgefischt-Blogbeitrag und diskutieren das Thema in die Tiefe! Denn “einfach” ist es natürlich, da gebe ich Dir Recht, nicht – aber das macht uns doch keine Angst, oder!? (-;

    Herzliche Grüße!

    Michael

  185. @ Dahl: Dawkins

    Mit Dawkins Bezeichnung “Delusion” habe ich gar nicht das Problem. “Mind diseases” und “Virus of Faith”, wie er Religion(en) z.B. im “Selfish Gene” und in “Viruses of the Mind” bezeichnet sind das terminologische Problem.

    Interessant (und wir haben ja einen Psychologen in unserer Runde, der dazu ggf. etwas sagen kann) finde ich aber auch folgenden Satz:

    To describe religions as mind viruses is sometimes interpreted as contemptuous or even hostile. It is both. I am often asked why I am so hostile to organized religion.
    — Richard Dawkins, The Devil’s Chaplain (2004)

    Wie war das doch gleich – mit rein rationaler Wissenschaft? (-;

  186. @ Dahl: Praktische Vernunft

    Lieber Herr Dahl,

    danke für Ihre Umschreibung praktischer Vernunft.

    “Praktische Vernunft wird gewöhnlich instrumentell verstanden. Wer x will, sollte vernünftigerweise y tun: “Wenn Du Dir wünschst, auch weiterhin gesunde Zähne zu haben, solltest Du regelmäßig zur zahnärztlichen Kontrolle gehen.””

    Nun bin ich aber ein wenig erschrocken. Nachdem wir uns ja über den empirisch nachweisbaren, reproduktiven Erfolg religiöser Vergemeinschaftung einig sind, müßte eine Folge der praktischen Vernunft also lauten:

    “Wenn Du Dir wünscht, Deine darwinsche Fitness zu maximieren bzw. eine stabile Familie und viele Kinder und Enkel zu haben, solltest Du Dich einer bewährten Religionsgemeinschaft anschließen.”

    Weia…

  187. Religion, Bevölkerungsdichte, Bestrafung von 3. Seite

    zu Michael und Lars:

    Gute Gedanken! Das Mißtrauen ist in großen Gesellschaften viel größer, weshalb “Third-party-punishment” in ihnen viel stärker ausgeprägt ist (siehe “More ‘altruistic’ punishment in larger societies” von Frank W. Marlowe und J. Colette Berbesque in “Proc. R. Soc. B.”, diesen Monat)

    Ist es nicht sehr einfach, das mit einem belohnenden und strafenden Gott in Zusammenhang zu bringen? Stellt er nicht auch eine “Third-party-punishment”-Instanz dar???

    Insofern wäre eine persönliche, sehr rationale Vorstellung eines Gottes, der belohnen oder bestrafen kann, entstanden, weil sich die Menschen ohne ihn nicht so gut gegenseitig kontrollieren können.

    Überhaupt ist ja das Mißtrauen in Third-party-punishment-Zusammenhängen ein hochgradig rationales, während man Vertrauen, “lockerere” Großzügigkeit eher mit weniger Rationalität in Zusammenhang bringt.

    Was aber jetzt, wenn viele Menschen nicht mehr an einen “dritten Bestrafer” oben im Himmel glauben und sich die Egoismen deshalb in modernen Gesellschaften ausdehnen?

    Wie werden dann neues Vertrauen und höhere Altruismus-Raten sichergestellt in familiären und überfamiliären Zusammenhängen? Vielleicht dadurch, daß allgemein anerkannt wird – und zwar im GEGENSATZ zu Materialismus und Atheismus – daß philosophisch anerkannt wird, daß die Ratio nur einen sehr engen Bereich verwaltet.

    Ratio, übrigens, Michael, “Vernunft” würde ich schlicht alles das nennen, was auf naturwissenschaftlichem Gebiet “beweisbar” ist, also alles was meßbar ist, in Raum und Zeit eingeordnet ist, und wozu ich prinzipiell exakt abgegrenzte Kausalitäten nennen kann. Die Mathematik selbst kann da oft noch weiter rational vorgehen, OHNE daß ich mir davon dann noch eine Anschauung (im Sinne Kants) machen kann. Echte Erkenntnis ist aber nach Kant Übereinstimmung von Vorstellung (Begriff) + Anschauung. „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind,“ sagt Kant.

    Siehe hier:

    http://de.wikipedia.org/…tik_der_reinen_Vernunft

    oder hier:

    http://www.textlog.de/31941.html

    Wir wissen aus der modernen Physik, daß allein schon das naturwissenschaftlich Erforschbare Phänomene kennt, die von dieser naturwissenschaftlichen Vernunft nicht vollständig erfaßbar sind (wir können uns davon keine Anschauung bilden, obwohl wir Begriffe, mathematische Gleichungen davon haben).

    Und darin, glaube ich, könnte die Stärke für eine künftige gesellschaftliche Übereinkunft hinsichtlich von Religiosität liegen.

    Ein Blitz erscheint uns heute nicht mehr “irrational”. Ein großer Teil des Aberglaubens der früheren Religionen kann klar unterschieden werden von Bereichen, die DENNOCH auch mit naturwissenschaftlicher Vernunft nicht vollständig rational durchdringbar bleiben.

  188. @ – Blume: Das Beispiel der Fang

    Sie schrieben: “Ich hoffe, Sie verlangen jetzt nicht von mir, das Niveau dieses Geistlichen gut zu heißen?”

    Nein, ich verlange nicht von Ihnen, alle anderen Religionen als “Blödsinn” zu bezeichnen. Aber ich erwarte von Ihnen, ehrlich genug zu sein, um zuzugeben, dass Sie alle Religionen, die Ihrer eigenen widersprechen, als auf “falschen Vorstellungen” gegründet betrachten!

  189. @ – Blume: Wahn & Maladaptivität

    Sie schrieben: “Begriffe wie ‘Wahn’ implizieren eine Maladaptivität.”

    Tut mir leid, aber ich kann nicht mehr tun, als Ihnen die Definition von “Wahn” geben, die Dawkins seinem Buch zugrundelegt; und die besagt, wie erwähnt, dass ein Wahn in “falschen Vorstellungen” besteht.

    Sie müssen den Sprachgebrauch nicht teilen, aber Sie müssen zugeben, dass auch Ihrer Ansicht nach nahezu alle Religionen auf “falschen Vorstellungen” beruhen.

    Dass irgendeine Religion – und sei sie noch so abstrus – “maladaptiv” sei, behauptet Dawkins mit keiner Silbe.

  190. @ – Blume: Respekt vor der Religion

    Dawkins macht sicher keinen Hehl daraus, dass er vor Religionen keinen Respekt hat. Aber warum sollte er auch?

    In meinen Augen verwechseln viele Menschen zwei Dinge: Daraus, dass wir das Recht auf Religionsfreiheit respektieren müssen, leiten sie ab, dass wir auch die Glaubensinhalte der Religionen respektieren müssen. Doch dies ist falsch!

    Jeder Mensch hat das Recht, seine eigene Religion zu wählen und darf weder vom Staat noch von der Kirche daran gehindert werden.

    Dieses Recht auf Religionsfreiheit hat jedoch enge Grenzen. Wenn die Ausübung einer Religion die Rechte anderer verletzt oder gegen die Verfassung verstößt, darf sie mit staatlicher Gewalt beschnitten werden.

    Das Recht auf Religionsfreiheit verbietet Dritten, einen Menschen an der Ausübung seiner Religion zu hindern; es gebietet ihnen aber nicht, auch die Inhalte seiner Religion zu respektieren. Jedem Menschen steht es frei, die Religionen anderer zu kritisieren, ja sogar zu verachten und sich über sie lustig zu machen. Niemand kann Sie beispielsweise daran hindern, die Verunglimpfung Homosexueller durch evangelikale Fundamentalisten oder die Behandlung der Witwen durch konservative Hindus zu kritisieren.

    Der Respekt, der Religionen von manchen Menschen entgegengebracht und mitunter sogar von ihnen eingefordert wird, ist vollkommen deplaziert. Nur weil die Menschenopfer der Azteken oder der Pawnee Teil ihrer Religion waren, müssen wir sie nicht respektieren.

  191. @ – Blume: “Viruses of the Mind”

    Sie schrieben: “Mit Dawkins Bezeichnung ‘Delusion’ habe ich gar nicht das Problem. ‘Mind diseases’ und ‘Virus of Faith’, wie er Religion(en) z.B. im ‘Selfish Gene’ und in ‘Viruses of the Mind’ bezeichnet sind das terminologische Problem.”

    Ich denke, wir sollten uns nicht dümmer anstellen, als wir wirklich sind. Wenn Dawkins davon spricht, dass Religionen wie Viren seien, die sich des menschlichen Geistes bemächtigen, meint er nicht, dass sie Krankheiten sind, die unsere Überlebensfähigkeit oder unsere Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen. Sind wir uns darin einig?

    Wenn Dawkins sich der Metapher der Viren bedient und damit unverhohlen seine Verachtung gegenüber den Religionen zum Ausdruck bringt, hat das – und das wissen Sie genauso gut wie ich – zwei ganz klare Gründe. In Dawkins Augen sind die Glaubensinhalte der Religionen falsch und haben viel Unheil über die Menschheit gebracht.

  192. @ – Blume: Relion und praktische Vernunft

    Sie schrieben:

    “Nun bin ich aber ein wenig erschrocken. Nachdem wir uns ja über den empirisch nachweisbaren, reproduktiven Erfolg religiöser Vergemeinschaftung einig sind, müßte eine Folge der praktischen Vernunft also lauten:

    ‘Wenn Du Dir wünscht, Deine darwinsche Fitness zu maximieren bzw. eine stabile Familie und viele Kinder und Enkel zu haben, solltest Du Dich einer bewährten Religionsgemeinschaft anschließen.’

    Weia…”

    Ich fürchte, hier sind Sie ein wenig voreilig! Als ich schrieb, dass Religionen mit einem größeren Fortpflanzungserfolg einhergehen, habe ich lediglich zugestanden, dass es eine nachweisbare Korrelation von Religion und Kinderreichtum gibt. Dass es auch eine kausale Verbindung gibt, bezweifele ich nach wie vor. Es ist nicht der Glaube an Gott, die Dreieinigkeit oder die Auferstehung Jesu, die Christen zu mehr Kindern verhilft, sondern die Befolgung von pronatalistischen Geboten. Pronatalistische Gebote sind jedoch nichts spezifisch Religiöses. Hitlers Familienpolitik war bekanntlich pronatalistisch, doch das macht sie weder “religiös”, geschweige denn “adaptiv”.

    Ich gehe auf diesen Punkt später noch einmal näher ein, wenn ich auf Ihre “Sechs Säulen” zu sprechen komme.

  193. @ – Blume: “Die sechs Säulen”

    Die “sechs Säulen” sind in der Tat sechs Indizien , doch sie sind keineswegs tragfähig genug, um die Hypothese von der Adaptivität der Religiosität zu tragen.

    Lassen Sie mich auf jede Säule einzeln eingehen (so dass ich nicht allzuviel vom alles entscheidenden Handballspiel zwischen Deutschland und Schweden verpasse).

    Was die erste Säule anbelangt, hatten wir bereits festgestellt, dass die bloße Heredität eines Merkmals nicht seine Adaptivität beweist (siehe Neurotizität, Depressivität oder Suizidalität).

  194. Kein deutsches Forum…

    …ohne dass es irgendwann zu Hitlervergleichen kommt…

    Sie schrieben:

    “Hitlers Familienpolitik war bekanntlich pronatalistisch, doch das macht sie weder “religiös”, geschweige denn “adaptiv”.”

    Und sie war vor allem auch nicht dauerhaft reproduktiv erfolgreich. Am Schluss hatten z.B. sogar die SS-Kader durchschnittlich nur noch 1,4 Kinder. Deswegen auch Himmlers Lebensborn-Projekte. Also, auch hier keine demografische Konkurrenz zu den gewachsenen Weltreligionen. Was sollte also dieses “Argument”?

    Lieber Herr Dahl, keine einzige säkulare Gemeinschaft hat auch nur drei Generationen lang auch nur annähernd soviel Reproduktionserfolg wie z.B. Amish oder orthodoxe Juden seit Jahrhunderten. Auch weltweit haben wir bislang keine einzige gefunden, keine. Denn, siehe auch Ingo Bading, nur religiöse Gemeinschaften können pronatale Gebote übernatürlich begründen und mit Lohn- und Strafandrohungen durch allwissende Akteure versehen.

    Der Zusammenhang ist damit sehr viel stärker als der von Ihnen angeführte Zahngesundheit-Zahnarztbesuch, der als Ihr Paradebeispiel für praktische Vernunft galt.

    Interessant, dass nun aber auch Sie einen empirisch eindeutigen Zusammenhang abzuwehren versuchen, weil er Ihrer Weltanschauung widerspricht – ganz genau so, wie sich eben auch viele Religiöse immer wieder gegen naturwissenschaftliche Erkenntnisse sperr(t)en.

    Und insofern dies Handlungsanweisungen beträge, gäbe ich Ihnen sogar Recht: Verabsolutierte Rationalität wird zum Stahlgehäuse, aus dem dann Zwänge abgeleitet werden. Und ich würde es beispielsweise strikt ablehnen, aus dem Religion-Reproduktion-Zusammenhang ein “Gebot” der “Praktischen Vernunft” abzuleiten, weil dies ein Verstoß gegen Freiheitsrechte darstellte.

  195. Dawkins

    Lieber Herr Dahl,

    langsam wundere ich mich schon ein wenig.

    Sie schreiben:

    “Wenn Dawkins davon spricht, dass Religionen wie Viren seien, die sich des menschlichen Geistes bemächtigen, meint er nicht, dass sie Krankheiten sind, die unsere Überlebensfähigkeit oder unsere Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen. Sind wir uns darin einig?”

    Er vergleicht Religionen nicht nur mit Viren, sondern nennt sie ausdrücklich “mind diseases” – Geisteskrankheiten! Und natürlich beeinträchtigen Krankheiten sowohl nach alltäglichem wie wissenschaftlichem Sprachgebrauch Überleben und Fortpflanzungserfolg… Was gibt es denn daran noch ernsthaft zu deuteln???

    Lieber Herr Dahl, wollen wir die Diskussion hier vielleicht fürs Erste einfach in Freundschaft beenden? Es waren ja tolle Strecken, aber nun sehe ich wirklich nicht, dass das in diesem Rahmen noch sehr ergiebig bleibt…

  196. @ – Blume: Kein deutsches Forum

    “Kein deutsches Forum…ohne dass es irgendwann zu Hitlervergleichen kommt…”

    Lieber Herr Blume, ich hoffe, dies war nur ein schlechter Scherz!

    Sie haben meinen Punkt sehr wohl verstanden. Religionen kommen und gehen. Diejenigen, die sich halten, überleben nicht wegen ihrer Glaubensvorstellungen – also nicht weil sie an die Trinität, das Nirvana, das Tao oder was auch immer glauben -, sondern wegen ihrer pronatalistischen Politik. Dieser Pronatalismus ist jedoch nichts spezifisch Religiöses. Daher kann man ihn auch nicht der Religiosität zuschreiben, um ihre Adaptivität zu erweisen. Religiöse Vorstellungen als solche sind jedenfalls nicht adaptiv!

  197. @ – Blume

    Sie schrieben:

    “Interessant, dass nun aber auch Sie einen empirisch eindeutigen Zusammenhang abzuwehren versuchen, weil er Ihrer Weltanschauung widerspricht – ganz genau so, wie sich eben auch viele Religiöse immer wieder gegen naturwissenschaftliche Erkenntnisse sperr(t)en.”

    Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie sprechen! Ich habe doch gerade eben noch einmal ausdrücklich den Zusammenhang von Religion und Kinderreichtum zugestanden. Ich bezweifele nicht die Korrelation von Religiosität und Parität, sondern einzig und allein die Kausalität. Es ist weder der Heilige Geist, der die Frauen schwängert, noch der Glaube an den Heiligen Geist, der sie schwanger werden lässt.

  198. Tja…

    “Dieser Pronatalismus ist jedoch nichts spezifisch Religiöses.”

    Doch – denn keine nichtreligiöse Vergemeinschaftung hat diese pronatalistische Orientierung jemals dauerhaft durchgehalten. Auch der zitierte Hitler und seine NS-Schergen nicht, deren Geburtenraten brachen schon lange vor Kriegsende ein. Ebenso übrigens wie die der kommunistischen Staaten, trotz massiver, pronatalistischer Zwangsmaßnahmen z.B. im sozialistischen Rumänien (u.a. Verbot von Verhütungsmitteln, Abtreibungen etc.). Wenn die Menschen nicht an die pronatalistischen Gebote glauben, widersetzen sie sich ihnen.

    “Daher kann man ihn auch nicht der Religiosität zuschreiben, um ihre Adaptivität zu erweisen.”

    Mit dem Merkmal Musikalität gäbe es dieses Problem nicht – obwohl die Daten nicht halb so stark sind…

    Weltweit geht religiöse Vergemeinschaftung von Menschen mit eindeutig höherem Reproduktionserfolg und damit gesteigerter, darwinscher Fitness einher. Die Vererbbarkeit ist ebenso nachgewiesen wie die Emergenz in der Evolutionsgeschichte des Menschen.

    “Religiöse Vorstellungen als solche sind jedenfalls nicht adaptiv!”

    Doch, z.B. die Vorstellung eines allwissenden, übernatürlichen Akteurs, der uns “Seid fruchtbar und mehret euch!” (Genesis 1,28) gebietet und jeden Aspekt unseres Handelns und Denkens kennt und beurteilt IST adaptiv. Denn Glaubende entscheiden sich prompt häufiger für Kinder als Nichtglaubende unter sonst gleichen Bedingungen.

    Zudem werden religiöse Vergemeinschaftungen maßgeblich durch gemeinsame mythologische Vorstellungen, dann auch Rituale, außergewöhnliche Erfahrungen etc. begünstigt. Säkulare Surrogate haben dies bisher nicht einmal in einem Einzelfall auch nur drei Generationen lang ersetzen können…

  199. @ Dahl

    Lieber Herr Dahl,

    zuletzt schrieben Sie:
    “Ich bezweifele nicht die Korrelation von Religiosität und Parität, sondern einzig und allein die Kausalität.”

    Natürlich, das kann man immer machen. Auch die Kreationisten bezweifeln ja die Evolutionstheorie an sich, solange wir ihnen keine lückenlose Fossilkette vorlegen (und selbst die würden sie nicht glauben). Was aber erwarten wir als rationale Wissenschaftler? Zu einer Fülle empirischer Befunden eine bessere Theorie oder weitere, empirische Befunde, die die gegebene Theorie widerlegen.

    Also, hätten Sie eine bessere Theorie zu den empirisch klaren Befunden zum Zusammenhang von Religiosität und Reproduktionserfolg anzubieten? Oder doch Einzelbefunde (z.B. dauerhaft reproduktiv erfolgreiche säkulare Gemeinschaften), die eine andere Kausalität wahrscheinlich machen?

    “Es ist weder der Heilige Geist, der die Frauen schwängert,”

    …Das soll ich jetzt nicht ernsthaft kommentieren, oder? (-;

    …”noch der Glaube an den Heiligen Geist, der sie schwanger werden lässt.”

    Abgesehen davon, dass wir schon am Anfang der Diskussion Religion als Glauben an und Verhalten (!) zu übernatürlichen Akteuren definiert haben, kann selbstverständlich auch eine reine Vorstellung adaptiv wirken – beispielsweise ein Ahne oder Gott, der mit Heilsversprechen und Strafandrohung Ehe und Familie befiehlt.

    Sie haben uns übrigens wissen lassen, dass religiöse Vorstellungen in der Geschichte “Unheil” angerichtet hätten. Auch daraus ist zu schließen, dass Sie religiösen Vorstellungen durchaus zutrauen, Verhalten gravierend zu beeinflussen. Ich sehe da aber einen Widerspruch: Religiöse Vorstellungen sollen “unheilvolles” Verhalten auslösen können, trotz harter, empirischer Daten aber keinesfalls reproduktives?

  200. @ – Blume

    Sie schrieben:

    “Lieber Herr Dahl, langsam wundere ich mich schon ein wenig.

    Sie schreiben:

    ‘Wenn Dawkins davon spricht, dass Religionen wie Viren seien, die sich des menschlichen Geistes bemächtigen, meint er nicht, dass sie Krankheiten sind, die unsere Überlebensfähigkeit oder unsere Fortpflanzungsfähigkeit beeinträchtigen. Sind wir uns darin einig?’

    Er vergleicht Religionen nicht nur mit Viren, sondern nennt sie ausdrücklich “mind diseases” – Geisteskrankheiten! Und natürlich beeinträchtigen Krankheiten sowohl nach alltäglichem wie wissenschaftlichem Sprachgebrauch Überleben und Fortpflanzungserfolg… Was gibt es denn daran noch ernsthaft zu deuteln???”

    Lieber Herr Blume, Sie wissen sehr wohl, dass Sie Dawkins hier bewusst missverstehen. Ob er Religionen nun als “viruses of the mind” oder “mind diseases” bezeichnet, er betrachtet sie nicht als buchstäbliche Krankheiten, sondern bestenfalls als Übel – ähnlich wie den Nationalismus, Fundamentalismus oder Fanatismus! All dies sind “viruses of the mind”, gefährliche Übel, die jedoch weder die Überlebens- noch die Fortpflanzungsfähigkeit der Betroffenen einschränken.

    Wenn Dawkins Religionen buchstäblich als
    eine ernsthafte Erkrankung betrachten würde, die ihre Anhänger dahinrafft, würde er sich nicht die Mühe machen, vor der wachsenden Bedrohung durch fundamentalistische Muslime und Evangelikale zu warnen – dieses Problem würde sich dann nämlich von selbst lösen.
    —–

    “Lieber Herr Dahl, wollen wir die Diskussion hier vielleicht fürs Erste einfach in Freundschaft beenden? Es waren ja tolle Strecken, aber nun sehe ich wirklich nicht, dass das in diesem Rahmen noch sehr ergiebig bleibt…”

    Gut. Lassen Sie mich zu Ihren “6 Säulen” nur noch eine Anmerkung machen. Ersetzen Sie das Wort Religiosität durch Musikalität und Sie werden sehen, dass fünf Ihrer 6 Säulen nicht tragfähig sind. Denn mit Ausnahme der zweiten Säule gelten alle weiteren genauso für die Musikalität – sie wird vererbt, existiert schon seit Jahrtausenden, kommt nur bei Menschen vor etc.

  201. Musikalität – Religiosität

    Gerade die Entsprechung der Merkmale von Musikalität und Religiosität spricht doch für eine Adaptivität! Religiosität ist eine neurobiologisch veranlagte, biokulturelle Fähigkeit, die ebenso evolvierte wie Musikalität, Sprachfähigkeit etc. Nur stößt Religiosität eben auf ideologische Vorbehalte, da werden wissenschaftliche Fakten plötzlich zur Seite gewischt… Obwohl der reproduktive Gewinn aus Religiosität empirisch sehr viel eindeutiger ist als bei Musik… Interessant, das…

    Der Religions- und Musiksoziologe Max Weber hat genau diese Verbindung schon gezogen, als er z.B. von “religiösen Virtuosen” sprach und von sich selbst sagte, er sei “religiös unmusikalisch”.

    Zu Dawkins: Selbst wenn ich Ihnen folgen würde, dass Dawkins “Krankheiten” nur polemisch verwendet, um seine “Verachtung” auszudrücken (was für Ihr doch so rationales Wissenschaftsverständnis kein Problem wäre?): wie können religiöse Vorstellungen gleichzeitig “gefährlich” sein – also offensichtlich Verhalten stark beeinflussen – dann aber, trotz eindeutiger Daten keine reproduktive Auswirkungen haben??? Sie behaupten eine Verhaltenskausalität auf ungesicherter Datenbasis und bestreiten gleichzeitig eine Verhaltenskausalität trotz auch von Ihnen nicht bestrittener, empirisch eindeutiger Befunde???

    Mit Verlaub, das ist doch grob widersprüchlich… )-:

    Wären Sie so freundlich, uns vielleicht noch diesen Punkt zu erläutern?

  202. @ – Blume

    Lieber Herr Blume, habe eben gerade Ihre Frage entdeckt. Bin leider den ganzen Nachmittag an der Uni, werde aber heute abend antworten. Jetzt nur soviel: Sie haben mein Beispiel mit der Musikalität missverstanden. Ich halte die Musikalität nicht für adaptiv. Ich wollte Ihnen nur zeigen, dass das, was für die Religiosität gilt, auch für die Musikalität gilt, OHNE dass jemand auf den Gedanken käme, die Musikalität deshalb für adaptiv zu halten. Religiosität und Musikalität sind beides bloße Epihänomene.

  203. Korrelation & Kausalität

    “Lieber Herr Dahl,zuletzt schrieben Sie:
    ‘Ich bezweifele nicht die Korrelation von Religiosität und Parität, sondern einzig und allein die Kausalität.’

    Natürlich, das kann man immer machen. Auch die Kreationisten…”

    Das kann man nicht nur immer machen, dann MUSS man sogar immer machen!

    Um die Adaptivität der Religiosität plausibel zu machen, bedarf es nicht nur einer bloßen Korrelation, sondern der Kausalität.

  204. @ – Blume: Widerspruch!?

    Entschuldigen Sie die später Antwort. Sie schrieben:

    “Zu Dawkins: Selbst wenn ich Ihnen folgen würde, dass Dawkins “Krankheiten” nur polemisch verwendet, um seine “Verachtung” auszudrücken (was für Ihr doch so rationales Wissenschaftsverständnis kein Problem wäre?): wie können religiöse Vorstellungen gleichzeitig “gefährlich” sein – also offensichtlich Verhalten stark beeinflussen – dann aber, trotz eindeutiger Daten keine reproduktive Auswirkungen haben??? Sie behaupten eine Verhaltenskausalität auf ungesicherter Datenbasis und bestreiten gleichzeitig eine Verhaltenskausalität trotz auch von Ihnen nicht bestrittener, empirisch eindeutiger Befunde???

    Mit Verlaub, das ist doch grob widersprüchlich… )-:

    Wären Sie so freundlich, uns vielleicht noch diesen Punkt zu erläutern?”

    Dass Sie hier einen “Widerspruch” erblicken, liegt meines Erachtens daran, dass Sie nicht hinreichend zwischen “Religiosität” und “Religion” unterscheiden. Ich habe nicht gesagt, dass die Religiosität, sondern die Religion Unheil stiften kann.

    Ich versuche das gleich etwas genauer zu erklären.

  205. Religiosität und Religion

    Nach meiner Auffassung müssen wir zwischen “Religiosität” und “Religion” unterscheiden. Die Religiosität ist – wie die Musikalität – eine messbare und vererbbare menschliche Eigenschaft. Sie besteht in der Annahme und Verehrung übernatürlicher Kräfte. Die Religion ist dagegen – genau wie die Ideologie – ein bloßes Produkt unseres Geistes. Sie besteht in einem System von Glaubensüberzeugungen mit ihrer je eigenen Liturgik, Dogmatik und Ethik.

    Religiosität kann, aber muss nicht zu Religion führen. Viele Menschen verspüren ein Gefühl von Demut und Ehrfurcht gegenüber der Unendlichkeit des Universums, ohne dass sie sich mit irgendeiner Religion und ihrer Liturgik, Dogmatik oder Ethik identifizieren können. Insofern die Religiosität lediglich in einem Gefühl der Demut oder Ehrfurcht vor einer übernatürlichen Macht besteht, kann sie auch kein “Unheil” stiften. Unheil stiften können erst Religionen. Dass etwa das Christentum und der Islam weit mehr Unheil angerichtet haben als andere Religionen, liegt sowohl an ihrer Dogmatik als auch an ihrer Ethik. Zu ihrer Dogmatik gehört nicht nur die Überzeugung, die einzige wahre Religion zu sein, sondern auch der Missionsbefehl, der sie in die Welt gehen und die Völker mit Feuer und Schwert bekehren lässt. Zu ihrer Ethik gehört, dass sich Ehebrecherinnen und Homosexuelle einer todwürdigen Sünde schuldig gemacht haben und gesteinigt zu werden verdienen. Diese Haltung und diese Handlungen sind kein Bestandteil der Religiosität, aber Bestandteil mancher Religionen.

  206. Religion: Liturgik, Dogmatik und Ethik

    Als ich schrieb, dass Religionen Systeme von Glaubensüberzeugungen mit je eigener Liturgik, Dogmatik und Ethik darstellen, war ich etwas ungenau. Genauer müsste es heißen: Religionen sind Systeme von Glaubensüberzeugungen mit je eigener Liturgik, Dogmatik UND/ODER Ethik. Ich sage “und/oder”, weil es ganz von der Dogmatik abhängt, ob eine Religion auch eine Ethik enthält. Sowohl der Deismus als auch der Pantheismus enthalten keine Ethik, weil ihre Dogmatik die Existenz eines persönlichen Gottes ausschließt. Wie bereits früher erwähnt, enthielt auch der griechische Polytheismus keine Ethik, weil seine Dogmatik davon ausging, dass es zwar persönliche Götter gäbe, sie sich aber nicht im geringsten für das Wohl und Wehe der Menschen interessierten.

  207. Religion und Fortpflanzungserfolg

    Dass sich die Menschen unterschiedlicher Religionen unterschiedlich fortpflanzen, hat nicht mit ihrer unterschiedlichen Religiosität, sondern mit ihrer unterschiedlichen Ethik zu tun. Sie mögen alle gleichermaßen religiös sein, doch folgen sie unterschiedlichen Handlungsanweisungen. Die einen folgen dem Gebot “Seid fruchtbar und mehret euch!”, die anderen dem Gebot “Wendet euch von dieser Welt ab und folget mir in die Einsamkeit und Enthaltsamkeit!” Insofern es nicht die unterschiedliche Religiosität, sondern die unterschiedliche Ethik ist, die darüber entscheidet, ob sich jemand erfolgreich fortpflanzt, macht es keinen Sinn, der Religiosität als solcher einen fitnessmaximierenden Effekt zuzuschreiben. Den fitnessmaximierenden Effekt kann erst die Ethik haben. Die Ethik ist aber kein Bestandteil der Religiosität, ja, sie ist noch nicht einmal ein fester Bestandteil jeder Religion.

  208. Religiosität – Religion, Ende?

    Lieber Herr Dahl,

    Musikalität führt häufiger zur Musik, Religiosität zur Religion. Wer bei Klängen nichts empfindet, wird seltener zum Virtuosen und wem bei Gebeten nicht das Herz aufgeht, seltener zum Glaubenden. Da auch Sie (ohne mehr als anekdotische Datenbasis) davon ausgehen, dass Religion “Unheil” anrichten – also Verhalten beeinflussen – kann, ist doch auch klar (und empirisch eindeutig), dass es ebenso reproduktives Verhalten auslösen kann. Natürlich stehen dabei gestern wie heute verschiedenste religiöse Ethiken im (kulturellen) Wettbewerb miteinander – und die reproduktiven setzen sich immer wieder durch. Deswegen haben die Monotheisten die spätantiken Polytheismen abgelöst und Deismus und Pantheismus sind nicht zu Weltreligionen aufgestiegen. Heute sind (siehe Schweizer Volkszählung) “alle” bedeutenden Religionsgemeinschaften reproduktiv weit erfolgreicher als die Konfessionslosen – religiöse Veranlagungen zahlen sich also genetisch aus und evolvieren weiter. Wer heute religiös begabt ist und sich einer Religionsgemeinschaft anschließt – hat daraus messbaren, reproduktiven Erfolg. Mindestens im biologischen Sinne ist es vielleicht gar nicht so Bright, ein Bright zu sein… (-;

    Ihre Unterscheidung zwischen Veranlagung und Produkt verhält sich so, als würden Sie die Fähigkeit zum Werkzeuggebrauch nicht als adaptiv anerkennen, da ja nicht klar sei, ob nützlich, unnütze oder vielleicht gar schädliche Werkzeuge produziert würden. Dabei ist doch klar, dass sich nützliche Werkzeuge im kulturellen Wettbewerb durchsetzen werden, während unnütze und schädliche Werkzeuge in Nischen verbleiben werden. Ebenso steigen reproduktiv erfolgreiche Religionen auf und zahlreiche Klein- und Kleinstgruppen gehen wieder ein.

    Ich möchte mich jedoch einfach bei Ihnen allen, besonders aber bei Ihnen, Herr Dahl, für die hervorragende Diskussion bedanken aus der ich wirklich viel gelernt habe! Gerne werde ich auch in Zukunft hin und wieder mal aus der Evolutionsforschung zur Religiosität berichten, das nächste Mal zum Beispiel zum Zusammenhang von Religion und sexueller Selektion.

    Bis dahin darf ich Ihnen allen Freude und Erfolg in allen Lebensbereichen wünschen, die Ihnen wichtig sind.

    Mit Dank & herzlichen Grüßen

    Michael Blume

  209. @ – Michael Blume: “Gretchenfrage”

    Lieber Herr Blume, ich werde nachher noch etwas zu Ihrem letzten Kommentar schreiben, möchte mich jetzt aber auch bei Ihnen erst einmal ganz herzlich für die spannende und überaus lehrreiche Diskussion bedanken!

    Auf Ihren angekündigten Bericht zum Thema “Religion und sexuelle Selektion” freue ich mich schon jetzt. Bin gespannt zu hören, ob religiöse Männer immer noch bessere Chancen bei Frauen haben und Goethes Wort also nach wie vor gilt:

    Die Mädels sind doch sehr interessiert,
    ob einer fromm und schlicht nach altem Brauch.
    Sie denken: duckt er da, folgt er uns eben auch.

  210. @ – Blume: Shaker oder Amish?

    Sie schrieben: “Musikalität führt häufiger zur Musik, Religiosität zur Religion.”

    Sicher, wer religiös ist, mag sich eher einer Religion anschließen. Ob er sich erfolgreicher als andere fortpflanzt, hängt jedoch nicht vom Grad seiner Religiosität, sondern von der Art von Religion ab, der er sich anschließt. Wenn er sich einer Religion wie der der Shaker anschließt, die in Enthaltsamkeit lebten, wird er keine Kinder zeugen; wenn er sich dagegen einer Religion wie der der Amish anschließt, wird er vermutlich so viele Kinder zeugen, wie er ernähren kann. Der Unterschied zwischen Shakern und Amish besteht nicht in der unterschiedlichen Religiosität ihrer Mitglieder, sondern allein in der unterschiedlichen Dogmatik und Ethik ihrer Religionen.

  211. @ – Blume: “Die Lehre des Unheils”

    Sie schrieben: “Da auch Sie (ohne mehr als anekdotische Datenbasis) davon ausgehen, dass Religion “Unheil” anrichten – also Verhalten beeinflussen – kann, ist doch auch klar (und empirisch eindeutig), dass es ebenso reproduktives Verhalten auslösen kann.”

    Wie das gerade erwähnte Beispiel von den Shakern und den Amish gezeigt hat, ist es nicht ihre Religiosität, sondern ihre Religion, die darüber bestimmt, ob Menschen viele Kinder oder gar keine Kinder zeugen.

    Was das Unheil anbelangt, das die Religionen über die Menschheit gebracht haben, so kann man in meinen Augen schwer davon reden, dass wir lediglich auf eine bloß “anekdotische Datenbasis” angewiesen sind. Die Zahl der Opfer, die allein die christlichen Religionskriege gekostet haben, sind gut belegt – ob für die Bartholomäusnacht, den Dreißigjährigen Krieg oder die Ausrottung der Waldenser.

    Wie es sich ergibt, lese ich gerade Voltaires berühmte Abhandlung “Über die Toleranz”, in der er u.a. von den Auseinandersetzungen zwischen den Katholiken und Protestanten in Irland berichtete und, leider etwas zu optimistisch, prophezeite:

    “Das bevölkerte und reicher gewordene Irland wird nie wieder sehen, wie seine katholischen Bürger ihre protestantischen Mitbürger Gott opfern, sie lebendig begraben, die Mütter an Galgen aufhängen, schwangeren Frauen den Leib aufschneiden, die halbgebildete Frucht herausreißen und sie den Hunden vorwerfen; wie sie ihren geknebelten Gefangenen einen Dolch in die Hand zwingen und ihnen den Arm führen, um damit ihren Weibern, Eltern und Kindern ins Herz zu stoßen…”

  212. @ – Blume: Evolution und Religion

    Sie schrieben: “Religiöse Veranlagungen zahlen sich also genetisch aus und evolvieren weiter.”

    Zunächst einmal zur ersten Hälfte des Satzes: Ob sich “religiöse Veranlagungen” reproduktiv auszahlen, hängt, wie erwähnt, ganz davon ab, welcher Religion sich jemand anschließt.

    Zur zweiten Hälfte des Satzes: Mir ist nicht ganz klar, inwieweit religiöse Veranlagungen weiter “evolvieren”. Zuweilen habe ich den Eindruck, als würden Sie glauben, dass es verschiedene religiöse Veranlagungen gibt – eine zum Judentum, eine zum Christentum, eine zum Islam, eine zum Hinduismus, eine zum Buddhismus usw. Glauben Sie, dass ein Kind hinduistischer Eltern eine andere religiöse Veranlagung erbt als ein Kind christlicher Eltern?

  213. Re: Religion und Religiosität

    Die Unterscheidung zwischen Religion und Religiosität von Herrn Dahl halte ich für sehr wichtig.

    Friedrich Schiller bspw. sagte:

    “u welcher Religion ich mich bekenne? Zu keiner von allen, die du mir nennest.
    Und warum keine?
    Aus Religion.”

    Er meinte natürlich: “aus Religiosität heraus”.

    *

    Ich bin der Meinung, daß viel weniger die etablierten Religionen als die Philosophie in unserer heutigen Zeit dafür zuständig ist, “sich Rechenschaft zu geben darüber”, wie Religiosität in unser allgemeines sonstiges Welt- und Menschenbild hinein paßt (natürlich zusammen mit der Naturwissenschaft und den anderen Geisteswissenschaften).

    Es fragt sich noch heute – mit Kant -, ob die Vernunft (die Philosophie) der Religion das Licht voraus trägt – oder die Schleppe hinterher. Manchmal hat man doch neuerdings – wenn man z.B. Leuten wie Jürgen Habermas zuhört – das Gefühl, daß sich viele Philosophen wieder letzterem zuwenden … .)

    *

    Auch der Betonung der Ethik der jeweiligen Religion von Herrn Dahl stimme ich voll zu.

  214. Hatten Stammes-Religionen MEHR Ehrfurcht?

    Das ist sicherlich eine gute Frage, Michael, warum “Deismus und Pantheismus nicht zu Weltreligionen aufgestiegen” sind.

    Vielleicht weil sie eben gerade NICHT so männlich herrschsüchtig geleitet waren und sind wie die Priesterkasten der monotheistischen Religionen durch die Jahrhunderte hindurch – und auch oft noch heute?

    Bekanntlich ist die religiöse Stellung der Frau bei vielen früheren Stammes-Religionen eine ganz andere gewesen als bei der jüdischen, christlichen und islamischen. Wann jemals forderten wohl die Sprüche der Pythia im Orakel von Delphi jemanden zur Eroberung der ganzen Welt, zur Bekehrung der ganzen Welt und aller Menschenseelen auf? Ist das überhaupt ein typischer weibliches Anliegen?

    Außerdem ist die jüdische Religion in der Nähe des assyrischen Reiches groß geworden. Auch die Assyrer hegten einen Eifer was fanatische, emphatische “Welteroberung” betrifft, den andere Reiche der Weltgeschichte zumindest in DER Weise nicht kannten.

    Gerade die Ehrfurcht vor der andersartigen Religiosität anderer Stämme, Völker und Kulturen könnte die pantheistischen und deistischen (und polytheistischen) Religionen davor geschützt haben, zu meinen, es sei zum Heile jeder Menschenseele notwendig, der “heiligen katholischen Kirche” anzugehören oder ausgerechnet einen Gott anzubeten, den sich ein Wüstenvolk im Sinai anbetet.

    Ich möchte auch noch einmal betonen, daß nicht-monotheistische Religionen jahrtausende lang adaptiv WAREN – eben so lang, BIS der Monotheismus weltgeschichtlich auftrat. Man kann aber aus den letzten 1200 Jahren nicht auf “den” Menschen an sich schließen. Sie stellen nur einen Teilaspekt dar.

    Die erfolgreichen “repdroduktiven Regime” früherer Stammesreligionen sind fast überall auf der Erde heute zerschlagen. Das heißt aber nicht, daß sie nach einer modernen Transformation nicht wieder erfolgreiche “reproduktive Regime” werden könnten. Die leicht überdurchschnittliche Geburtenrate der deutschen Anthroposophen könnte jedenfalls ein Hinweis darauf sein, daß das zumindest im Prinzip möglich ist.

  215. Amish & Shaker

    Hey, Ihr wollt mich ned gehen lassen! Dabei platzt mir jetzt schon das Zeitbudget.

    Daher ein versöhnlicher Schluss: Herr Dahl, wir sehen das gar nicht (mehr?) grundlegend anders – gerade das Beispiel Shaker – Amish vertrete ich regelmäßig!

    Z.B. hier, vor einer freiheitlichen Stiftung (S. 5 f.):
    http://www.blume-religionswissenschaft.de/…7.pdf

    Denn es zeigt m.E. genau den Effekt kultureller Evolution: die Amish blühen (und können sich inzwischen die Ablehnung von Konvertiten leisten!), während die Shaker (trotz völliger Konzentration auf Mission & früher Adoption) derzeit untergehen (noch vier Mitglieder). Im “religiösen Markt” verbleiben als Großanbieter nur die (auch) demografisch erfolgreichen Gemeinschaften, während die demografisch erfolglosen Gemeinschaften in Nischen verbleiben bzw. untergehen.

    Und genau deshalb stellt sich der reproduktive Effekt selbstregulierend ein: wer religiös veranlagt ist und sich also für Religion(en) interessiert, wird auf dem religiösen Markt ganz überwiegend auf auch demografisch “bewährte” Angebote treffen und eben eher Muslim, Christ oder Hindu werden als z.B. Shaker oder Manichäer!

    Schauen Sie sich die Schweizer Tabelle ruhig nochmal an – “alle” etablierten Gemeinschaften haben reproduktiven Erfolg, weil sie es ansonsten gar nicht zu ihrer Dauer und Größe gebracht hätten! Sie müssten also religiös veranlagter Mensch fast gezielt suchen, um in einer Religionsgemeinschaft zu landen, die weniger erfolgreich als die Konfessionslosen ist! (-:

    Die biologische und kulturelle Evolution wirken also (wie F.A. von Hayek als erster gemerkt hat!) über den “reproductive benefit” im Wettbewerb in die gleiche Richtung! Das müsste Ihnen als Libertärem gefallen – im freien Wettbewerb gewinnt das (auch) biologisch passende Angebot!

    Nicht zentrale Planung, Steuerung, Design, sondern das auch demografische Ringen innerhalb und zwischen den Gemeinschaften wirkt selbst-maximierend. Freiheit ist erfolgreich, lebensdienlich! (-:

    So, jetzt muss ich aber wirklich aufhören, das waren fast 100 Kommentare und Dutzende Stunden Diskussion! Aber ich hoffe sehr, dass wir in Zukunft hier oder auch ad personam einmal wieder so gut diskutieren können. Denn mit Ihnen allen zu debattieren war wirklich ein inhaltlicher Gewinn!

    Bis bald! (-:

  216. Verbeugung zu Ingo

    Lieber Ingo,

    auch Dir vielen Dank für Deine Beiträge – und Zustimmung zu Deinen letzten Überlegungen.

    “Ich möchte auch noch einmal betonen, daß nicht-monotheistische Religionen jahrtausende lang adaptiv WAREN – eben so lang, BIS der Monotheismus weltgeschichtlich auftrat.”

    Ja, sehe ich auch so.

    “Man kann aber aus den letzten 1200 Jahren nicht auf “den” Menschen an sich schließen. Sie stellen nur einen Teilaspekt dar.”

    Selbstverständlich. Im Bezug z.B. auf einen “Urmonotheismus” bin ich mangels Belegen durchaus skeptisch. Der Monotheismus scheint sich m.E. erst in Stadtgesellschaften mit dem Bedarf hoher und allgemeiner Verbindlichkeit durchzusetzen. Was ggf. eine gute Idee für einen eigenen Blogbeitrag geben könnte…

    “Die erfolgreichen “repdroduktiven Regime” früherer Stammesreligionen sind fast überall auf der Erde heute zerschlagen. Das heißt aber nicht, daß sie nach einer modernen Transformation nicht wieder erfolgreiche “reproduktive Regime” werden könnten.”

    Auch da, Zustimmung. Sowohl die biologische wie kulturelle Evolution sind nicht vorab beschränkbar und ich schließe da gar nichts aus. Nur gibt es eben noch keinerlei empirische Belege dafür. Die größten Chancen dafür würde ich bei hinduistischen Gruppen oder auch bei den wieder erwachenden Stammesreligionen Amerikas erwarten; wobei auch diese jeweils monotheistische Aspekte sehr stark aufgreifen.

    “Die leicht überdurchschnittliche Geburtenrate der deutschen Anthroposophen könnte jedenfalls ein Hinweis darauf sein, daß das zumindest im Prinzip möglich ist.”

    Da sich bei uns hier in Filderstadt ein Schwerpunkt der Antroposophie befindet und meine Mutter in der antroposophischen Filderklinik gearbeitet hat, kenne ich die antroposophische Christengemeinschaft (Eigenbezeichnung!) ganz gut. Und da liegt doch auch ein sanfter Monotheismus vor. Will sagen: sowohl in der Struktur wie in der demografischen Performance liegen die Antroposophen im Normalbereich liberal-christlicher Anschauungen (vgl. Christkatholiken der Schweiz).

    Aber versprochen: wenn ich irgendwo mal eine Gemeinschaft finde, die demografisch erfolgreich ist und zu Deinen Hoffnungen passen könnte, gebe ich Dir sofort Bescheid! (-;

    Mit augenzwinkernden Grüßen – bis bald!

    Michael Blume

  217. @ – Blume: Religiöse Veranlagungen

    Lieber Herr Blume, stimmt, diese Diskussion kostet viel Zeit und Nerven. Eine Frage wäre ich jedoch gerne noch los geworden, und zwar die gestern aufgeworfene Frage nach den “religiösen Veranlagungen”. Möglicherweise ist es nur der Umstand, dass Sie von religiösen Veranlagungen im Plural sprechen, dass ich das Gefühl gewinne, Sie glaubten an spezielle religiöse Veranlagungen – eine zum Judentum, eine zum Christentum, eine zum Islam, eine zum Hinduismus, eine zum Buddhismus usw. Ist das so?

  218. @ – Bading & Blume: Können Religionen adaptiv sein?

    Bading: “Ich möchte auch noch einmal betonen, daß nicht-monotheistische Religionen jahrtausende lang adaptiv WAREN – eben so lang, BIS der Monotheismus weltgeschichtlich auftrat.”

    Blume: “Ja, sehe ich auch so.”

    So wie ich Probleme mit der Vorstellung habe, dass es spezielle religiöse Veranlagungen gibt, so habe ich auch Probleme mit der Behauptung, dass Religionen als solche “adaptiv” sein können.

    Religionen miteinander zu vergleichen und diejenigen, die mehr Anhänger haben, als “adaptiver” als andere zu bezeichnen, erscheint mir ähnlich abwegig, wie Ideologien miteinander zu vergleichen und denjenigen mit der größeren Anhängerzahl eine höhere “Adaptivität” zu bescheinigen.

    In meinen Augen liegt hier ein Kategorienfehler vor, da sich der Begriff der Adaptivität nur auf biologische Merkmale, nicht aber auf soziale anwenden lässt.

    Ich weiß nicht, wer weltweit am meisten Autos verkauft; doch ganz gleich, ob es nun VW, BMW, Mercedes, Fiat, Renault oder Toyota sein mögen, ich würde das Auto, das von den meisten Menschen gekauft wird, deshalb nicht als “adaptiver” bezeichnen.

  219. @ – Bading & Blume: Adaptiver oder demographisch erfolgreicher?

    Eine Religion als “demographisch erfolgreicher” als eine andere zu bezeichnen, erscheint mir weit angemessener, als eine Religion als “adaptiver” als eine andere zu bezeichnen.

    Dennoch habe ich auch mit dem Begriff des “demographischen Erfolgs” meine Mühe. Er scheint mir eine einfache Kausalität zu suggerieren, die so nicht existiert.

    Das Christentum scheint mit 2,1 Milliarden Anhängern die “adaptivste” oder “demographisch erfolgreichste” Religion der Welt zu sein, gefolgt vom Islam mit 1,3 Milliarden Anhängern, dem Hinduismus mit 850 Millionen Anhängern und dem Buddhismus mit 375 Millionen Anhängern.

    Der Begriff des “demographischen Erfolgs” scheint zu unterstellen, dass sich die Anhänger des Christentums erfolgreicher fortgepflanzt haben als die Anhänger anderer Religionen. Aber dies ist schlichtweg irreführend! Dass das Christentum heute mehr Anhänger hat als vor 100 Jahren, hat eine Vielzahl von Gründen – neben reproduktiven, ökonomische, politische, geographische usw.

  220. @ – Bading & Blume: Noch einmal “Demographischer Erfolg”

    Bei Wikipedia gibt es unter dem Eintrag “Weltreligionen” eine “Religionskarte der Erde” aus dem Jahre 1881. Nach dieser Karte hatte das Christentum vor gut 100 Jahren nur etwa 400 Millionen Anhänger, der Islam 180 Millionen Anhänger und der Hinduismus und Buddhismus zusammengenommen 740 Millionen Anhänger. Soll das heißen, dass der Hinduismus und der Buddhismus vor 100 Jahren “adaptiver” oder “demoraphisch erfolgreicher” waren als das Christentum? Und soll das bedeuten, dass das Christentum, das die Weltreligionen jetzt anführt, in den vergangenen 100 Jahren auf irgendeine Weise “adaptiver” oder “demographisch erfolgreicher” geworden ist? Wenn ja, wodurch?

    Während es schwer zu sehen ist, dass sich das Christentum in den vergangenen 100 Jahren inhaltlich gewandelt hätte, ist es leicht zu sehen, dass das Christentum in den vergangenen 100 Jahren nicht müde geworden ist, zu missionieren. Im Unterschied zum Hinduismus und zum Buddhismus, die keine Missionierung kennen, haben die Christen, Länder und Völker kolonialisiert, den Einwohnern die Kinder geraubt und sie in Sonntagsschulen gezwungen.

    Die Reproduktion ist also nur einer von vielen Faktoren, der über die “Adaptivität” oder den “demographischen Erfolg” einer Religion entscheidet. Die Politik und die Ökonomie der Länder, in denen eine Religion zu Hause ist, sind mindestens genauso wichtig , wenn nicht gar weit wichtiger.

  221. 😉 without end …

    @ Michael: Auf die Frage, wie christlich die Anthroposophen eigentlich sind, bin ich inzwischen auch schon gestoßen. Dabei fiel mir auf, daß ich scheinbar die Anthroposophen viel zu wenig kenne, als daß ich ursprünglich überhaupt auf eine solche FRAGE gekommen wäre.

    Denn daß die Anthroposophen und Waldorf-Schüler, die ich persönlicher kennengelernt habe, in irgendeiner Weise “christlich” wären als bspw. ich selbst, wäre mir nicht im Traum eingefallen.

    Ich vermute doch sehr stark, daß das anthroposophische Engagement, sozusagen ihre Ethik, ihr “Lebensstil” vornehmlich NICHT-monotheistischem Hintergrund geschuldet ist. Also: “Öko”, “Öko”, “Öko”, “spirituell”, “spirituell”, “spirituell” – so habe ich das jedenfalls bislang persönlich erlebt.

    Gerne nehme ich Deine Eindrücke zu meiner Beurteilung hinzu.

    Soweit ich sehe und im Netz gefunden habe, bewerten Anthroposophen jedoch weitgehend alle überkommenen religiösen Anschauungen/Kirchen gleichwertig und als überwunden DURCH die Anthroposophie. Deshalb lehnt, wie ich dem Netz entnahm, die offizielle evangelische Kirche in Deutschland auch eine Doppelmitgliedschaft bei der “Christengemeinschaft” ab.

    Aber erst mal würden mich klare statistische Fakten interessieren: Wie hoch sind Bethäufigkeit, Kirchgang-Häufigkeit bei Anthroposophen im Vergleich zu anders charakterisierten Gruppierungen etc.? Wie hoch die Rate der aus den großen Kirchen Ausgetretenen bei ihnen im Vergleich zu anders charakterisierten Gruppierungen?

    Allzu einfach wird man ihre leicht überdurchschnittliche Geburtenrate einer besonderen “christlichen” Verbundenheit nach meinem bisherigen Eindruck jedenfalls nicht zuschreiben können.

  222. Kein

    Herr Dahl: Ganz brisante Erkenntnis der letzten zehn Jahre Humangenom-Forschung: Innerhalb von tausend Jahren können auch in Millionen-Völkern gänzlich neue Verhaltens- und Intelligenz-Gene vorherrschend werden, die vorher NICHT vorherrschend waren. Und zwar entsprechend der vorherrschenden selektiven, d.h. kulturellen Regime. Das heißt: Das heutige aschkenasische Judentum, das sowieso erst etwa 1200 Jahre alt ist, ist auch genetisch etwas EINZIGARTIGES. (Was man auch an diversen Erbkrankheiten erkennen kann, wenn man die hohe Rate der Nobelpreisträger nicht zur Beurteilung hinzuziehen will, da man Intelligenz nicht als vererbt ansehen will.)

    Ich würde nicht sagen, daß es eine genetische Anlage für Monotheismus gibt. Aber monotheistische Religionen üben ANDEREN Selektionsdruck auf Gesellschaften aus als andere Religonen. Auch Klima, Ernährung, Lebensweise, vorherrschende Krankheiten – alle können innerhalb weniger Jahrhunderte den Genpool einer Gesellschaft beeinflussen.

    Die Art der Religiosität wird von vielen Verhaltensgenen mitbestimmt, z.B. von der Häufigkeit von ADHS-Gen-Trägern in einer Gesellschaft. Eine konfuzianische (“konformistische”) Gesellschaft wird man mit ihnen höchstwahrscheinlich nicht so leicht aufbauen können, weshalb es diese auch in China scheinbar nicht gibt. Umgekehrt werden manche ADHS-ler unter besonders fanatischen “Glaubenskämpfern” und “Welteroberern” gewesen sein.

    Also: Nein, ein spezielles “Gen für” Religiosität, noch dazu für monotheistische Religiosität etc. wird es nicht geben. Aber jeweils individuelle angeborene Verhaltensneigungen, die mit dem gesellschaftlichen Vorherrschen einer Religiosität/Ideologie besser zurecht kommen als andere individuelle Verhaltensneigungen und deren Träger darum eher kinderreiche Familien gründen als die Träger anderer angeborener Verhaltensneigungen.

  223. Der Mensch hat sich verhaltensgenetisch an “spezielle” Dinge angepaßt

    (böser, böser Spamfilter!)

    Herr Dahl, auch demographischer Erfolg beliebiger Religionsgemeinschaften bedeutet (für mich) nicht, daß “Religiosität” an sich etwas Naturgegebenes wäre oder bedeutet für mich nicht so etwas wie einen “Gottesbeweis”.

    Millionen von Tierarten haben Millionen von Jahren überlebt OHNE Religiosität.

    Und so auch der Mensch.

    Wir können nur sagen, daß der Mensch seit hunderttausenden von Jahren über das nachdenkt, was mit ihm und um ihn herum geschieht – wahrscheinlich mehr als alle anderen Tierarten. Und dieses Nachdenken führt zu ethischen Normen, es führt zu “making things special”, führt also zu Kunst (in vorläufiger und weitverbreiteter soziobiologischer Annäherung).

    Und sicherlich ist alles, was mit Religiosität zu tun hat, eine Sonderform dieses “making things special”. WARUM der Mensch das Bestreben hat, bestimmte Dinge, Gedanken etc. als “spezieller”, als “besonders” hervorzuheben gegenüber anderen? Woher soll man das wissen?

    Jedenfalls scheint es mir so zu sein, daß NACHDEM der Mensch sich über Jahrhunderte lange Selektionsprozesse an bestimmte gesellschaftliche Umstände (“speziell, besonders gemachte Dinge”) verhaltensgenetisch angepaßt hat, es ihm – ganz offenbar – schwer fällt, auch in anderen, noch nicht evolutionär bewährten selektiven, kulturellen Regimen mit anderen, neuen “speziellen Dingen” nachhaltigere demographische Erfolge aufzuweisen.

    Das scheint nach der heutigen demographischen Lage Fakt zu sein. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger.

  224. @ Dahl

    Lieber Herr Dahl,

    Sie lassen mich einfach noch nicht ziehen! Wobei mich die Diskussion nicht nervlich anstrengt, nur mein Zeitbudget gerade etwas sprengt. Aber das bisherige Investment hat sich gelohnt! (-:

    Schnell zu religiöse Veranlagungen: selbstverständlich gehe ich nicht von einer Fixierung bestimmter religiöser oder gar konfessioneller Inhalte aus, sondern nur von genetisch veranlagten und dann in der Neurobiologie ausgebildeten Strukturen, die uns bestimmte Konstruktionen erst ermöglichen bzw. für diese prädestinieren. Auch hier gilt wieder die Analogie zur Musik: Wir haben keine Jazz-Gene, wohl aber neurobiologische Veranlagungen, die uns bestimmte Rhythmen als harmonischer, anregender etc. erfahren lassen als andere.

    Zu Studien zur intutiven Religiosität bei Kindern darf ich einfach noch einmal auf Bering verweisen.

    Zu Ihrer Frage Religion – adaptiv. Nun, das sehe ich auch wieder ganz unaufgeregt analog zu anderen kulturellen Produkten. Die Fähigkeiten zur Werkzeugherstellung werden erst ab dem Moment “adaptiv”, wo sie in Produkte umgesetzt werden – z.B. in Faustkeile. Ohne Produkt ist das genotypisch veranlagte, aber nicht phänotypisch ausgeprägte Merkmal nicht wirksam.

    In der heutigen Gesellschaft hat aber z.B. der Faustkeil seine Adaptivität wohl weitgehend verloren, andere Werkzeuge dürften wichtiger geworden sein. Ebenso können verschiedene, religiöse Überzeugungen (z.B. Polytheismen – Monotheismen) in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich nutzbringend sein. Und der Darwinsche Fitnessindikator schlechthin bleibt natürlich v.a. der Reproduktionserfolg (Überleben ohne Nachkommen ist eine zeitlich befristete Sackgasse.)

    In Kurzform: mir erscheint die Kultur nicht als Widerpart, sondern schlicht als Erweiterung unserer Biologie.

    So, und zum Abschluss habe ich noch einen recht spannenden Text zur Dawkinschen Virenmetapher gefunden und hier verlinkt:

    http://religionswissenschaft.twoday.net/…656608/

    Sie sehen also, dass Ihre Einwände durchaus auch weitere Recherchen und Überlegungen angeregt haben! (-:

    Nun bitte ich aber um Entpflichtung bis zum nächsten Mal! (-;

    Ihnen alles Gute

    Michael Blume

  225. @ Ingo Bading

    Der Spamfilter ist gut. Bisher ist noch kein Spam online gegangen, sondern schön ausgeschlossen worden. Falls mal ein Beitrag im Spamfilter hängenbleibt einfach etwas warten. Ich kümmer mich darum.

  226. Spamfilter

    Sollte keine grundlegende Kritik sein, sondern nur darauf verweisen, daß – vorläufig – “Textbausteine” fehlen könnten. Danke für die zügige Freischaltung (wie auch beim letzten mal).

    (Alle Achtung, der ist tatsächlich schwer auszutricksen, der Filter!) 😉

  227. GLAUBE UND ZÖLIBAT

    Was sind das für Hypothesen, die von beobachtbaren Gegebenheiten ausgehen um diese dann zur Basis einer Untersuchung zu machen, die zu keinem anderen Schluss kommen kann, als die Hypothesen zu bestätigen, die man gemacht hat?

  228. Zölibat

    Der Zölibat ist ganauso lebensfeindlich wie die Abtreibung.
    Man muß wohl etwas schizophren sein, um das eine gut, das andere schlecht zu finden.

  229. Kritik am Mißverstehen Darwins Theorie

    Ich habe Vieles aber nicht Alles von dieser Diskussion gelesen und ein paar Anmerkungen.

    Unzweifelhaft – so wurde mehrfach bestätigt – ist Religiosität (oder ähnliche Überzeugungen) weitgehend ein soziales Phänomen oder eine Gruppeneigenschaft. Da nicht eine Gruppe, sondern nur ein Individuum oder zwei Individuen Erbinformationen weitergeben können, die ausleserelevant sein könnten, gehören die hier diskutierten Themen (genauso, wie die Fähigkeit zum Sprechen, das Jagen im Verbund und viele andere) zu den Dingen, auf die Darwins Theorie nicht anwendbar ist. Das schließt natürlich nicht aus, daß über statistische Untersuchungen Korrelationen gefunden werden, die Bezüge zwischen Kinderhäufigkeit und Gruppenüberzeugungen (oder sogar Gruppeneigenschaften) belegen. Nur, solche Zusammenhänge mit darwinistisch motivierten Eklärungsmustern zu betrachten ist höchst spekulativ. Es fehlt schon an der notwendigen Grundlage einer Selektion, es fehlen Beobachtung über die Zeiträume vieler Generationen, und von einer biologischen Vererbung kann nicht die Rede sein, nach allem, was wir wissen. Selbst wenn ein Überlebensvorteil für “religiöse” Menschen bewiesen wäre, was fraglos nicht der Fall ist, kann man lange noch nicht rückschließen, daß dann wohl eine biologische Übertragung der scheinbaren Eigenschaft “religiös” in Betracht kommen könnte, und Darwins Ideen anwendbar wären. Im Gegenteil belegt das Beispiel Nachkriegsvergleich DDR-BRD wie angeführt, daß Vererbung (sozial oder biologisch) allenfalls marginal wirksam sein kann.

    Auch die Methode der Datenerhebung scheint fragwürdig. Wie zu lesen war, basieren die betrachteten Zahlen wenigstens zum Teil auf Selbsteinschätzungen befragter Individuen, die sich selber für religiös, weniger religiös oder atheistisch halten. Das ist natürlich nahzu keine objektive Aussage. Ein objektiver Begriff der Religiosität war für mich nicht erkennbar. Eine Selbsteinschätzung, insbeondere über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg, erschafft den auch nicht. Ersatzweise kann man sich auf den operativen Begriff “nennt sich selber religös in irgendeiner beliebigen sprachlichen oder kulturellen Ausprägung” einigen, nur, wie will man motivieren, eine derart schwammige und heterogene “Begrifflichkeit” als Grundlage für irgendetwas verwenden?

    Daß Umfragen im Allgemeinen keine verwertbaren und schon gar keiner zutreffenden Ergebnisse liefern, ist ja bekannt. Die große Mehrheit der deutschen Männer halten sich für demokratisch und sie wissen auch zu sagen, wie sich das äußert. Daß sie bei einer der Aktionen beobachtet werden, die sie als Äußerungen oder Manifestationen ihres demokratisch-Seins nennen, kommt praktisch nicht vor. In einer Umfrage sprachen sich 92% der Bürger der Niederlande dafür aus, daß die Dialekte erhalten werden müssen und darum gepflegt und gesprochen werden müssen. Genau derselbe Prozentsatz spricht niemals Dialekt. Ebenfalls aus der Sprachforschung wissen wir, daß Gewährspersonen Mitteleuropas in einer großen Zahl von Fällen auf Nachfragen den Sprachstand ihrer Schulzeit oder ihrer Eltern wiedergeben und einen eigenen der Jetztzeit nicht bewußt zu kennen scheinen, wiewohl sie ihn sprechen, wenn sie sich für unbeobachtet halten.

    Allein wegen der winzigen Beobachtungszeit, die allenthalben zu erkennen war, kann eine Aussage über mögliche Korrelationen von was auch immer real erhoben worden sein mag, miteinander nicht wirklich belegt werden. Die Wahrscheinlichkeit eines zufälligen Zusammentreffens ist etwa ebensogroß wie die des gegenteiligen Zusammentreffens irgendwann in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Letzteres weren wir glücklichwerweise in einigen Dutzend Generationen wohl wissen.

    Gedanken über “fitness” auf derart ungesicherten Grundlagen sind ohne Aussagewert, weshalb ich dazu weiter nicht Stellung beziehen mag.

  230. Ich finde das schon interessant.

    Angesichts der Zahlen aus den USA frage ich mich jedoch, woher Herr Blume diese “Überlegenheit der Religiösen-Ehe” liest?

    Meines Wissens nach ist die Scheidungsrate im “Bible Belt” genauso hoch und teilweise höher als in den eher “sekulären” Küstenregionen.

    Also eine “Boobquake”-Theorie.

  231. Pingback:Ob fowid den Religion-Demografie-Zusammenhang wirklich nicht versteht? Ein Blogbrief an Carsten Frerk » Natur des Glaubens » SciLogs - Wissenschaftsblogs

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